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Verfassungsschutz
"Am Anfang stand keine braune Seilschaft"

Ehemalige SS- und Gestapo-Leute hätten zwar in den 1950er- und -60er-Jahren die Atmosphäre in manchen Abteilungen des Verfassungsschutzes beeinflusst, grundsätzlich geprägt hätten sie die Behörde jedoch nicht, sagte der Historiker Constantin Goschler im DLF. Die Sorge, dass nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland eine neue Gestapo entsteht, habe es sehr wohl gegeben - die Gefahr jedoch nicht.

Constantin Goschler im Gespräch mit Christoph Heinemann | 25.09.2015
    Die Historiker Michael Wala (r) und Constantin Goschler (l) und der BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen stehen am 01.10.2013 in der Bundespressekonferenz in Berlin
    Der Historiker Constantin Goschler (li.) mit seinem Kollegen Michael Wala (re.) und Verfassungsschutz-Präsident Georg Maaßen (picture alliance / dpa / Rainer Jensen)
    Um den Verfassungsschutz wirklich zu prägen, seien die ehemaligen SS- und Gestapo-Leute zu wenige gewesen, sagte der Historiker Constantin Goschler im DLF. In seinem Buch "Keine neue Gestapo" hat er gemeinsam mit dem Autor Michael Wala die nationalsozialistische Geschichte des Verfassungsschutzes bis 1975 untersucht. Das Ergebnis seiner Forschung: "Am Anfang des Verfassungsschutzes stand keine braune Seilschaft", erklärt Goschler. 1963 habe man insgesamt 16 ehemalige SS- und Gestapo-Leute in der Behörde gefunden. Diese seien dann pensioniert oder versetzt worden. Eine direkte Linie vom Anfang der Behörde bis hin zu den rechtsextremen Verbrechen des NSU könne er daher nicht ziehen.
    Bis 1955 sei die Behörde zudem von den Alliierten streng kontrolliert worden. Ehemalige SS- und Gestapo-Leuten wurden zunächst nur in Tarnfirmen und als freie Mitarbeiter eingestellt. Nachdem die Kontrollen durch die Alliierten weggefallen seien, wurden sie dann allmählich direkt in der Behörde eingestellt. In den 1960er Jahren seien dann 16 Leute gefunden worden, die eine Vergangenheit in der Gestapo oder SS hatten. Weiter sagte Goschler: Der Verfassungsschutz habe den Schatten der Gestapo immer mit sich herumtragen müssen und das Ansehen der Behörde sei nie besonders gut gewesen. Entweder habe man dem Verfassungsschutz vorgeworfen, dass er gar nichts tue oder, dass er alles kontrolliere.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Als die beiden Historiker loslegten, blickten viele Bürgerinnen und Bürger fassungslos nach Eisenach. Zwei junge Männer hatten sich in einem Wohnmobil das Leben genommen. Die Namen Mundlos und Böhnhardt stehen seither zusammen mit dem von Beate Zschäpe für die Terrororganisation NSU, die zehn Jahre lang mordend durch die Republik ziehen konnte, ohne dass ihnen die Ermittlungsbehörden oder der Inlandsgeheimdienst auf die Schliche gekommen wäre. Dabei wäre eine Verknüpfung der Verbrechen keine gedankliche Meisterleistung gewesen. Ein Verdacht stand im öffentlichen Raum: War diese Trägheit vielleicht kein Zufall?
    Genau zu dieser Zeit also, im November 2011, begannen die Historiker Constantin Goschler und Michael Wala mit der Erforschung der Frühgeschichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Vorbild war die Studie über Nazis im Auswärtigen Amt.
    Das Ergebnis liegt nun als Buch vor unter dem Titel "Keine neue Gestapo": Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit. Wir haben vor dieser Sendung mit einem der beiden Autoren gesprochen. Professor Constantin Goschler lehrt Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Wie in vielen Ministerien und Behörden, gerade auch im Justizwesen, machten Nazis im Verfassungsschutz auch Karriere, vor allem Mitglieder der SS, des SD und der Gestapo. Ich habe Constantin Goschler nach Beispielen gefragt und vor allen Dingen gefragt, was diese Leute zum Verfassungsschutz zog.
