Dienstag, 23. April 2024

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USA steigen aus INF-Vertrag aus
"Wir müssen eine Aufrüstungssituation verhindern"

Als beunruhigende Entwicklung bezeichnete der SPD-Politiker Arne Lietz die Aufkündigung des INF-Vertrages im Dlf. Nun müsse erst einmal die Diplomatie zum Zuge kommen: Abrüstungspolitik und Rüstungskontrolle müssten auf das internationale Tableau gehoben werden.

Arne Lietz im Gespräch mit Martin Zagatta | 01.02.2019
    Der Marschflugkörper 9M729 wird in einer Halle präsentiert.
    Russland hat einen neuen Marschflugkörper vorgestellt (picture alliance / Vasily Maximov)
    Martin Zagatta: Am Nachmittag soll es soweit sein, dann wollen die USA ganz offiziell den Ausstieg aus dem INF-Vertrag verkünden, und, so heißt es, die NATO habe man gestern auch schon informiert.
    Arne Lietz, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD im Europaparlament. Guten Tag, Herr Lietz!
    Arne Lietz: Schönen guten Tag!
    Zagatta: Herr Lietz, der INF-Vertrag steht vor dem Aus. Wie sehr beunruhigt Sie diese Entwicklung?
    Lietz: Diese Entwicklung ist sehr beunruhigend. Dieser Vertrag hat Europa letztendlich über 30 Jahre sicherer gemacht. Er war und ist ein wichtiger Baustein der europäischen Sicherheitskultur, und deswegen haben wir natürlich als Europa großes Interesse daran, dass es jetzt daran bleibt, dass wir den INF erhalten können beziehungsweise weiterentwickeln müssen. Sie sind auf einige Punkte schon eingegangen.
    Zagatta: Russland hat den Vertrag gebrochen, hat auch der deutsche Außenminister Maas – das haben wir eben gehört gerade – betont. Ist das so eindeutig?
    China, Indien, Pakistan, Iran: "ganz neue Player"
    Lietz: Das scheint sehr eindeutig zu sein, und es reicht auch nicht, sich lediglich eine Rakete anschauen zu können, sondern man muss über die Daten, die Hintergründe Bescheid wissen. Das heißt, hier brauchen wir maximale Transparenz, und es ist sehr zu begrüßen, dass Herr Maas genau diese Initiative, die wir jetzt brauchen, die Diplomatie, die weitergehen muss, das hat Heiko Maas als sozialdemokratischer Außenminister begonnen. Er war in Moskau und war in Amerika, um hier einfach Transparenz in beide Seiten zu fordern, auch zu fordern dann, wenn beider Seite noch Interesse besteht, überhaupt zu diskutieren, das zu nutzen. Wir werden abwarten müssen, ob es heute zu einer Aufkündigung und Suspendierung kommt oder nur die Aufkündigung, sodass die Suspensionsfrist von sechs Monaten tatsächlich noch mal Raum gibt zum Verhandeln. Die von Ihnen angebrachten Punkte sind absolut relevant. Wir haben ganz neue Player als noch in den 70er-, 80er-Jahren, hier in der Situation China, Indien, Pakistan, Iran wurden genannt. Letztendlich geht es genau darum, und ich finde es sehr gut, dass Heiko Maas angekündigt hat in Moskau, dass es eine Konferenz geben muss. Wir müssen das Thema Abrüstungspolitik, Rüstungskontrollarchitektur tatsächlich aufs internationale Tableau heben. Das betrifft auch autonome Waffen, Cyberwaffen, aber auch die seegestützten Mittelstreckenraketensituation, die ja jetzt letztendlich auch schon im Syrienkrieg hier zum Zug gekommen sind.
    Zagatta: Aber jetzt geht es erst einmal ganz konkret um diese Mittelstreckenraketen. Da sagen Sie, man setzt weiter auf das Prinzip Hoffnung, dass die Russen oder die Amerikaner … Also die Russen müssten ja denn jetzt einlenken. Rüstungsexperten sagen, das ist illusorisch. Sind Sie da ein bisschen realitätsfern?
