Freitag, 29. März 2024

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Venezuela
"Nie zuvor eine Krise dieser Dimension"

Eine anarchische Situation, bei der Gewalt ungeahndet bleibt, eine ausufernde Korruption. So beschrieb die venezolanische Soziologin Francine Jácome die Situation Venezuelas im Deutschlandfunk. Die Wurzel des Problems sei dabei das Wirtschaftsmodell selbst: der noch vom verstorbenen Chávez entwickelte Staatssozialismus.

Francine Jácome im Gespräch mit Peter B. Schumann | 01.03.2015
    Graffiti des ehemaligen Präsidenten Hugo Chavez in Caracas, Venezuela.
    Graffiti des ehemaligen Präsidenten Hugo Chavez in Caracas, Venezuela. (imago / Xinhua)
    Peter B. Schumann: Venezuela, im Norden Südamerikas, ist reich an Ölvorkommen und zurzeit arm an Mitteln des täglichen Bedarfs. Vor einem Jahrzehnt besaß die Hauptstadt Caracas ein vielfältiges florierendes Kulturleben. Es leidet seit Langem unter ideologischer Auszehrung und vor allem darunter, dass die Venezolaner bei Dunkelheit nur noch ungern das Haus verlassen - wegen der allgemeinen Unsicherheit. Die Inflationsrate ist die höchste, die Korruption die schlimmste in Lateinamerika. Kritisches Fernsehen existiert nicht mehr. Den beiden oppositionellen Tageszeitungen droht ständig der Papierentzug. Auch wird die Opposition zunehmend kriminalisiert. Venezuela erlebt die schwerste politische, ökonomische und soziale Krise in Zeiten der Demokratie. Die Regierung scheint unfähig, sie zu überwinden.
    Über die Ursachen habe ich vor einigen Wochen mit Francine Jácome gesprochen. Sie ist Professorin für Soziologie und leitet das regierungsunabhängige Venezolanische Institut für Sozialstudien. Steht Venezuela am Abgrund, Frau Jácome?
    Francine Jácome: Da kommen verschiedene Faktoren zusammen. Nehmen wir zum Beispiel die Arbeitslosigkeit. 50 Prozent der Venezolaner arbeiten in der Schattenwirtschaft, leben von Gelegenheitsarbeit, darunter sind sehr viele Jugendliche. Denn nach einer neuen Studie erreicht nur die Hälfte der Schüler die Sekundarstufe und zwar deshalb, weil es nicht genügend Gebäude gibt, in denen sie zur Schule gehen könnten.
    Schumann: Aber die Regierung Chávez hat doch viel im Bildungsbereich investiert.
    Jácome: Natürlich, es hat zahlreiche Missionen, also Sofortprogramme gegeben, aber keinen Schulbau. Was macht also ein Jugendlicher, der keine Schule findet? Er schließt sich den Banden in seinem Viertel an, denn sie bieten die einzige Alternative und sind der fruchtbare Boden für jegliche Form von Gewalt. Es geht hier um ein strukturelles Phänomen, das die Wurzel des Problems nicht beseitigt.
    Schumann: In einer Untersuchung haben Sie gezeigt, dass es außer den Konflikten der Jugendlichen mit der Gesellschaft auch zahlreiche Konflikte unter ihnen selbst gibt.
    Jácome: Diese Banden beginnen gegeneinander um den Einfluss in ihrem Viertel zu kämpfen und zwar mit Waffengewalt. Die Anzahl der Waffen im Besitz der Zivilbevölkerung ist hier in Venezuela extrem hoch, und darunter befinden sich viele Handfeuerwaffen großen Kalibers. Hinzu kommen die organisierte Kriminalität und die Drogenmafia, die sich in den letzten Jahren stark ausgebreitet haben. Venezuela ist zunehmend zu einem Transitland des Drogenschmuggels nach Europa, nach Asien und in die USA geworden.
    Schumann: Dafür war Venezuela bisher nicht bekannt. Hat da die staatliche Kontrolle versagt?
