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US-Politologin
"Der Rassismus ist fest in den US-Institutionen verankert"

Die Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt nach dem Tod von George Floyd hätten in den USA neue politische Impulse freigesetzt, sagte Politologin Joyce Mushaben im Dlf. Doch damit sei wenig getan. Die Menschen müssten bereit sein, selbst in die Politik einzusteigen.

Joyce Mushaben im Gespräch mit Christiane Kaess | 10.06.2020
Protestierende halten Plakate mit der Aufschrift "Black Lives Matter" in die Höhe.
In Washington demonstrieren die Menschen weitgehend friedlich (Consolidated News Photos/Amanda Andrade-Rhoades)
Der Tod des 46-Jährigen US-Amerikaners George Floyd am 25. Mai in der Stadt Minneapolis hat Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus in den USA und vielen anderen Staaten ausgelöst. Nun wurde der US-Amerikaner auf einem Friedhof der Stadt Pearland im US-Bundesstaat Texas beigesetzt.
Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus nach dem Tod von Georg Floyd in Washington am 2. Juni 2020.
Kommentar: Gesellschaftlicher Mentalitätswandel erforderlich
Rassismus in den USA – das ist nicht nur Polizeigewalt, kommentiert Thilo Kößler. Es geht auch um einen unzureichenden Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem, zu Sozialleistungen.
Nach Ansicht der Politikwissenschaftlerin Joyce Mushaben haben die Ereignisse die Anti-Rassismus-Bewegung in den USA kurzzeitig machtvoller gemacht. Die US-Amerikanerin erwartet allerdings ein abklingen der Proteste. Die meisten Demonstranten, so Joyce Mushaben, hätten den Bürgerrechtler Martin Luther King nie als real existierenden Menschen erlebt, "sondern praktisch nur aus einem Klischee". Bei der nächsten Präsidentschaftswahl am 3. November 2020 werde sich erst abzeichnen, ob ein "neues Kapitel" in den USA aufgeschlagen worden sei, so Mushaben.
"20 Jahre zurückversetzt"
Mit Blick auf die Präsidentschaftswahl im November sagte Mushaben, dass das Land komplett reformiert werden müsse, weil Präsident Donald Trump sehr viel in kurzer Zeit zurückgedreht hätte, was sein Amtsvorgänger Barack Obama in der Rassismusdebatte erreicht habe. "Ich würde sagen, dass wir jetzt 20 Jahre zurückversetzt worden sind - vor allem, wenn ich mir das Supreme Court anschaue", sagte Mushaben im Dlf.
Joyce Mushaben war Professorin an der Universität von Missouri, arbeitet jetzt unter anderem für das Zentrum für deutsche und europäische Studien an der Georgetown Universität. Sie hat viel geforscht zu Integration, Migration und sozialen Bewegungen in den USA.
Dossier: Rassismus
Dossier: Rassismus (picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel)
Das Interview mit Joyce Mushaben in voller Länge.
Christiane Kaess: Was haben Sie gedacht hat, als Sie die Bilder gesehen haben mit den vielen Menschen, die vor George Floyds goldenem Sarg Schlange standen, um sich zu verabschieden?
Joyce Mushaben: Es hätte George Floyd sicherlich sehr überrascht zu sehen, was sein Tod hervorgerufen hat. Er war zweifelsohne ein normaler Mensch, anscheinend sehr geliebt von seiner Familie, Verwandten und Freunden, und er wollte bestimmt ein glückliches, gleichberechtigtes Leben führen. Aber seine Hautfarbe hat dennoch dazu beigetragen, dass ihm dieser amerikanische Traum untersagt wurde.
Als erstes, was mir aufgefallen ist, vor allem heute, dass die Kirche überwiegend mit schwarzen Trauernden besetzt worden ist. Es gab auch viele ältere Menschen, das heißt Leute, die vielleicht einen persönlichen Bezug zur Bürgerrechtsbewegung der 50er- und 60er-Jahre gehabt haben. Das Kirchenbild stand aber im starken Kontrast zu den Fotos, die wir im Laufe der Straßenproteste gesehen haben. Die überwiegende Mehrheit, die sich dort versammelt haben, die stammten aus einer ganz anderen Generation. Besonders zu begrüßen ist natürlich die Tatsache, dass die Zusammensetzung der Demos auch sehr bunt gemischt war, Schwarze, Braune, Weiße, Latinos asiatischer Abstammung. Die Mitglieder dieser Generation haben von Kindesbeinen auf gelernt, mit Difference zu leben. Insofern ist es für sie eher eine Selbstverständlichkeit, dass alle Gruppen, die sich daran beteiligt haben, sich gegenseitig zuhören und füreinander da sein müssen. Das heißt, im Laufe dieser Trauerfeier haben wir auch ein bisschen mit Trennungsfragen zu tun gehabt.