    Lietz: Die Realitätsferne, die sehen wir letztendlich überhaupt nicht. Es ist ganz klar, ganz grundsätzlich wollen wir Sozialdemokraten ein von Atomwaffen freies Europa weiter verwirklichen, und was auch eindeutig ist, die Sicherheit Europas wird nicht vergrößert, wenn nukleare Mittelstreckenraketen aufgestellt werden, jetzt die Aufrüstung letztendlich auf der europäischen Seite hier innerhalb der EU beispielsweise schon diskutiert wird. Was wichtig ist, ist tatsächlich, an beide Seiten weiterhin zu appellieren, dass die Russen ihrerseits einen Zugang geben.
    "Einen europäischen Konsens finden"
    Zagatta: Aber kommt man daran vorbei in letzter Konsequenz dann zu reagieren und selbst wieder nukleare Mittelstreckenwaffen zu stationieren? Die Polen fordern das ja zum Teil schon. Ist das nicht die letzte Konsequenz?
    Lietz: Ich bin dafür als Außenpolitiker, auch aufgewachsen in dieser Zeit des Kalten Krieges, mit der Friedensbewegung aus der DDR heraus, jetzt nicht die Flinte ins Korn zu werfen beziehungsweise neu aufzustellen, sondern tatsächlich erst mal Diplomatie zum Zuge kommen zu lassen. Federica Mogherini hat klargemacht, unsere hohe Beauftragte, dass Europa diesen INF-Vertrag weiter braucht, dass wir ihn weiterentwickeln müssen. Genau das ist die Tendenz, die wir auch im Europaparlament besprechen wollen. Udo Bullmann, unser Spitzenkandidat für die Sozialdemokraten, fordert in der nächsten Sitzung, das zu thematisieren. Europa muss jetzt tatsächlich überhaupt erst mal diplomatisch hier mit einer Stimme sprechen. Sie sprachen gerade Polen an. Das alleine ist ein großer Kraftakt innerhalb der Europäischen Union, um dann auf beide Seiten zuzugehen.
    Zagatta: Das scheint ja, Herr Lietz, nicht zu gelingen. Was ist denn dran an Meldungen, dass man in der EU und auch bei der NATO verärgert ist über die deutsche Haltung, die da lautet, man sagt zwar, Russland ist schuld, aber wir reagieren nicht, wir hoffen immer noch auf Gespräche und auf die nächsten Jahre. Das ist doch auch Ihre Haltung, wenn ich das recht verstanden habe.
    Lietz: Meine Haltung ist, dass nicht verstreichen zu lassen. Es war auf das Drängen der deutschen Regierung, auch durch Heiko Maas, dass wir überhaupt diese 60-Tage-Frist hatten. Jetzt heißt es …
    Zagatta: Die aber auch wieder verstrichen sind.
    Lietz: Ja, aber trotzdem gilt es weiter, jetzt diplomatisch zu agieren. Das heißt für uns in der Tat, einen europäischen Konsens zu finden, die hier unterwegs sein wollen. Es ist nicht nur Deutschland. Auch die Benelux-Staaten sind da ganz unserer Meinung, und nichtsdestotrotz haben wir, wenn es zu keiner Suspendierung kommt, noch diese sechs Monate Verhandlungsraum, den wir nutzen müssen, und wir müssen weitergehen. Also wir unterstützen durchaus genau die Forderung, dass auch andere Länder einbezogen werden müssen, aber auch andere Themen, die …
    Zagatta: Ja, aber da sagt China zum Beispiel klipp und klar nein, ??? ausweiten wollen diese Diskussion. In letzter Konsequenz, wenn Russland da nicht einlenkt, was passiert dann? Kann man dann die Neustationierung solcher Nuklearwaffen ausschließen? Schließen Sie das aus?
    Lietz: Ich werde alles dransetzen in meiner politischen Tätigkeit, dass es nicht dazu kommt.