    Jácome: Das hat wohl eher mit der Zunahme der Korruption zu tun, vor allem auch unter dem Militär im Grenzbereich zu Kolumbien. Und sie hängt wiederum mit der Straflosigkeit und einer gewissen Anarchie in unserem Land zusammen. In den letzten Jahren wurden überall zahlreiche Landepisten für Kleinflugzeuge angelegt, die den Stoff in die Karibik und nach Mittelamerika schaffen. Auch wurden Transporte nach Afrika entdeckt als einer Zwischenstation auf dem Weg nach Europa. Selbst in einem Flugzeug der Air France wurden in Paris vor einigen Monaten große Mengen Drogen gefunden.
    Schumann: Gegen diese anarchische Situation aus Gewalt, Korruption und Misswirtschaft rebellierten vor einem Jahr zunächst die Studenten. Die Opposition schloss sich ihnen an und forderte den Rücktritt von Präsident Maduro. Die Demonstrationen weiteten sich bis in die größeren Städte aus. Radikale Kräfte auf beiden Seiten eskalierten die Situation. Es kam zu Exzessen der Gewalt. Dabei starben 43 Venezolaner. Wie kam es dazu, Frau Jácome?
    "Unverhältnismäßige" Repressionen der Regierung
    Jácome: Man muss zwei Dinge unterscheiden. Einerseits die Repression durch die Regierung. Sie hat völlig unverhältnismäßig reagiert und sogar das Militär mobilisiert, die Nationalgarde. Diese ist überhaupt nicht dafür ausgebildet, eine Demonstration aufzulösen, denn das ist wie überall Sache der Polizei. Und es hat sich dadurch erneut gezeigt, wie riskant es ist, Militär bei Sicherheitsfragen einzusetzen. Hinzu kommt etwas Neues, spezifisch Venezolanisches: die sogenannten bewaffneten Kollektive. Das sind paramilitärische Gruppen, die noch brutaler vorgehen, die die Drecksarbeit machen. Diese Methode erlaubt es zwar der Polizei, den Anschein einer Ordnungsmacht zu wahren, führt jedoch zu noch größerer Gewalt.
    Schumann: Es gibt einen weiteren Aspekt: den geradezu gewaltsamen Umgang der Regierung mit den kritischen Medien und mit der Opposition. Hat er sich in den beiden Jahren der Regierung Maduro verstärkt?
    Jácome: Ja, heute ist die politische Gewalt größer als je zuvor in diesem Land. Sie geht von der Regierung, von den Repressionsorganen, vom Militär und sogar von der Justiz aus. Willkürlich werden politische Führer verhaftet und auch gefoltert. Menschenrechtsgruppen haben mehr als 160 Anzeigen wegen Folterung dokumentiert. Einer der historischen Köpfe der Linken, der heute 92 Jahre alte Luis Michelena, der gegen die Diktaturen von Gómez und Pérez Jiménez gekämpft hat, anfangs dem Chavismus angehörte und sogar als intellektueller Vater von Chávez gilt - er hat in einem Interview gesagt, dass er in seinem ganzen Leben noch nie ein derartiges Ausmaß an Repression und Gewalt durch den Staat erlebt habe.
    Schumann: Sie zeigte sich besonders bei der Unterdrückung der landesweiten Proteste vor einem Jahr. Danach versuchten die verfeindeten Lager, den Konflikt durch Gespräche beizulegen. Er scheiterte. Aber ganz hoffnungslos scheint die Form des Dialogs nicht zu sein. Das zeigt ein Experiment, das Francine Jácome als Soziologin 2014 betreute. Es wurde später im Rahmen eines Seminars über "Demokratische Regierbarkeit und Zivilgesellschaft in Venezuela" vorgestellt. Verantwortlich waren drei regierungsunabhängige Institute für soziologische Forschungen und Menschenrechte. Die Europäischen Union hielt die Versuche für so wichtig, dass sie diese durch ihr Büro in Caracas unterstützte.
    Jácome: Ein halbes Jahr lang haben wir versucht, Jugendliche der Oppositionspartei Voluntad Popular und der Regierungspartei PSUV miteinander ins Gespräch zu bringen. Beide Gruppen teilten uns später mit, dass sie anfangs einander sehr feindlich gesinnt waren und nur durch die Vermittlung unserer beiden Mediatoren diese Haltung im Lauf der Zeit überwinden konnten. Sie wurden sich bewusst, dass sie - trotz aller Meinungsunterschiede und ideologischen Divergenzen - gemeinsame Probleme in der Gemeinde zu bewältigen hatten.
