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Verfassungsgerichtsurteil in Polen
Daniel Freund (Grüne): "Es geht ans Eingemachte der EU"

Nach der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts* fordert der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund entschiedenes Handeln der Europäischen Kommission. Ausschließen könne man Polen nicht, aber wer sich nicht an gemeinsame Regeln halte, könne auch kein EU-Geld bekommen, sagte er im Dlf.

Daniel Freund im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
Die weiß-rote Nationalfahne Polens und dahinter die Fahne der Europäischen Union (EU) wehen im Wind am Grenzübergang Stadtbrücke zwischen dem polnischen Slubice und Frankfurt (Oder) in Brandenburg. Wegen hoher Infektionszahlen in Polen rechnet Brandenburgs Innenminister Stübgen (CDU) damit, dass das Nachbarland spätestens Anfang kommender Woche zum Hochinzidenz-Gebiet erklärt wird.
Gespanntes Verhältnis - das polnische Verfassungsgericht gibt nationalen Recht teilweise Vorrang vor EU-Recht (Picture Alliance / DPA / Patrick Pleul)
Das Verfassungsgericht in Warschau hat gestern in einem Urteil entschieden, dass Polen nicht gezwungen werden kann, EU-Recht in seine eigene Rechtsprechung zu übernehmen. Entgegen dem bisherigen Konsens in der Europäischen Union gab es damit nationalem Recht teilweise Vorrang vor EU-Recht. Die Richter begründeten die Entscheidung unter anderem damit, die Organe der EU handelten außerhalb der Grenzen der Kompetenz, die ihnen von Polen zuerkannt seien.
Für den Grünen Europaabgeordneten Daniel Freund hört damit die Europäische Union auf, in Polen zu existieren. "Und es kann natürlich nicht sein, wenn die Regeln nicht beachtet werden, dass dann weiter EU-Gelder nach Polen fließen", so Freund, der auch im Haushaltskontrollausschuss des Europaparlaments sitzt. Denn so bestehe im Grunde keine Sicherheit mehr darüber, dass im Falle eines Streits ein unabhängiges Gericht über Korruption oder Betrug entscheide. "Das wird einer der prägenden Momente der Kommissionspräsidentschaft von Ursula von der Leyen werden, denn hier geht es wirklich um das Eingemachte der Europäischen Union."
Worum es beim Streit um Polens Jusitzreform geht
Die EU-Kommission will Zwangsgelder gegen Polen verhängen, weil die nationalkonservative Regierung weiter an ihrer umstrittenen Disziplinarkammer, einer Richteraufsichtsbehörde, festhält. Es ist die nächste Eskalation im Streit um den Umbau von Polens Justizsystem.
Sollte das Urteil durch die Veröffentlichung der Regierung rechtskräftig werden, müsse sich Polen entscheiden, entweder die Verfassung zu ändern oder die Europäische Union zu verlassen. "Aber man kann jedenfalls nicht in diesem Status verharren, wo man sagt, wir hätten gerne weiter das EU-Geld, wir wollen uns aber nicht an die gemeinsamen Regeln halten. Das wird nicht gehen", so Freund.

