Donnerstag, 18. April 2024

Verbotene Waffen
Warum Chemiewaffen trotz Ächtung noch immer eine Gefahr darstellen

Seit mehr als 25 Jahren sind Chemiewaffen international geächtet, alle großen Militärmächte haben sich gegen die Nutzung ausgesprochen. Trotzdem werden die Kampstoffe weiter eingesetzt. Insbesondere Russland hat das Tabu zunehmend aufgeweicht.

17.05.2023
    Mitarbeiter der Gesellschaft zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungsaltlasten, GEKA, bereiten eine Chemiewaffen-Granate zur Delaborierung - trennen von Sprengstoff und Kampfstoff - vor.
    99 Prozent aller weltweit offiziell gemeldeten chemischen Kampfstoffe wurden zerstört (imago / photothek / Thomas Imo)
    Fast alle Länder der Welt haben Chemiewaffen geächtet und sich verpflichtet, sie weder zu entwickeln noch herzustellen oder zu verbreiten. Und trotzdem werden die Kampfstoffe eingesetzt – zum Beispiel von Syriens Machthaber Baschar al-Assad gegen die eigene Bevölkerung. Oder vom Kreml, um Oppositionelle auszuschalten. Auch Russlands Krieg in der Ukraine schürt die Angst vor einem Einsatz.

    Warum sind Chemiewaffen geächtet?

    Durch Chemiewaffen sterben Menschen in den meisten Fällen einen sehr qualvollen Tod, zudem treffen sie oft auch Zivilisten. „Ein Hauptcharakteristika von Chemiewaffen ist, dass chemische Gase im Zweifel auch in Keller und Bunker sickern und es also keinen Ort gibt, an dem man sich verstecken kann vor Chemiewaffen-Angriffen“, sagte Katharina Nachbar, vom Think Tank Global Public Policy Institute, das sich umfassend mit Giftgasangriffen auseinandersetzt.
    Der deutsche Autor Erich Maria Remarque hat den Horror durch Giftgaseinsätze im Ersten Weltkrieg in seinem Anti-Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“ beschrieben:
    „Ein überraschender Gasangriff rafft viele weg. Einen Unterstand voll finden wir mit blauen Köpfen und schwarzen Lippen. In einem Trichter haben sie die Masken zu früh losgemacht; sie wußten nicht, daß sich das Gas auf dem Grunde am längsten hält; als sie andere ohne Masken oben sahen, rissen sie sie auch ab und schluckten noch genug, um sich die Lungen zu verbrennen. Ihr Zustand ist hoffnungslos, sie würgen sich mit Blutstürzen und Erstickungsanfällen zu Tode.“

    Was besagt die Chemiewaffenkonvention?

    Die Chemiewaffenkonvention verbietet es, chemische Kampfstoffe zu entwickeln, herzustellen, zu lagern oder einzusetzen. Mit der Konvention wird nicht nur die Produktion von Chemiewaffen verboten, auch die notwendigen Materialien und Rohstoffe werden unter die Aufsicht von Behörden gestellt.
    Die Konvention gilt als eines der erfolgreichsten Abrüstungsabkommen. Fast alle Länder der Welt haben sich verpflichtet - lediglich Ägypten, Nordkorea, Israel und Südsudan nicht. 99 Prozent aller weltweit offiziell gemeldeten Kampfstoffe wurden inzwischen zerstört, 2013 bekam die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW), die den Prozess überwacht, für den Erfolg den Friedensnobelpreis.
    Die Chemiewaffenkonvention trat am 29. April 1997 in Kraft. Gerade zu Anfang der 1990er Jahre wurde über die Konvention viel erreicht, insbesondere weil Russen und US-Amerikaner in guter Kooperation mitgewirkt haben. Auch zu Beginn des Bürgerkriegs in Syrien hat Russland noch im Sinne der Ziele des Abkommens gearbeitet. Der Kreml bewegte Syrien dazu, der Chemiewaffenkonvention beizutreten und arbeitete bei der folgenden Abrüstung eng mit westlichen Staaten zusammen. Inzwischen hält Russland allerdings seine Hand schützend über Assad, obwohl diesem Chemiewaffen-Einsätze vorgeworfen werden. Und auch gegenüber Russland gibt des Vorwürfe, gegen die Konvention verstoßen zu haben.

    Wann wurden Chemiewaffen erstmals eingesetzt?