    Schumann: Das würde bedeuten, dass auch Regierung und Opposition einen Mediator benötigen, um ihre rhetorischen Grabenkämpfe einzustellen.
    Jácome: Natürlich, gerade in einer derart polarisierten Situation, in der sich Venezuela heute befindet, brauchen wir Mediatoren, die den Dialog erst mal in Gang bringen und dann auch in Gang halten. Leider führte der Dialog, der im letzten Jahr mithilfe eines Vertreters der UNASUR und des päpstlichen Nuntius stattfand, nicht zu dem erhofften Ergebnis. Und danach hat sich die Lage zusehends verschärft. Doch die Vermittlung von Mediatoren halte ich für zwingend erforderlich.
    Schumann: Wenn man mit Vertretern der Opposition spricht, dann zeigen sich diese durchaus gesprächsbereit. Und Vertreter der Regierung halten einen Dialog ebenfalls für erforderlich.
    Jácome: Er ist auch wegen der äußerst konfliktreichen Lage, die wir in der ersten Hälfte von 2014 mit Dutzenden von Toten und Gefolterten erlebt haben, so wichtig. Diese Erfahrung hat einem Großteil der Bevölkerung bewusst gemacht, dass solche Exzesse nicht mehr geschehen dürfen und dass, um dies zu vermeiden, erneut Wege des Dialogs und der Vermittlung gesucht werden müssen. Denn ich befürchte, dass sich die wirtschaftliche, soziale und politische Krise weiter zuspitzen wird und dann noch mehr Gewalt entstehen dürfte. Doch wir wissen auch, dass es sowohl aufseiten der Opposition wie der Regierung Kräfte gibt, die den Dialog rundweg ablehnen. Deshalb finde ich es so wichtig, dass wenigstens an der Basis, in den Gemeinden das Gespräch stattfindet, und dass die Zivilgesellschaft beide Seiten zum Dialog auffordert. Wir müssen einfach alles tun, um gewaltsame Konflikte zu verhindern.
    Schumann: Muss der Staat überhaupt zur Gewalt greifen, um seine Ziele durchzusetzen?
    Jácome: Er scheint davon überzeugt zu sein, dass er diese Form von Repression anwenden muss, um die wachsende Unzufriedenheit einzudämmen. Im Frühjahr 2014 waren die Studenten der sichtbare Kopf der Demonstrationen. Doch heute finden überall täglich Protestaktionen statt, an denen sich selbst Gewerkschaften beteiligen. Auch sie werden verfolgt genauso wie die sozialen Bewegungen, die Widerstand leisten. Dabei wäre es besser, wenn die Regierung mit ihnen spräche. Ich glaube, da wirkt sich sehr negativ der starke Einfluss des Militärs auf die Regierung aus.
    Schumann: Frau Jácome, Sie haben bereits das Problem der Korruption erwähnt. Auch die Regierung spricht oft davon, sogar von Korruption in der Polizei und im Militär. In den letzten Monaten wurden deshalb viele Leute verhaftet. Auch früher, vor dem Chavismus, gab es bereits viel Korruption. Und Hugo Chávez wurde ja 1998 zum Präsidenten gewählt, weil er versprach, sie zu bekämpfen. Doch inzwischen hat sie sich wie ein Krebsgeschwür in allen Bereichen und auf allen Ebenen ausgebreitet. Wieso?
    "Noch nie ein derartiges Ausmaß an Korruption" gehabt
    Jácome: Venezuela hat noch nie ein derartiges Ausmaß an Korruption erlebt. Die Regierung redet zwar ständig davon, bildet dauernd neue Kommissionen, hat jedoch immer noch nicht das richtige Instrumentarium für eine nachhaltige Bekämpfung entwickelt. Der Präsident erhielt sogar eine Sondervollmacht, um ein neues Antikorruptions-Gesetz in Kraft zu setzen, aber es ist so gut wie nichts geschehen.
