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USA
Amerikas Anwalt für die "einfachen Leute"

Trotz seiner Niederlage bei den Vorwahlen für das amerikanische Präsidentschaftsamt will Bernie Sanders weiter Politik für die "einfachen Leute" Amerikas machen. Seine Sicht auf die Missstände in den USA und seine Lösungsvorschläge für eine gerechtere Gesellschaft hat Sanders in "Unsere Revolution" aufgezeichnet.

Von Anne-Kathrin Weber |
    Der US-Politiker und ehemalige Präsidentschaftsbewerber Bernie Sanders spricht am 31.05.2017 in Berlin im Ullstein-Verlag mit einem Journalisten der Deutschen Presse-Agentur dpa. Foto: Kay Nietfeld/dpa | Verwendung weltweit
    Buchvorstellung "Unsere Revolution" von und mit Bernie Sanders am 31.05.2017 in Berlin (dpa/Kay Nietfeld)
    Die Armen, die Schwachen, diejenigen, die mit zwei oder drei Jobs kaum über die Runde kommen - Bernie Sanders nennt sie die "einfache Leute" Amerikas. Auch wenn Sanders im vergangenen Jahr den Vorwahlkampf der Demokraten um das Präsidentenamt gegen Hillary Clinton verlor - der parteilose Senator aus dem US-Bundesstaat Vermont will weiter für diese Zielgruppe und mit ihnen Politik machen. Das betonte er Ende Mai bei einem Besuch in Berlin: "Was wir als allererstes tun müssen, ist, gewöhnlichen Leuten zu vermitteln, dass Politik für sie wichtig ist. Dass wir zulassen, dass diese Menschen verstehen können, dass die Entscheidungen, die in Washington und in den jeweiligen Bundesstaaten gefällt werden, einen großen Einfluss haben auf ihr Leben. Viele Menschen wissen das nicht."
    Missstände der amerikanischen Gesellschaft
    In Berlin stellte Sanders sein Buch mit dem Titel "Unsere Revolution" vor. Es ist die gerade erschienene Übersetzung seiner Wahlkampfschrift aus dem vergangenen Jahr. Darin listet Sanders die aus seiner Sicht großen Probleme von sozialer Ungerechtigkeit in den USA auf: viel zu geringer Mindestlohn, mangelnde Gesundheitsversorgung, der Niedergang der Mittelschicht, Rassismus, zu wenige Investitionen in die Infrastruktur. Darüber hinaus prangert er an, dass Menschen an der Ausübung des Wahlrechts gehindert werden und dass bei der amerikanischen Wahlkampffinanzierung einiges im Argen liegt.
    An all dem seien zuvorderst die reichen Wenigen, die, Zitat, "Oligarchen" schuld, die sich mithilfe von Geld und Lobby-Organisationen politisch und wirtschaftlich immer massiver auf Kosten der "einfachen Menschen" bereicherten. Immer wieder stellt Sanders diese beiden Pole mit einem geradezu klassisch dualistischen - man könnte auch sagen: einem klassisch populistischen - Narrativ gegenüber: die "einfachen Menschen", die Ohnmächtigen, versus die Mächtigen, das - Zitat - "Establishment":
    "Sie geben sich nicht damit zufrieden, einen Großteil unserer Wirtschaft zu kontrollieren und einen absurd hohen Prozentsatz unseres Volksvermögens zu besitzen. Nein, sie wollen nun auch unsere Regierung besitzen. Sie wollen es einfachen Amerikanern und Amerikanerinnen praktisch unmöglich machen, die für eine Verbesserung ihres Lebens notwendigen Veränderungen herbeizuführen. Unglücklicherweise haben sie damit Erfolg. Unsere Demokratie - die Fähigkeit einfacher Menschen, ihre Zukunft selbst zu gestalten - wird von Tag zu Tag schwächer."
    Pathos und konkrete politische Forderungen
    Um diesem Trend entgegenzuwirken, setzte Sanders' Bewegung im Vorwahlkampf auf eine große Vision: "Es ging darum Amerika zu verändern. Es ging darum, dass echter Wandel nie von oben nach unten stattfindet. Er findet immer von unten nach oben statt. Er findet statt, wenn Millionen einfache Leute bereit sind, aufzustehen und für Gerechtigkeit zu kämpfen."