Das Gespräch im Wortlaut

Tobias Armbrüster: Herr Freund, katapultiert sich Polen hier gerade aus der Europäischen Union?
Daniel Freund: Dieses Urteil, was ja noch nicht rechtskräftig ist, bis die Regierung es auch veröffentlicht hat, bedeutet im Grunde, dass Polen die Rechtsordnung der Europäischen Union verlässt. Man erkennt die Urteile des Europäischen Gerichtshofes nicht mehr an und man sagt, dass die polnische Verfassung über EU-Recht steht. Damit ist nicht mehr gesichert, wie und ob EU-Recht in Polen noch umgesetzt wird.
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Daniel Freund, Europaabgeordneter der Grünen (Imago | Cord)
Armbrüster: Wie sollte die Europäische Union denn auf dieses Urteil reagieren, wenn es dann rechtskräftig wird?
Freund: Das wird einer der prägenden Momente der Kommissionspräsidentschaft von Ursula von der Leyen werden, denn hier geht es wirklich um das Eingemachte der Europäischen Union. Denn wenn sich Mitgliedsländer nicht mehr an die gemeinsam vereinbarten Regeln halten, dann hört die Europäische Union zumindest in Polen auf zu existieren. Und es kann natürlich nicht sein, wenn die Regeln nicht beachtet werden, dass dann weiter EU-Gelder nach Polen fließen. Es steht die Entscheidung an, ob 26 Milliarden Euro Corona-Hilfen nach Polen aktuell fließen, aber natürlich fließen auch aus dem normalen Haushalt viele, viele Milliarden Euro nach Polen, wo dann im Grunde keine Sicherheit mehr besteht, dass darüber letztendlich, wenn es zum Streit kommt, ein unabhängiges europäisches Gericht entscheidet, ob hier zum Beispiel Korruption oder Betrug bei einem EU-Projekt stattgefunden hat.
Armbrüster: Könnte dann Polen unter diesen Umständen überhaupt noch Mitglied der Europäischen Union bleiben?
Freund: Im Grunde muss sich Polen an dem Punkt oder die polnische Regierung an dem Punkt dann entscheiden, entweder die polnische Verfassung zu ändern oder die Europäische Union zu verlassen. Aber man kann jedenfalls nicht in diesem Status verharren, wo man sagt, wir hätten gerne weiter das EU-Geld, wir wollen uns aber nicht an die gemeinsamen Regeln halten. Das wird nicht gehen.

"Riesengroße Mehrheit der Polinnen und Polen will die Mitgliedschaft in der EU"

Armbrüster: Das heißt, Herr Freund, wenn ich Sie da richtig verstehe, das ist dann eine Entscheidung wiederum der Regierung in Polen? Die EU hat keine Möglichkeit, Polen rauszuwerfen?
Freund: Nein. Rauswerfen kann die EU nicht. Aber die EU kann natürlich den Geldfluss stoppen, und das hätte ganz erhebliche Auswirkungen in Polen. Das macht einen sehr, sehr großen Teil der Investitionen im Land aus, das Geld, was die Europäische Union zahlt. Gleichzeitig ist es so, dass eine riesengroße Mehrheit der Polinnen und Polen die Mitgliedschaft in der Europäischen Union will, und nicht nur das. Sie unterstützen mit einer Riesenmehrheit auch die Verbindung von Werten und der Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit mit der Auszahlung der Gelder. Das heißt, die polnische Regierung geht hier klar gegen das Interesse, gegen den Willen ihrer Bürgerinnen und Bürger vor.
Politologin: „Niemand ist gezwungen, in der Europäischen Union zu bleiben“
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Armbrüster: Das macht das Handeln der Europäischen Union, das macht das Handeln der Kommission ja nicht unbedingt leichter. Was würden Sie denn raten? Wie sollte die Kommission in diesem Streit vorgehen?
Freund: Im Grunde haben wir eine Appeasement-Politik der Europäischen Union schon seit vielen Jahren. Viele Jahre wurde auf die Entwicklung in Polen, aber auch in Ungarn, in anderen Mitgliedsländern nicht reagiert. Man hat das laufen lassen und es ist extrem wichtig für den Fortbestand der Europäischen Union, dass jetzt hier klare Signale gesendet werden. Denn sonst wird es andere Länder geben, die sagen, na wunderbar, man kann das Geld nehmen, man muss sich nicht an die Regeln halten, das kann ich mir super auch für mein Land vorstellen. Das bedeutet dann das Ende der EU. Das heißt, wir brauchen jetzt ein entschiedenes Handeln der Europäischen Kommission zu sagen, wer sich nicht an die gemeinsamen Regeln hält, der kann auch kein EU-Geld bekommen.
Armbrüster: Sie haben, Herr Freund, von Appeasement-Politik gesprochen. Das ist ein heftiger Vorwurf. Das heißt, Sie sagen, die Europäische Union, Brüssel, die EU-Kommission vor allem hat hier in den vergangenen Jahren im Umgang auch mit Polen Fehler gemacht?
Freund: Absolut! Wir haben ja gesehen, wie die Entwicklung ist. Viktor Orbán in Ungarn zum Beispiel sagt seit elf Jahren sehr, sehr klar, ich möchte eine illiberale Demokratie, was auch immer das dann sein soll, in Ungarn etablieren. Seit sechs Jahren haben wir die Entwicklungen in Polen, noch viel rasanter, als das in Ungarn stattgefunden hat: Abbau von unabhängigen Medien, dass man Universitäten aus dem Land schmeißt, die Justiz gleichschaltet. All das hat bisher nicht wirklich zu Konsequenzen geführt. Man hat einen Artikel sieben, ein Verletzungsverfahren gegen die Grundwerte eingeleitet, das aber aufgrund der Einstimmigkeit, wo sich Polen und Ungarn gegenseitig schützen, seit Jahren im Sande verläuft, und weitere Schritte sind im Grunde nicht gemacht worden von der Europäischen Union, von der Europäischen Kommission. Es gibt Werkzeuge, aber die sind nicht eingesetzt worden.