    Schumann: Vielleicht profitieren zu viele davon, zum Beispiel die sogenannten bolivarianische Bourgeoisie, die Boli-Bourgeoisie, die der Chavismus hervorgebracht hat. Ist sie ein Produkt dieses Netzwerks der Korruption?
    Jácome: Die neue Wirtschaftselite ist zwar genauso wie die frühere aus Geschäften mit dem Staat hervorgegangen. Aber diese Bourgeoisie ist auch ein Produkt dieses Staates, denn sie hat ein geradezu parasitäres Verhältnis zu ihm. Normalerweise werden für Geschäfte mit der Regierung Provisionen bezahlt. Viele Unternehmen wurden jedoch mithilfe der Regierung ausschließlich zu dem Zweck gegründet, sich der eigenen Klientel zu versichern. Das ist ungemein vorteilhaft für sie, denn sie nützen bedenkenlos die staatlich kontrollierten Wechselkurse aus.
    Schumann: Dazu muss man wissen, dass Venezuela vier verschiedene Wechselkurse für den Dollar besitzt, mit einer unglaublichen Spannbreite von 1:6 bis 1:150 oder inzwischen sogar 170.
    Jácome: Die Unternehmer erhalten die Dollar zu einem sehr günstigen Wechselkurs und eigentlich dafür, Importe zu tätigen. Viele diese Firmen existieren jedoch nur auf dem Papier, sie sind Briefkastenfirmen, die vorgeben, Waren einzuführen, ihre Vorzugsdollar jedoch in Wirklichkeit auf dem Schwarzmarkt eintauschen und dabei einen zigfachen Gewinn machen. Denn durch den extrem niedrigen Ölpreis fehlt es inzwischen an Dollar. Deshalb müssen alle Händler und alle anderen, die keinen Zugang zum Vorzugsdollar besitzen und Devisen brauchen, sich auf dem Schwarzmarkt damit versorgen.
    Schumann: Ein gigantisches Geschäft. Kommen wir noch mal auf das Thema der Gewalt zurück, denn ich habe noch immer nicht ganz verstanden, wieso sie in Venezuela derart eskaliert ist. Dafür können doch nicht nur die Jugendlichen, die Kollektive und ähnliche Akteure verantwortlich sein. Gibt es noch andere Verursacher?
    Jácome: Ein weiterer wesentlicher Faktor ist die Straflosigkeit. Jemand, der heute ein Verbrechen begeht, kann fast sicher sein, dass er dafür nicht bestraft wird. Von 100 Kriminalfällen werden heute in Venezuela nur sechs oder sieben wirklich abgeurteilt. Der gesamte Justizapparat ist berüchtigt für seine hohen Grad an Unfähigkeit und Korruption. Ein weiteres Problem ist die fehlende staatliche Kontrolle über verschiedene Gebiete des Landes oder über ganze Stadtviertel. Es gibt also weite Bereiche, in denen Banden problemlos agieren können.
    Schumann: Ich habe bisher immer den Eindruck gehabt, dass hier totale Kontrolle herrscht: durch die Agenten des kubanischen Geheimdienstes, durch die verschiedenen venezolanischen Geheimdienste und durch ein weitgespanntes Netz an Schnüffeleien. Auch behauptet die Opposition, dies sei ein Überwachungsstaat.
    Jácome: Wir wissen, dass hier Elemente des kubanischen Sicherheitsapparats operieren und dass auch die venezolanischen Geheimdienste sehr um unseren Schutz besorgt sind. Doch sie scheinen sich vor allem auf die Führungskräfte der Opposition, der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen zu konzentrieren und beschäftigen sich überhaupt nicht mit kriminellen Straftaten. Wichtiger scheint mir auch das Problem der Korruption der Polizei und der Nationalgarde zu sein, die inzwischen alles andere als Kontrollorgane sind. Die Nationalgarde wird vor allem an den Grenzen eingesetzt, aber auch in Gefängnissen, in Bereichen, die sehr anfällig für Korruption sind. Einige ihrer Abteilungen sind längst Teil von Verbrecherorganisationen, die sich auf Entführungen spezialisiert haben.