    Zum ersten Mal kamen Chemiewaffen im Ersten Weltkrieg zum Einsatz: Deutsche Truppen griffen im Jahr 1915 mit Chlorgas belgische Stellungen im Kampf um die Stadt Ypern an. Sie setzten das giftige Gas tonnenweise frei und ließen es durch den Wind in die gegnerischen Schützengräben tragen. Hunderte alliierte Soldaten starben. Es folgte ein chemisches Wettrüsten zwischen Deutschland und den Alliierten.
    Deutsche Sanitäter versorgen während des Ersten Weltkriegs Opfer von Giftgasangriffen
    Deutsche Truppen setzte im ersten Weltkrieg als erste Giftgas ein - kurz darauf wurden sie selbst Opfer der grausamen Gasangriffe (picture alliance / AP Images / Uncredited)
    Der Einsatz war schon damals ein Regelbruch, Giftgase waren durch die Haager Landkriegsordnung von 1899 verboten. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden chemische Waffen dann vorübergehend weitgehend tabuisiert. Im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges setzte Italien im Jahr 1935 Chemiewaffen gegen Abessinien ein, auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges kamen sie kaum zum Einsatz, auch aus Angst vor Vergeltung. Japan verwendete allerdings im Kampf gegen China ab 1937 auch chemische Waffen.
    Im Laufe des 20. Jahrhunderts produzierten und forschten viele Ländern weiter – die chemischen Kampfstoffe wurden immer giftiger: Auf Senfgas folgten Tabun und VX.
    Auch zum Einsatz kamen Chemiewaffen weiterhin. Etwa in den 1960ern, als die US-Army das Entlaubungsmittel Agent Orange in Vietnam versprühte. In den 1980er setzte der irakische Machthaber Saddam Hussein den Kampfstoff Sarin gegen Truppen aus dem benachbarten Iran und gegen Kurden im eigenen Land ein.

    Welche Einsätze gab es noch nach der Ächtung?

    Die ersten Einsätze von chemischen Kampfstoffen nach in Kraft treten der Chemiewaffenkonvention werden dem Assad-Regime zugeschrieben. Bekannt geworden ist insbesondere die Bombardierung von Vororten der syrischen Hauptstadt Damaskus mit Sarin am 21. August 2013. Schätzungen zufolge starben dabei mehr als 1400 Menschen, darunter zahlreiche Kinder. Es nicht der einzige Einsatz von Chemiewaffen durch das Regime: Nach Berechnungen des Think Tanks Global Public Policy Institute ging das Assad-Regime von 2012 bis 2020 mindestens 349-mal mit Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung vor.
    Im Irak setzte der sogenannte Islamische Staat (IS) zwischen 2015 und 2017 achtmal Chlor- und Senfgas ein. Und auch im syrischen Bürgerkrieg soll der IS zu Chlor- und Senfgas sowie Sarin gegriffen haben.
    Daneben gab es gezielte Angriffe auf einzelne Personen. So ließ der nordkoreanische Diktator Kim Jon-Un im Februar 2017 seinen Halbbruder und Rivalen Kim Jon-Nam auf dem Flughafen der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur mit dem Nervenkampfstoff VX töten.
    Im März 2018 wurde der frühere russische Doppelagnet Sergei Skripal in Großbritannien mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet. Ebenfalls mit Nowitschok erfolgte im August 2020 in Russland ein Giftanschlag auf den Oppositionelle Alexei Nawalny. Der Aktivist überlebte den Anschlag nach medizinischer Behandlung in der Berliner Charité. Für beide Taten werden russische Geheimdienstkreise verdächtigt.

    Welche Länder besitzen Chemiewaffen?

    Nahezu alle gemeldeten Chemiewaffen sind zerstört – offen ist, ob Staaten Bestände verschwiegen oder heimlich neue Arsenale aufgebaut haben. „Wir kennen nicht die Bestände, die nicht erklärt worden sind“, sagt Alasdair Hay, Professor für Umwelttoxikologie an der Universität Leeds.
    Insbesondere Russland steht im Verdacht, trotz seiner Beteiligung an der Chemiewaffenkonvention weiter an Chemiewaffen zu forschen. Die Mordanschläge auf Skripal und Nawalny mit dem Nervengift Nowitschok bestärkte diesen Verdacht. Wirkstoffe der Nowitschok-Familie wurden während des Kalten Kriegs von der Sowjetunion entwickelt. Allerdings hatte kein Staat je angegeben, im Besitz des Stoffes zu sein.
    „Die Vergiftung der Skripals und Nawalnys legt nahe, dass in Russland weiter an Chemiewaffen gearbeitet wird“, sagt die Russlandexpertin Hanna Notte. Es sei kaum vorstellbar, dass Anschläge mit so einem modernen Nervengift ohne aktive Unterstützung staatlicher Stellen durchgeführt werden können. Die Informationslage zu russischen Chemiewaffen sei allerdings sehr dünn, betont Notte.
    Unbekannt ist auch, wie es um Chemiewaffen-Bestände in Syrien und den vier Ländern bestellt ist, die die Chemiewaffenkonvention nicht unterschrieben haben, also Nordkorea, Ägypten, Israel und Südsudan.
    Auch aus Gründen des technischen Fortschritts wird die Kontrolle der Chemiewaffenkonvention tendenziell schwieriger. Denn Mittels Künstlicher Intelligenz lassen sich relativ leicht neue chemische Waffen entwickeln, die eben noch nicht auf der Verbotsliste stehen und die auch schwerer nachweisbar sind. Und mit den modernen Forschungsmöglichkeiten finden sich auch neue Wege, um bereits bekannte chemische Kampfstoffe herzustellen.
    Die Liste der Stoffe, die zur Herstellung chemischer Waffen genutzt werden können, könnte so zunehmend länger werden. Behörden und internationale Kontrollinstanzen hinken in diesem Prozess stets hinterher: Solange sie keine Kenntnis über neu genutzte Zutaten haben, finden sie auch die Spuren zu potenziellen Chemiewaffen nicht.