    "Deutschland muss das mitmoderieren"
    Zagatta: Das heißt, Sie schließen es nicht aus.
    Lietz: Ich forciere es auf keiner Weise. Auszuschließen ist auch im Kalten Krieg nichts gewesen, aber letztendlich gab es die Aktivitäten von beiden Seiten, nämlich das Einlenken und die Erkenntnis, dass wir weitergehen müssen, und insofern ist das Tableau größer geworden. Wir sprechen nicht nur von zwei Staaten, sondern hier müssen in der Tat andere Staaten miteinbezogen werden, ansonsten haben wir durchaus die Herausforderung – auch gerade Iran ist mitgenannt worden in der Nähe zu Europa –, wir müssen eine Aufrüstungssituation verhindern, das heißt, das Thema Rüstungskontrollarchitektur maximal jetzt auf die Agenda setzen. Ich bin sehr froh, dass Deutschland eine sozusagen besondere Rolle jetzt ab diesem Jahr bei den Vereinten Nationen auch hat. Auch dort werden wir sicherlich alle Hebel in Bewegung setzen. Deutschland muss das mitmoderieren. Und noch mal, wir finden, dass wir das auch beispielsweise im Europaparlament dementsprechend noch gar nicht diskutiert haben. Wir brauchen auch bei den Außenministern, die ja heute und gestern gerade in Bukarest jetzt in der Tagung sind, tatsächlich auch hier einen gemeinsamen Entwurf, wie so was aussehen kann. Wir müssen darauf drängen von europäischer Ebene, weil Federica Mogherini berechtigt gesagt hat, dass die europäische Friedensarchitektur letztendlich auch darauf beruhte, dass nukleare Mittelstreckenraketen nicht aufgestellt wurden, und da sollten wir jetzt gemeinsam dran arbeiten und nicht gleich einlenken und eine neue Aufrüstungswelle dann letztendlich lostreten. Wenn wir die haben, dann ist es auch schwierig, einen weiteren Vertrag, der nämlich '20, '21 aufläuft, atomare Internuklearraketen… Interkontinentalraketen hier weiterhin zu begrenzen. Der New START-Deal gilt bis 2021. Wir müssen aus der Spirale raus.
    Zagatta: Aber Herr Lietz, wenn Sie sagen, eine gemeinsame Politik, mit einer Stimme sprechen, das zeigt sich doch jetzt schon in der Diskussion, dass das gar nicht möglich ist. Also wenn wir beispielsweise auf Polen blicken und andere Länder da im Osten, die größte Bedenken haben. Zeigt das jetzt schon wieder, die EU ist einmal mehr tief gespalten?
    Lietz: Die EU ist ja noch längst nicht am Ende der Diskussion. Wie gesagt, wir haben die Außenminister gestern in Bukarest gehabt. Es hätte gut zu Gesicht gestanden – das kann ich als Europaabgeordneter durchaus sagen –, dass das zum Kernthema mitgesetzt worden wäre. Es wird hinter den offiziellen Terminen kräftig auch dieses Thema aktuell diskutiert und abgeglichen auch der verschiedenen NATO- sozusagen europäischen Partner, die dort involviert sind. Wir müssen diese Diskussion weiterführen, und zwar zuspitzen in Europa, damit wir eine gemeinsame europäische Antwort finden. Ich bin sehr dankbar, dass der deutsche Außenminister letztendlich diese Pendeldiplomatie schon begonnen hat zwischen Moskau und Washington, hier immer wieder abzuklopfen, wo Transparenz bestätigt werden muss, wo wir weiterkommen müssen, dass beide Seiten offenbleiben für einen Diskurs – das ist jetzt handfeste diplomatische Arbeit –, bevor wir uns in eine neue Aufrüstungssituation begeben.
    Zagatta: Sagt Arne Lietz, der verteidigungspolitische Sprecher der SPD im Europaparlament. Herr Lietz, ich bedanke mich!
    Lietz: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.