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Venezuela
"Die Gefahr von Gewaltausbrüchen im großen Ausmaß ist ernst"

In Venezuela sind bei den Protesten gegen die Regierung drei Menschen getötet worden. Die Angst vor einem Bürgerkrieg wächst. Zu Recht, meint die Lateinamerika-Expertin Claudia Zilla. Die venezolanische Gesellschaft sei gewaltsam - und die Mehrheit der Menschen wolle einen Wandel, da sie sich in einer extremen Notlage befänden, sagte sie im DLF.

Claudia Zilla im Gespräch mit Sarah Zerback | 20.04.2017
    Ein maskierter Demonstrant läuft vom Tränengas weg während einer Protest in Caracas, Venezuela, bei der es am 19.04.2017 zu Auseinandersetzungen kam. Die Opposition fordert Neuwahlen und macht Präsident Nicolas Maduro für die schwere politische und ökonomische Krise in dem Land mit den größten Ölreserven verantwortlich.
    Demonstranten in Venezuela flüchten vor Tränengas (Manaure Quintero/dpa)
    Sarah Zerback: Die Massenproteste in Venezuela, auch gestern Abend, die nun schon seit drei Wochen andauern und immer wieder Tote fordern. Auch für heute sind neue Demonstrationen angekündigt, und die Sorge wächst, dass die Gewalt weiter eskalieren könnte. Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Claudia Zilla, Politikwissenschaftlerin mit Lateinamerika-Schwerpunkt bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Tag, Frau Zilla!
    Claudia Zilla: Guten Tag, Frau Zerback!
    Zerback: Nach allem, was wir da hören, spitzt sich die Situation in Venezuela zu, und man fragt sich, wo das enden soll. Droht ein Bürgerkrieg?
    Zilla: Die Frage und die Angst sind legitim. Mittlerweile lautet die Frage in Bezug auf Venezuela nicht mehr, ob sich das Land von einer Demokratie in eine Autokratie verwandelt, sondern in der Tat, wie lange der relative Friede gehalten werden kann. Die Gefahr von Gewaltausbrüchen im großen Ausmaß ist ernsthaft.
    "Waffenbesitz ist in Venezuela sehr verbreitet"
    Zerback: Wir haben es gerade in dem Beitrag gehört, schon wieder gibt es Tote bei den Protesten. Präsident Maduro hat angekündigt, ganz kämpferisch, bis zum Schluss um die Macht zu kämpfen. Wie weit ist er bereit zu gehen, um sich diese Macht zu erhalten?
    Zilla: Man konnte in den letzten Jahren beobachten, dass die Regierung auf Druck der Opposition mit mehr Repression reagiert hat. Das ist bisher die Strategie gewesen. Die Frage ist aber, wie geschlossen sich die chavistischen Reihen halten, inwiefern das Militär, die Polizei, die Colectivos bolivarianos bereit sein werden, einzugreifen, anzugreifen, falls Maduro so was anordnet.
    Zerback: Er hat ja angekündigt, die Mitglieder der nationalen Miliz auch mit Gewehren auszurüsten. Da ist von einer halben Million die Rede. Wie gefährlich kann das werden?
    Zilla: Das ist in der Tat sehr gefährlich. Darüber hinaus ist nicht nur das Regime militarisiert, sondern auch der Waffenbesitz ist in Venezuela sehr verbreitet, und das Land hat eine der höchsten Mordraten in der Region. Das heißt, es ist eine gewaltsame Gesellschaft, es gibt aber noch keinen Bürgerkrieg, und die Priorität sollte auch die sein, diesen zu verhindern.
    "Politische Mobilisierung ist dritte Strategie der Opposition"
    Zerback: Sie sprechen über den Rückhalt, den Maduro hat oder auch nicht hat, das ist eben die Frage, wie stark der ist. Was glauben Sie, kann er sich bis zu den Präsidentschaftswahlen 2019 im Amt halten? Wie viel Rückhalt hat er noch?
    Zilla: Das ist sehr schwierig einzuschätzen, abzuschätzen, denn es liegt in der Natur dieses politischen Regimes, dass alles sehr undurchsichtig ist. Und dass alle beteiligten Akteure auf der Seite der Regierung ein großes Interesse daran haben, die Brüche nicht so sichtbar werden zu lassen, zusammenzuhalten, weil die Machthaber viel zu verlieren hätten im Fall einer Niederlage.
    Zerback: Jetzt gehört es ja zur Strategie Maduros dazu, die Opposition auch zu schwächen. Was wir gehört haben, ist, dass gegen den Oppositionsführer, Enrique Capriles, ein Berufsverbot verhängt wurde. 15 Jahre darf er nicht mehr sein Amt ausüben. Was kann denn die Opposition unter diesen Umständen überhaupt noch ausrichten?