    Warum setzen manche Staaten die verbotenen Waffen trotzdem ein?

    Nach der Einschätzung von Karam Shoumali vom Global Public Policy Institute geht es den Ländern, die noch Chemiewaffen einsetzen, weniger um deren Effizienz, sondern mehr um die psychologische Wirkung. Es stünden zahlreiche konventionelle Mittel zur Verfügung, die im Kampf teilweise sogar effizienter seien. Doch mit Chemiewaffen könne man mehr Angst auslösen, so Shoumali. Assad beispielsweise habe die Chemiewaffen regelrecht wahllos auf Wohnsiedlungen geworfen und damit insbesondere Frauen und Kinder getroffen. Ziel des Gas-Terrors sei gewesen, Menschen zur Flucht zu bewegen und den Willen zum Widerstand zu brechen.
    Auch bei dem Einsatz von chemischen Kampfstoffen für Mordanschläge spielt die Angst, die damit verbreitet werden kann, eine entscheidende Rolle. „Es gibt kaum etwas Schrecklicheres, als von einem Nervenkampfstoff vergiftet zu werden“, sagte Gregory Koblentz Chemiewaffenexperte vom Center for Arms Control and Nonproliferation in Washington D.C.

    Wie reagiert die Weltgemeinschaft auf Verletzungen der Konvention?

    Die OVCW erstellt regelmäßig Berichte über Chemiewaffen und sammelt Indizien zu verbotenen Aktivitäten. Die OVCW arbeitet wissenschaftlich, stellt Informationen zur Verfügung – sie kann aber bei Verstößen gegen die Konvention nicht selbst eingreifen. Ihre Berichte stellt sie der Staatengemeinschaft zur Verfügung, die dann darauf reagieren kann.
    Die Staatengemeinschaft ist sich aber keineswegs einig, wie OVCW-Berichte zu bewerten und wie mit ihnen umgegangen werden soll. Während zahlreiche Staaten der Organisation vertrauen, stellt Russland die Informationen der OVCW offen infrage.
    Jüngstes Beispiel ist ein im Januar 2023 veröffentlichter Bericht, in dem die OVCW das syrische Militär für einen verheerenden Chlorgas-Angriff auf die Stadt Duma im April 2018 verantwortlich macht. Die russische Regierung bestreitet diese Darstellung. Sie behauptet stattdessen, die Ereignisse in Duma seien „eine dreiste Fälschung des Westens“.
    Aufgrund seiner Verstöße gegen die Chemiewaffenkonvention, wurde Syrien das Stimmrecht innerhalb der OVCW entzogen. Das Land bleibt aber ebenso wie Russland Mitglied der Organisation. Um die Handlungsfähigkeit zu erhalten, wurde zusätzlich vom Konsensverfahren auf ein Mehrheitsverfahren bei Abstimmungen umgestellt.
    Noch wenige Jahre zuvor hatte die Weltgemeinschaft ganz anders auf syrische Chemiewaffen reagiert. Im Sommer 2012 hatte das Assad-Regime erstmals zugegeben, im Besitz von Chemiewaffen zu sein. Der damalige US-Präsident Barack Obama bezeichnete den Einsatz von Chemiewaffen als rote Linie. Doch schon wenige Monate später, setzte das syrische Assad-Regime mehrmals Chemiewaffen ein.
    Nach den verheerenden Angriffen zwang die internationale Gemeinschaft Syrien zur Abrüstung, entscheidend war dabei insbesondere, dass die USA und Russland gemeinsam Druck auf Syrien ausübten. Der Großteil der gemeldeten Bestände syrischer Chemiewaffen wurde daraufhin unter Aufsicht der OVCW vernichtet. Syrien selbst trat der Chemiewaffenkonvention am 14. September 2013 bei – hielt sich aber nicht an deren Regeln.

    Könnte Russland in der Ukraine Chemiewaffen einsetzen?

    Dass Russland im Krieg gegen die Ukraine mit Chemiewaffen angreift, hält Sicherheitsexpertin Hanna Notte für unwahrscheinlich. Militär-strategisch sei ein Einsatz schlicht nicht sinnvoll. Am ehesten sei denkbar, dass Russland versuchen könnte, eigene Chemiewaffen einzusetzen, um anschließend die Ukraine dafür verantwortlich zu machen. Russland könnte so eine Begründung für ein weitere Eskalation des Krieges inszenieren.
    Quellen: Marten Hahn, Andreas Zumach, Dagmar Röhrlich, Ruth Jung, Anne Raith, OVCW, pto