    Schumann: Es soll ebenfalls sehr viel Korruption innerhalb des Militärs geben, obwohl es in der Regel sehr viel besser bezahlt wird als die Polizei.
    "Stark gewachsene Autonomie der Streitkräfte" Grund für Korruption
    Jácome: Das ist ein Phänomen des letzten Jahrzehnts und hängt mit der sehr stark gewachsenen Autonomie der Streitkräfte zusammen. Über sie gibt es heute praktisch keine zivile Kontrolle mehr. Sie verfügen über so viel Einfluss wie nie zuvor. Chávez hat sie zu einer Art Parallelmacht ausgebaut. Und Präsident Maduro hat in den beiden Jahren seiner Regierung zusätzlich sehr viele Militärs in der öffentlichen Verwaltung untergebracht.
    Schumann: Allein neun Offiziere sitzen in der Regierung.
    Jácome: Neun Minister, aber auch auf der mittleren Verwaltungsebene befinden sich sehr viele Militärs. Sie sind sehr anfällig für Provisionen jeglicher Art, was die Korruption unter den Militärs angeheizt hat. Die wesentlich verstärkte militärische Präsenz an der Grenze zu Kolumbien hat sie außerdem den Versuchungen der Drogenmafia ausgesetzt. Es hat sich ein "Kartell der Sonnen" gebildet. Als Sonnen werden die Rangabzeichen auf den Uniformen der Generäle bezeichnet. Der Schmuggel ist ein Riesengeschäft, vor allem der Schmuggel von Benzin nach Kolumbien, das hier so gut wie nichts kostet, und von Lebensmitteln aus Kolumbien, die hier dringend benötigt werden. Man sagt, dass der illegale Handel mit Benzin inzwischen viel mehr einbringt als der Drogenhandel. Denn es geht dabei nicht um kleine Mengen, die in einem PKW transportiert werden, sondern um ganze Tankwagen voller Benzin. Sie wurden auf Fotos dokumentiert.
    Schumann: Aber die Regierung unternimmt doch seit einigen Monaten etwas dagegen und hat auch des Öfteren tonnenweise gehortete Lebensmittel entdeckt.
    Jácome: Der Schmuggel dient der Regierung als Ausrede für die schlechte Versorgung und den Mangel an Lebensmitteln. Wir haben uns immer gefragt, wieso gelingt es ihr nicht, ausreichend für Grundnahrungsmittel zu sorgen? Und das wurde stets mit dem Schmuggel erklärt. Doch wir wissen inzwischen, dass er nur einen Bruchteil der fehlenden Produkte betrifft.
    Schumann: Was ist denn nun die wirkliche Ursache für die mangelnde Versorgung mit Lebensmitteln?
    Jácome: Mit allem. Besonders dramatisch ist die Situation bei den Medikamenten. Daran ist vor allem das absurde Währungssystem schuld. Wenn die Pharmaindustrie nicht ausreichend mit Dollar versorgt wird, kann sie die Grundstoffe zur Herstellung von Arzneimitteln nicht einführen und sie deshalb nicht produzieren. Ähnliches gilt für Lebensmittel. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass Venezuela mehr als 80 Prozent dessen, was es konsumiert, importieren muss. Eine weitere Ursache ist die Preiskontrolle. Für viele Produkte hat die Regierung den Preis festgesetzt und zwar - um Inflation und Spekulation zu vermeiden, wie sie behauptet - auf einem sehr niedrigen Niveau. Viele Produzenten klagen deshalb, dass diese Niedrigpreise oft nicht ausreichen würden, um die Produktionskosten zu decken, weshalb sie die Produktion einstellen.
    Schumann: Haben auch die Enteignungen auf dem Land großen Einfluss auf die Notlage gehabt?
    Notlage auch durch die von Chávez verordneten Enteignungen
    Jácome: Wir bekommen heute tatsächlich die Folgen der Enteignungen ganzer Ländereien zu spüren, die Chávez vor einigen Jahren verordnet hat. Früher gehörte Venezuela zu den Selbstversorgern bei Reis, Kaffee, Zucker und Maismehl, auch beim Fleisch. Wir konnten sogar landwirtschaftliche Produkte exportieren. Viele Haziendas wurden jedoch enteignet - auf dem Weg zum sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Heute produzieren sie so gut wie nichts mehr, stattdessen importieren wir das alles.
