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USA
Fast 1.000 Menschen starben durch Schüsse der Polizei

In Chicago haben Polizisten zwei Afroamerikaner erschossen - einen psychisch instabilen Studenten, der randalierte, sowie eine unbeteiligte Nachbarin. Der Fall befeuert die Debatte über Polizeigewalt in den USA - auch eine Recherche der "Washington Post" wirft viele Fragen über das Verhalten von Sicherheitskräften auf.

Von Thilo Kößler | 28.12.2015
    Protest nach Tötung zweier Schwarzer durch Polizisten in Chicago.
    Protest nach Tötung zweier Schwarzer durch Polizisten in Chicago. (picture alliance / EPA / Tannen Maury)
    So könnte es im Polizeiprotokoll stehen: Ein Vater ruft die Polizei zu Hilfe, weil sein Sohn, der unter psychischen Problemen leidet, randaliert - der Vater schließt sich ein und warnt noch eine Nachbarin, die Wohnung nicht zu verlassen, weil sein Sohn "ein wenig zornig" sei, wie er sagt. Wenig später gibt der Polizeifunk wieder, wie die Situation im Handumdrehen eskaliert: Es sei zweimal geschossen worden, meldet ein Polizist. Wenig später: Zwei Menschen sind niedergestreckt worden.
    Der Einsatz fordert zwei Todesopfer: den 19-jährigen Sohn des verängstigten Vaters, einen Studenten, der von sieben Kugeln getroffen wird. Und die Nachbarin, eine 55 Jahre alte, die offenbar doch ihre Wohnung verlassen hatte. Beide Afroamerikaner. Auch dieser Fall hat wieder das Zeug zum Politikum: Die Polizei von Chicago ist schwer unter Druck geraten, seit Videoaufnahmen - von Körperkameras oder Smartphones aufgenommen - zum Beweismittel gegen brutale Polizeigewalt wurden.
    Zuletzt zeigte ein Video, wie ein weißer Polizist wie entfesselt sechzehn mal auf einen schwarzen Teenager feuert, obwohl er schon schwer verwundet auf dem Boden liegt. Das US-Justizministerium nahm Ermittlungen auf, der Polizeichef der Millionenstadt wurde entlassen.
    965 Todesopfer durch Polizeigewalt
    Die "Washington Post" veröffentlichte jetzt Zahlen, die man eigentlich von einer offiziellen Behörde erwartet hätte - sie sind das Ergebnis einer Langzeitrecherche, die das Blatt seit dem ganz offensichtlich rassistisch motivierten Tod des jungen Afroamerikaners Michael Brown in Ferguson begonnen hatte. Dieser Fall war im August 2014 Auslöser von Unruhen, die die Stadt im Bundesstaat Missouri tagelang in Atem gehalten und dann auf andere Städte übergegriffen hatten.
    Die "Washington Post" berichtet jetzt von 965 Toten durch Polizeikugeln in den Vereinigten Staaten in diesem Jahr und kommt zu diesem Ergebnis: In nur vier Prozent der Fälle habe es sich tatsächlich um so skandalöse Fälle wie in Ferguson gehandelt. Meistens seien die Opfer tatsächlich bewaffnet gewesen, sie seien geflohen oder psychisch labil oder krank gewesen - wie ganz offensichtlich jetzt auch in dem jüngsten Fall in Chicago.
    Das wirft die Frage auf, inwieweit die Polizisten in den Vereinigten Staaten geschult werden, um mit Menschen in Krisensituationen umzugehen. Wiederum war es die "Washington Post", die unlängst die Defizite in der Polizeiausbildung benannte und zu dem Ergebnis kam, dass in vielen Fällen die konfrontative Haltung der Polizisten erst zu einer Eskalation mit tödlichen Folgen beigetragen hätte.