Der Hebel des Geldes kann vor Ort Wirkung erzeugen

Armbrüster: Herr Freund, wenn jetzt die Europäische Kommission sich tatsächlich dazu entscheiden würde, entschiedener gegen Polen vorzugehen – Sie haben den Vorschlag gemacht, Geldhahn zudrehen, Gelder stoppen, Geldflüsse stoppen -, würde das nicht automatisch diese Spirale weiterdrehen? Würde die Kommission nicht automatisch auch viele andere Mitgliedsländer gerade im Osten Europas gegen sich aufbringen?
Freund: Ich glaube nicht. Wir haben das gerade bei den sogenannten LGBTIQ-freien Zonen in Polen erlebt, wo eine Reihe von Regionen deklariert haben, bei ihnen gäbe es keine Schwulen und Lesben, und da hat die Europäische Kommission gesagt, okay, solange ihr das macht, fließt kein EU-Geld. Das hat relativ schnell dazu geführt, dass diese Erklärungen zurückgezogen wurden. Das heißt, dieser Hebel des Geldes ist der einzige, der vor Ort wirklich Wirkung zeigen kann. Wie gesagt, es fließt so viel EU-Geld sowohl nach Polen als auch nach Ungarn, dass ich glaube, dass das relativ schnell zu einem Einlenken führen wird, und dann muss die Kommission das natürlich mit klaren Kriterien, mit Reformkriterien verbinden, dass weitere Geldflüsse nur stattfinden, wenn vor Ort Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Justiz wiederhergestellt wird.
Armbrüster: Das heißt, auf keinen Fall einen Kurs einschlagen, in dem man sagt, wir sind gesprächsbereit, wir wollen mit euch verhandeln, wir suchen Verständigung?
Freund: Sprechen muss man immer. Das muss alles im Dialog passieren. Aber Reden alleine hilft nicht, sondern es muss kombiniert werden mit sehr, sehr klaren finanziellen Sanktionen, dass das Geld solange zurückgehalten wird, bis wir erste Schritte sehen. Wenn dann Reformen eingeleitet werden, dann können die ersten Geldflüsse wieder anfangen, und wenn das gut weiterläuft über die nächsten Jahre, dann können weitere Gelder freigegeben werden, aber immer verbunden mit einer Sanktionsandrohung, wenn die Reformen gestoppt werden oder man wieder in die andere Richtung läuft.
*Im Vorspann des Beitrags wurde der Name einer staatlichen Institution korrigiert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.