    Sanders hat konkrete politische Ideen für die Umsetzung dieser Vision zu bieten, beispielsweise einen dynamischen Mindestlohn von anfänglich 15 Dollar pro Stunde, eine Einheitskrankenkasse sowie die Abschaffung privatisierter Gefängnisse. Sanders, der in den USA als "Sozialist" gehandelt wird, insistiert in seinem Buch, dass auch das Wirtschaftswachstum gesteigert werden müsse, am sinnvollsten im Bereich der Erneuerbaren Energien. Damit könnten mehr Arbeitsplätze und Vollzeitbeschäftigung für Geringverdiener geschaffen und deren Kaufkraft erhöht werden.
    Auch wenn Sanders' politische Agenda derjenigen Donald Trumps in vielen Aspekten diametral entgegensteht - beispielsweise was den Klimaschutz angeht oder die Regulierung von Banken - zumindest in puncto Arbeitsmarktrhetorik klingen Sanders' Sätze ähnlich wie die des amtierenden US-Präsidenten: "Wir müssen die Unternehmen mit allen Mitteln daran hindern, amerikanische Jobs ins Ausland zu verlagern. Die Realität ist, dass die sogenannte Freihandelspolitik der letzten 35 Jahre amerikanischen Arbeitnehmern unaufhörlich geschadet hat."
    Keine Aktualisierung nach Trumps Amtsantritt
    Krude wirken daneben einige Aussagen, in denen der Autor die Zitat, "demokratische, zivilisierte" amerikanische Gesellschaft mit anderen Ländern vergleicht - was die Todesstrafe betrifft, aber auch den Zugang zum Internet: "Wie kann es sein, dass Unternehmen, Schulen und Familien im rumänischen Bukarest weitaus schnellere und kostengünstigere Internetzugänge haben als der Großteil der Vereinigten Staaten?"
    Irritierend ist in gewisser Weise auch die gesamte Lektüre. Die Welt hat sich in der kurzen Zeit seit dem Amtsantritt Donald Trumps bereits rasant verändert. Da Aktualisierungen fehlen, wirkt das Buch direkt nach seinem Erscheinen auf dem deutschen Markt schon überholt. Dazu trägt auch der kurze Biografie-Teil von Sanders bei. In seiner spezifischen Komposition liest sich dieser erste Buchabschnitt bedauerlicherweise wie eine rein instrumentelle Erzählung. Ein Beispiel: Einmal verlor der junge Sanders zwar die Wahl zum Schulsprecher, aber dessen Kontrahent setzte Sanders' wichtige Idee letztlich trotzdem um - eine nicht gerade subtile Parabel auf die spätere Kontrahentin Hillary Clinton.
    Die "Revolution" soll weitergehen
    Trotzdem: Nicht nur als historisches Dokument hat das Buch viel zu bieten - es ist auch ein ausführlicher und angemessen zorniger Überblick über die Missstände, mit denen viele Amerikaner auch nach der Wahl Donald Trumps weiterhin oder seitdem noch verstärkt zu kämpfen haben. Zudem illustriert das Buch anschaulich und gebündelt, dass viele von Sanders' Forderungen zwar für den amerikanischen Kontext, nicht aber nach europäischen Maßstäben "radikal" waren und sind - zu nennen seien hier beispielsweise mindestens drei Monate bezahlte Eltern- oder Pflegezeit oder zwei Wochen bezahlter Urlaub für alle Arbeitnehmer. Umso deutlicher wird, dass die "Revolution", die Sanders einfordert, nicht mehr und nicht weniger ist als die Forderung nach einem würdigen und auskömmlichen Leben für alle Amerikaner - das durch Donald Trump stärker gefährdet sei als zuvor, wie Sanders in Berlin sagte:
    "Ich bin sehr besorgt über Donald Trumps mangelnden Respekt gegenüber der Demokratie, gegenüber Toleranz und den traditionellen amerikanischen Werten." Geht es nach Sanders, geht es aber auch nach vielen Linken in den USA, soll und muss die Sanders'sche "Revolution" weitergehen - und zwar jetzt erst recht.
    Bernie Sanders: "Unsere Revolution. Wir brauchen eine gerechte Gesellschaft"
    Ullstein Verlag, 464 Seiten, 24,00 Euro.