    Zilla: Unter diesen Umständen hat sich die Opposition offensichtlich für eine politische Mobilisierung entschieden, und das ist eine dritte Strategie, die die Opposition führt. Zunächst, vor einigen Jahren, war die Strategie gegen die Regierung der politische Boykott, indem die Opposition an Parlamentswahlen nicht teilgenommen hat und sich politisch zurückgezogen hat, um der Regierung die demokratische Legitimität abzusprechen. Die zweite Strategie, die dann später gefahren wurde, war, alle demokratischen Mittel zu benutzen, um die Regierung zu bekämpfen, um an die Macht zu kommen, das waren aktive Wahlkämpfe und dann das Zusammentragen von Unterschriften für ein Abberufungsreferendum. Seitdem aber die Regierung diesem Referendum nicht stattgegeben hat, den Prozess gestoppt hat und die Regionalwahlen suspendiert hat und das Parlament aberkannt wurde, in dem die Opposition die Mehrheit hat, hat sich nun die politische Elite der Opposition dafür entschieden, die Bevölkerung zu mobilisieren.
    "Im Moment gibt es eine Systemblockade"
    Zerback: Und sie genießt Unterstützung aus einer Protesthaltung heraus oder tatsächlich, weil die Bevölkerung der Meinung ist, dass das die bessere Alternative wäre?
    Zilla: Im Moment ist die Lage so polarisiert, dass politische Nuancen nicht auf der Agenda sind, sondern die Leute sind in einer extremen Notlage. Es gibt eine schlechte Versorgung mit Medikamenten und Nahrungsmitteln, und jetzt geht es darum, sozusagen Bewegung zu schaffen, einen Wechsel herbeizuführen. Die Opposition hat im Moment eine negative Agenda, und das heißt, dieses Regime zu bekämpfen, einen Machtwechsel zu ermöglichen. Im Grunde könnte man sagen, heutzutage will die Mehrheit der Bevölkerung in Venezuela einen Wandel. Ob das dann eine konkrete Unterstützung für die Opposition bedeutet, oder für welche Opposition, das ist noch eine offene Frage.
    Zerback: Wie schätzen Sie das denn ein, diesen Machtkampf zwischen Parlament und Regierung? Inwieweit wird der sich weiter entwickeln?
    Zilla: Im Moment gibt es eine Systemblockade. Das heißt, drei Institutionen sind gleichgeschaltet, die Exekutive zusammen mit der Judikative und der Wahlbehörde, und auf der anderen Seite ist das Parlament dominiert von der politischen Opposition. Aber das Parlament erkennt die demokratische Legitimität der Judikative und Exekutive nicht an, und umgekehrt ist das auch der Fall. Im Grunde haben wir eine Systemblockade.
    "Die Machthaber haben viel zu verlieren"
    Zerback: Trotzdem fordert die Opposition ja weiter, die Richter abzusetzen. Da sind viele weitere Forderungen dazugekommen, das haben wir mittlerweile mitbekommen. Es geht nicht mehr um den eigentlichen Auslöser der Proteste von vor drei Wochen. Wie wahrscheinlich ist denn Ihrer Meinung nach überhaupt noch eine politische Lösung dieses Konflikts?
    Zilla: Die Angst vor einem Bürgerkrieg soll groß genug sein auf beiden Seiten, sodass vielleicht Teile des Regimes sich dafür entscheiden, in den Dialog zu gehen und einen Ausweg zu finden. Aber das sollte dann ein verhandelter Ausweg sein wahrscheinlich, weil, wie gesagt, die Machthaber haben viel zu verlieren unter demokratischen Umständen, in einem demokratischen Kontext.
    Zerback: Und diese Staatskrise in Venezuela, inwieweit bedroht die die Stabilität auch der Region, des Kontinents?
    Zilla: Das sollte als ein regionales Problem angesehen werden. Nicht nur, weil Lateinamerika eine Demokratie verloren hat, sondern auch, weil sehr viele Flüchtlinge, sehr viele Venezolaner in Brasilien vor allem und in Kolumbien Arbeit suchen. Die ganzen Experten, das Fachwissen ist weg von Venezuela, in den USA, in anderen Ländern. Ein Gewaltausbruch hätte natürlich Konsequenzen für die benachbarten Länder.
    Zerback: Aber das bleibt abzuwarten. Das waren die Einschätzungen der Lateinamerikaexpertin der Stiftung Wissenschaft und Politik, Claudia Zilla. Besten Dank für das Gespräch hier bei uns im Deutschlandfunk!
    Zilla: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.