"Wirkliche Folgen werden wir erst am 3. November feststellen"
Kaess: Und wenn Sie diese Proteste ansprechen, hat der Tod von George Floyd die Anti-Rassismus-Bewegung in den USA machtvoller gemacht? Hat er ihr neue Macht verliehen?
Mushaben: In der Tat. Ich meine, wir müssen natürlich bedenken, dass Martin Luther King Junior – schwer zu glauben – schon vor 52 Jahren umgebracht worden ist. Die meisten, die während der letzten zwei Wochen auf die Straße gegangen sind, die haben diesen King nie als einen real existierenden Menschen erlebt, sondern praktisch nur als ein Klischee, den alle wie einen Black History Man irgendwie loben müssen. Sogar das schwer erkämpfte Wahlberechtigungsgesetz, der Voting Rights Act von 1965, liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Ob wir es wirklich mit einem neuen Kapitel zu tun haben, werden wir natürlich erst am 3. November feststellen können.
Kaess: Bei den Wahlen meinen Sie.
Mushaben: Jawohl. – Die Demonstrationen haben neue politische Impulse freigesetzt, aber ich bin alt genug zu denken, damit ist wenig getan. Nur wenn sie alle dran bleiben und sich vor Ort organisieren, nur wenn sie selber bereit sind, in die Politik einzusteigen, werden wir vielleicht tatsächlich ein neues Kapitel mit einem Happy Ending haben.
Polizeikräfte bei der der Festnahme von Demonstranten in Minneapolis, Minnesota, USA. Nach der Tötung des Afroamerikaners George Floyd am 25- Mai 2020 hatte es im ganzen Land Proteste gegeben.
Demonstranten haben "die Nase voll von dieser Polizeigewalt"
Schon viel zu lange gebe es für Afroamerikaner keine Gerechtigkeit in den USA – das sei das Gefühl, das viele Demonstrierende aktuell auf die Straße bringe, sagte Kenton E. Barnes von den Democrats Abroad Germany im Dlf.
Occupy-Bewegung - "Einfach so in der Luft verschwunden"
Kaess: Das wäre jetzt die Frage, denn George Floyd ist jetzt beigesetzt. Die Trauerfeiern sind vorbei. Werden damit auch die Proteste abklingen?
Mushaben: Ich glaube, schon. Erstens kann man diese Leidenschaft nur so lange am Leben halten, und irgendwann mal fängt es an, auch sehr heiß zu werden mitten auf der Straße, und ich denke, dann müssen die Leute sich wirklich ein bisschen zurückziehen und sich überlegen, wie sie sich denn auf der Basisebene organisieren können. Wir hatten schon ein Beispiel mit dieser Occupy-Bewegung. Da waren sie alle laut, glücklich und zufrieden miteinander und dann ist das einfach so in der Luft verschwunden. Hier gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, vor allem im Hinblick auf die Wahlen, die im November stattfinden werden. Da könnten sie hier punkten, da könnten sie Programme ausarbeiten, da könnten sie Druck auf die eigenen Abgeordneten ausüben.
Kaess: Wie ist das denn in den USA wahrgenommen, dass es diese Proteste jetzt weltweit gab?
Mushaben: Das weiß ich nicht. Manche von uns haben beruflich damit zu tun. Aber ich glaube, dass die meisten Leute in meinem Land genug zu tun haben, das Land selber hier zu reformieren. Vor allem die Leute, die zwei oder drei Jobs nachgehen müssen, um einfach über die Runden zu kommen, haben keine Zeit für ausländische Medienberichte. Ich kann nur hoffen, dass unsere Proteste als ein Weckruf für die Bürger*innen und Politiker*innen in anderen Ländern dienen können, denn Rassismus kennt keine nationalen Grenzen. Die Diskussion habe ich schon ein bisschen in Deutschland mit angehört.
"Erstaunlich, wieviel Trump hat zurückdrehen können"
Kaess: Sie haben auch gerade diese lange Geschichte des Rassismus in den USA geschildert. Warum ist Rassismus heute immer noch Thema und warum haben auch die Jahre mit Barack Obama als Präsident daran nichts geändert?
