Samstag, 27. April 2024

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Verfassungsrechtler: Urteil nicht überraschend

Den Juristen und CDU-Politiker Rupert Scholz hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht überrascht. Die Richter in Karlsruhe seien angesichts der öffentlichen Meinung zugunsten von Neuwahlen überfordert gewesen. Scholz vermutete, dass in der kommenden Legislaturperiode das Selbstauflösungsrecht des Bundestages beschlossen werde.

Moderation: Burkhard Birke | 25.08.2005
    Birke: Wir sind in den Informationen am Mittag im Deutschlandfunk verbunden mit Rupert Scholz. Er ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität München und war Verteidigungsminister im Kabinett von Helmut Kohl. Einen schönen guten Tag, Herr Professor Scholz.

    Scholz: Schönen guten Tag.

    Birke: Sieben zu eins haben die Richter in Karlsruhe entschieden. Hat Sie diese Geschlossenheit überrascht?

    Scholz: Nein, es ist ja schon zu sehen, dass diese Mehrheit ja nicht so klar ist, wenn man etwa an das abweichende Votum von Frau Lübbe-Wolf denkt, die ja von einer Kontrollfassade gesprochen hat, was die Entscheidung bedeutet. Also insgesamt ist wohl, dass die große Mehrheit zustande gekommen ist, so zu erklären, dass das Bundesverfassungsgericht sich als überfordert ansah. Das klingt auch im Grunde bei den einleitenden Bemerkungen des Vorsitzenden Richters Hassemer schon an, der davon spricht, dass das Land eben mitten im Wahlkampf steht. Das Land steht in der Tat mitten im Wahlkampf und eine Entscheidung aus Karlsruhe dagegen, diesen Wahlkampf von heute auf morgen zu stoppen, wäre wahrscheinlich auf politische Akzeptanz kaum gestoßen.

    Birke: Herr Scholz, Sie sprechen davon, das Verfassungsgericht sei überfordert worden. Leiten Sie das aus den Äußerungen ab, man habe nur ein sehr eingeschränktes Prüfungsmöglichkeitsmoment gehabt, was nun die Stabilitätsfrage der Kanzlermehrheit anbetrifft?

    Scholz: Mit Sicherheit ist das ein entscheidender Punkt. Man muss es mal sehen natürlich im Lichte der vorangegangenen Entscheidungen im Falle Helmut Kohl. Damals hat das Bundesverfassungsgericht im Grunde sehr klare Tatsachen an der Hand gehabt, die es auch entsprechend gewürdigt hat. Helmut Kohl konnte damals darauf hinweisen, dass nach dem konstruktiven Misstrauensvotum die FDP ins Bröckeln geraten war, der neue Koalitionspartner. Da gab es Parteiübertritte, da gab es Anträge auf Parteitage und so weiter und so fort. Alles das sind Dinge oder spiegeln eine Situation wieder, die heute nicht gegeben war und auch nicht gegeben ist. Und deshalb hat das Bundesverfassungsgericht auch eine deutliche Akzentverlagerung vorgenommen gegenüber der vorangegangenen Entscheidung. Damals hat das Gericht zwar auch von einem politischen Einschätzungsspielraum des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers gesprochen, aber doch die Frage der Handlungsunfähigkeit eines Bundeskanzlers mehr objektiv zu beurteilen versucht, während es jetzt davon spricht, dass ein Bundeskanzler im Grunde diese Frage subjektiv bewerte. Das Gericht sagt, einem Bundeskanzler könne es vielleicht auch nicht zugemutet werden, auf eine latente Minderheit zu setzen, derart, dass er erst abwarten muss, bis er vielleicht mit bestimmten Abstimmungsentscheidungen im Bundestag scheitert an der eigenen Regierungsmehrheit. Das sind aber alles Dinge, die so subjektiv sind, das die Justiziabilität eigentlich völlig entfällt.

    Birke: Besteht jetzt in Zukunft, Herr Scholz, die Gefahr, dass ein Kanzler willkürlich selbst darüber entscheidet, wann er über eine Mehrheit verfügt und wann nicht, wann er eben das Parlament auflöst?

    Scholz: Das Bundesverfassungsgericht sagt schon, dass eine willkürliche Handlungsweise dieserart nicht statthaft wäre. Aber in der Sache bin ich schon der Meinung, dass diese Gefahr besteht.

    Birke: Das heißt, praktisch ist durch den Karlsruher Richterspruch heute diese Vertrauensfrage sanktioniert worden als Selbstauflösungsinstrument des Bundestages?

    Scholz: Ja, na so kann man es noch nicht sagen. Aber immerhin, die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts von der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage deutet eigentlich sehr klar daraufhin, dass man der Einschätzung der politischen Bewertung des Bundeskanzlers doch bereit ist, nahezu grenzenlos zu folgen. Und das bedeutet aber aus der Sicht des Artikel 68 Grundgesetz, um den es hier ja geht, dass der massiv aufgeweicht worden ist und dass in der Tat vieles dafür spricht, dass man in der kommenden Legislaturperiode hier eine neue verfassungsrechtliche Grundlage schafft, sprich das Selbstauflösungsrecht des Bundestages.

    Birke: Wie sollte das aussehen, Zwei-Drittel-, Drei-Drittel-Mehrheit oder wie in Japan?

    Scholz: Ich selbst bin schon früher, schon in der gemeinsamen Verfassungskommission zur Reform des Grundgesetzes nach der Wiedervereinigung dafür eingetreten, ein solches Auflösungsrecht einzuführen, es aber - um es vor Missbräuchen abzuschirmen - an ein ganz hohes Quorum bindet. Und hier würde ich sagen, man sollte sogar auf eine Drei-Viertel-Mehrheit gehen. Dann sind Missbräuche, die die Stabilität bedrohen, was das Ziel unseres Grundgesetzes ist, ausgeschlossen. Und dann wäre zweitens aus der Situation heraus, die wir heute haben, dass der Artikel 68 Grundgesetz, der ja eigentlich der Stabilität dienen soll, noch weiter aufgeweicht wird.

    Birke: Noch die Frage an den CDU-Politiker: Freut es Sie, dass das Neuwahlkalkül des Kanzlers offenbar nicht aufgeht?

    Scholz: Naja, als CDU-Politiker hoffe ich natürlich auf ein Wahlergebnis, das der CDU die Mehrheit bringt, und das einen neuen Schritt in der wirklichen Reformierung unseres Staates möglich macht. Aber man muss immer sehen, das möchte ich auch sagen, zunächst einmal gilt es die Verfassung zu beachten, und nur im Rahmen der Verfassung sind auch Neuwahlen statthaft.