    Schumann: Wir führen unser Gespräch an einem illustren Ort: in der Asociación Cultural Humboldt. Sie wurde 1949 zur Pflege der deutsch-venezolanischen Beziehungen ins Leben gerufen, die Alexander von Humboldt im 19. Jahrhundert mit seinen Forschungen begründet hatte. Wir sitzen in einem Saal, der im Stil einer klassischen Bibliothek eingerichtet wurde. Das idyllisch gelegene Gebäude in den Hügeln von San Bernardino ist gut gesichert durch eiserne Gittertore, Mauern mit einer Stacheldraht-Krone und einem ständigen Wachposten an der Straßenseite. Nötige Vorkehrungen gegen die hohe Kriminalität in besseren Vierteln. Doch von Mangelwirtschaft spürt man hier nichts.
    Jácome: Auf der Straße ist sie weniger sichtbar, es sei denn, man trifft auf eine Menschenschlange vor einem Laden. Ein Beispiel: Wen heute die Chikungunya, eine schwere Tropenkrankheit, erwischt, der braucht ein ganz spezielles Medikament, aber das gibt es nicht. Wer heute eine Apotheke aufsucht, steht oft vor leeren Regalen, erhält nicht einmal Aspirin. Es gibt auch keine Arzneimittel gegen zu hohen Blutdruck. Noch gravierender ist der Mangel an Mitteln für Krebskranke, für Chemotherapie beispielsweise. In den Krankenhäusern fehlen oft Katheter für Herzuntersuchungen oder Röntgenfilme. Mittel gegen Diabetes oder HIV-Erkrankungen sind Mangelware und vieles andere. Als ich zuletzt eine Auslandsreise machen konnte, habe ich Deodorants für die ganze Familie mitgebracht.
    Schumann: Also auch Toilettenartikel sind oft nicht einmal für Dollar zu kriegen, ganz zu schweigen von Medikamenten, deren Mangel tödlich sein kann.
    Jácome: Dazu eine Anmerkung: Wenn du als Erwachsener heute keine Milch zum Trinken hast, ist das kein Problem. Was geschieht jedoch mit den Kleinkindern, die keine Milch kriegen? Oder mit den Babys, für die es keine Windeln gibt?
    Schumann: Was mich bei dieser Mangelwirtschaft besonders wundert, ist die Tatsache, dass dieses tropische Land mit einer fruchtbaren Erde seine Bevölkerung nicht ausreichend ernähren kann. Sie haben die Enteignungen als Grund erwähnt, Frau Jácome. Hat nicht auch der frühere Ölreichtum die Agrarproduktion reduziert?
    Jácome: Das haben wir uns auch immer wieder gefragt. Wieso konnten wir in diese Wirtschaftskrise geraten, obwohl das Fass Öl bis ins letzte Jahr rund 100 Dollar kostete? Das ist völlig unbegreiflich. Aber die Regierung hat sich die Enteignungen von Haziendas geleistet, die den Mais für unsere Arepas und Gemüse und Früchte angebaut haben, selbst auf die Gefahr hin, dass es zu Produktionsausfällen kommen würde. Sie konnte es sich damals leisten, alles Nötige zu importieren. Doch heute ist das völlig unmöglich.
    Schumann: Der Lebensmittelmangel - ist er auf das Versagen der Regierung Maduro zurückzuführen oder eine Folge falscher Politik in den 13 Regierungsjahren von Hugo Chávez?
    "Wurzel des Problems ist das Wirtschaftsmodell"
    Jácome: Die Wurzel des Problems ist das Wirtschaftsmodell: die Politik der Regierung, alles kontrollieren, ihrem Projekt unterordnen zu wollen, ein Modell, das den Einfluss der Privatwirtschaft auf ein Minimum reduziert, die Marktwirtschaft allmählich abschafft und eine Staatswirtschaft errichten will. Dieses Modell haben wir in anderen Ländern scheitern sehen, in der Sowjetunion, in ganz Osteuropa, es funktioniert einfach nicht. Chávez wollte das nicht einsehen, denn er hielt sein Modell für überzeugend. Wir hatten deshalb gewisse Hoffnungen auf Präsident Maduro gesetzt, dass er die überfälligen Reformen einleiten würde. Doch er hat ein fundamentales Problem: Er ist schwach, gemessen an seinem Vorgänger Chávez. Wenn er Veränderungen an diesem Modell hätte durchführen wollen, dann hätte dies bedeutet, dass Kommandant Chávez sich geirrt hat, und von der Figur Chávez hängt er völlig ab.