Mushaben: Erstens: Dieser Rassismus ist natürlich jetzt fest in Institutionen verankert. Wir haben diese Jim Crow Laws. Die meisten Leute reden gerne über Sklaverei, aber ich glaube, die Jim Crow Laws, vor allem die Gesetze, die in den 20er-, 30er- und auch 40er-Jahren beschlossen worden sind, haben dazu beigetragen, dass wir diese geteilten Nachbarschaften haben – Nachbarschaften, die zwar separat, aber nicht equal gewesen sind. Nur wenn wir über die Schulfinanzierung reden. Alle Schulen werden von den Grundsteuern finanziert, und das heißt, wenn Du in eine schlechte Nachbarschaft hineingeboren bist, dann besuchst Du schlechte Schulen, hast dann weniger Arbeitsmöglichkeiten und kommst aus diesem Kaff nie raus.
Außerdem haben wir das Problem: Wir dachten schon, dass während der Obama-Zeit vieles vorangekommen ist. Leute wie ich sind zufrieden, aber es ist wirklich erstaunlich, wieviel Trump innerhalb kürzester Zeit hat zurückdrehen können, zurückdrehen wollen von vornherein. Das hat er seinen Unterstützer*innen und Wählerinnen und Wählern auch versprochen. Zum Beispiel die Sachen, die er alle per Verordnung gemacht hat und nicht per Gesetz. Der versteht nicht mal Gewaltenteilung in unserem System. Und ich würde sagen, dass wir jetzt 20 Jahre zurückversetzt worden sind – vor allem, wenn ich mir den Supreme Court anschaue.
"Trump - Teilen, Herrschen und Selbstprofilierung"
Kaess: Bleiben wir kurz noch auf der politischen Ebene, die Sie gerade schon angesprochen haben. Joe Biden, der demokratische Herausforderer von Donald Trump, hat die Familie von George Floyd getroffen und er hat auch eine Videobotschaft zu der Trauerfeier gestern geschickt. Donald Trump hat dagegen Polizisten ins Weiße Haus eingeladen. Welches Zeichen setzen die beiden denn damit für den kommenden Wahlkampf?
Mushaben: Ich glaube, wir haben heute nichts Neues über die beiden gelernt. Trump glaubt eigentlich nur an Teilen, Herrschen und Selbstprofilierung. Der hat null Interesse an gesellschaftlichen Veränderungen im fortschrittlichen Sinne. Biden ist endlich mal aus seinem Cocon rausgekommen. Aber das, was er anzubieten hatte, das war mir auch ein bisschen blass, ein bisschen menschlich gedacht, aber ich habe diesen Moment vermisst, den wir alle bei Obama in South Carolina miterlebt haben, wo man wirklich das Gefühl hatte, Obama hatte sich mit einer Gruppe, mit den Leuten da durchaus identifiziert. Bei Joe Biden wirkte das ein bisschen aufgelegt.
Kaess: Aber wäre es nicht auch bei Joe Biden eigentlich seine Aufgabe, wie für Politiker im Allgemeinen, zu vereinen und da jetzt nicht noch mal eine neue Polarisierung zu setzen? Wäre es auch Joe Bidens Aufgabe gewesen, sich beiden Seiten gleichzeitig zuzuwenden, sowohl der Anti-Rassismus-Bewegung als auch Polizisten, die sich zum Teil vielleicht jetzt auch zu Unrecht in Verantwortung genommen sehen für eine brutale Tat eines Kollegen, für die andere nichts können?
Mushaben: Ich glaube, es ist ein bisschen viel, wenn wir das alles von einem Mann erwarten, denn vor allem die Polizei, die muss von unten reformiert werden. Die Regelungen und die Gesetze, die unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland, von Bezirk zu Bezirk, von Stadt zu Stadt. Man hat in Boston, in Houston, in Dallas ganz andere Erfahrungen gemacht in den letzten zwei Wochen zum Beispiel. Es gibt zwar bestimmte Sachen, die sich von oben herab neu organisieren können. Vor allem würde ich vorschlagen, diese National Deffence Act abzuschaffen, wobei nicht nur die Polizei, sondern auch Schulen und Universitäten übrig gebliebene Waffen vom Pentagon zu verbilligten Preisen kaufen können. Obama hat versucht, da die Bremse zu ziehen, und Trump hat das alles wieder rückgängig gemacht. Aber im Grunde genommen hängt es davon ab, wen Biden, wenn er gewinnt, alles mit ins Weiße Haus mitbringt. Wir haben einen Generationswechsel dringend nötig – nicht nur im Weißen Haus, sondern auch im Kongress. Die Leute müssen dann die Arbeiten, die sehr groß sind, aufteilen, damit die Expertise da ankommt, wo sie am dringendsten gebraucht wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.