    Schumann: Aber dieses Modell - nennen wir es mal sozialistisch - funktioniert doch in gewisser Weise in anderen Ländern: in Ecuador beispielsweise, auch in Bolivien. Liegt das daran, dass in Venezuela die Operationsbasis für Unternehmen - für den sogenannten kapitalistischen Sektor - zu stark reduziert wurde?
    Jácome: Ich teile zunächst nicht die Ansicht, dass es sich hier um ein sozialistisches Modell handelt. Das ist Staatskapitalismus.
    Schumann: Aber Chávez hat es selbst sogenannt.
    Jácome: Die Rhetorik ist das Eine, die Praxis etwas ganz Anderes. Und dann dürfen wir die großen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern nicht vergessen, auch wenn ihre Regierungen vom "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" sprechen. In Ecuador wie in Bolivien wird jedoch eine realistische Wirtschaftspolitik betrieben. In Ecuador gibt es keinerlei Anzeichen einer Krise wie bei uns. Außerdem unterstützt Präsident Correa die Privatwirtschaft. Das ist also ein ganz anderes Modell.
    Schumann: Und Evo Morales in Bolivien konnte sogar günstigere Verträge mit den Ölmultis aushandeln, und deshalb funktioniert die Politik auch dort besser.
    Jácome: Wenn man die Zahlen der Inflation und der Produktivität in den drei Ländern vergleicht, dann haben Ecuador und Bolivien, die viel kleiner und ärmer sind und über weniger Bodenschätze verfügen, ein sehr viel höheres Wirtschaftswachstum als Venezuela.
    Schumann: Hängt die gesamte Fehlentwicklung, von der wir gesprochen haben, mit der totalen Politisierung des Landes und all seiner Institutionen zusammen?
    Jácome: Ganz gewiss, nur wenige Institutionen sind eine Ausnahme. Eines unserer ganz großen Probleme ist die systematische Schwächung, die Aushöhlung unserer wichtigsten Institutionen. Sie wurden politisiert und - wie die Justiz beispielsweise - ihrer Unabhängigkeit beraubt. Diese Entwicklung ist für die Krise mitverantwortlich.
    Schumann: Befindet sich Venezuela gegenwärtig in der schlimmsten Krise der letzten Jahrzehnte?
    Jácome: Ganz sicher. Es gab zwar auch in der Zeit ziviler Regierungen von 1958 bis 1998 große Krisen: die Abwertung in den 80er-Jahren und die Öl-Krise in den 90ern, als der Ölpreis auf sieben Dollar pro Fass fiel. Doch nie zuvor haben wir eine Krise dieser Dimension erlebt.
    Schumann: Was für eine Perspektive sehen Sie für Venezuela?
    Jácome: Kurzfristig sehe ich sehr viele Schwierigkeiten: Wenn die Regierung so weiter macht, dürfte sich die Krise verschärfen. Viele hoffen darauf, dass endlich wieder ein Dialog zwischen den Fronten stattfindet, der eine Perspektive für Reformen eröffnet, durch die sich die Situation verbessert. Das wird ganz wesentlich vom politischen Willen der Regierung abhängen. Und die hat selbst große innere Schwierigkeiten. Ich hoffe, dass künftig die Bürger wieder eine wichtigere Rolle spielen: Sie könnten sehr viel nachdrücklicher einen Dialog fordern innerhalb der verbliebenen demokratischen Möglichkeiten. Entscheidend dürfte sein, was bei den Ende des Jahres bevorstehenden Parlamentswahlen geschieht. Sehr wahrscheinlich wird es uns zunächst noch viel schlechter gehen, bevor es uns wieder besser geht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.