    Constantin Goschler: Eigentlich ganz einfach: Die suchten Arbeit. Man muss sich vorstellen: Nach dem Krieg haben die meisten Leute erst mal ihre Jobs natürlich verloren. Die meisten haben dann ein paar Jahre Internierungslager gehabt. Die haben dann übergangsweise als Holzfäller gearbeitet. Sehr beliebt war auch eine Beschäftigung als Vertreter. Das schien wohl besonders geeignet für ehemalige Gestapo- oder SS-Leute. Und Anfang der 50er-Jahre, als wieder neue Sicherheitsapparate aufgebaut wurden, haben die natürlich wieder Beschäftigung gesucht und sind natürlich auch gesucht worden. Deren Qualifikationen waren dann natürlich auch begehrt, wobei es für die nicht so einfach war, dann wieder Karriere zu machen. Das muss man auch dazu sagen.
    Heinemann: Wieso nicht?
    Goschler: Es galt schon als anrüchig.
    Heinemann: Auch schon in den 50er-Jahren?
    Goschler: Auch schon in den 50er-Jahren. Es gab auch in den 50er-Jahren schon immer ein Gefühl dafür, es gibt bestimmte Grenzen, die sollte man nicht überschritten haben, wobei die Grenzen damals anders gesetzt worden sind als heute.
    Heute haben wir ja ein sehr weites Verständnis davon, wen wir als belastet ansehen. Praktisch jeder, der eine NSDAP-Mitgliedschaft gehabt hat, gilt für uns heute eigentlich schon als untragbar. NSDAP-Mitgliedschaften haben nach dem Abschluss der Entnazifizierung eigentlich keine Rolle mehr gespielt. Da hat man gesagt, okay, entweder man war entnazifiziert oder nicht, dann war das kein Thema mehr.
    Auch die Mitgliedschaft in der SS oder Gestapo an sich galt noch nicht unbedingt als ganz schlimmes Kriterium. Das Kriterium damals war eigentlich immer, hat jemand sich konkret an Verbrechen beteiligt oder nicht. Die Organisationsmitgliedschaft war immer noch so eine Sache, das war verhandelbar, aber es hing einem dann doch so etwas als Makel an, wobei es dann schon einen Unterschied gemacht hat.
    Beim BKA zum Beispiel, Bundeskriminalamt, war das gar kein Problem. Auch beim Bundesnachrichtendienst war das kein besonderes Problem, weil die Leute eh davon ausgegangen sind, Auslandsspionage ist irgendwie ein schmutziges Geschäft, da kommt es nicht so darauf an, wer dabei ist, aber eine Einrichtung, die Verfassungsschutz heißt, das hat natürlich einfach auch einen anderen moralischen Erwartungshorizont aufgemacht.
    "Der Verfassungsschutz war nicht sehr stark belastet"
    Heinemann: Wie belastet war der Verfassungsschutz?
    Goschler: Wenn man das jetzt nun statistisch sieht, dann war er nicht sehr stark belastet im Vergleich zu anderen Institutionen. Das ist natürlich immer eine relative Frage. Und es kommt auch immer darauf an, zu welchem Zeitpunkt man genau hinschaut.
    Es gab eine intensive Untersuchung Anfang der 1960er-Jahre und da hat man insgesamt 16 Leute gefunden, die eine Mitgliedschaft früher hatten beim SD, bei der SS oder bei der Gestapo.
    Heinemann: _63 war das.
    Goschler: Genau.
    Heinemann: Und das war alles bekannt!
    Goschler: Das war eigentlich dann auch alles bekannt. Wir entdecken ja heute viele Dinge dann neu wieder. Das gerät ja auch oft in Vergessenheit. Die Medien haben ja auch zeitgenössisch schon sehr genau hingeschaut.
    Heinemann: Wie kamen ehemalige Schergen des NS-Regimes in ein von den Alliierten kontrolliertes Amt, dem es ja offiziell verboten war, ehemalige Angehörige von Gestapo, SS und SD zu beschäftigen?
    Goschler: Bis 1955 haben die Alliierten das ja ganz streng kontrolliert und bis 1955 kam auch niemand im engeren Sinne in das Amt. Das haben die Alliierten tatsächlich verhindert. Stattdessen wurden diese Leute dann in Tarnfirmen beschäftigt.
    Man muss da nun unterscheiden, ob die Leute offizielle Mitarbeiter des Bundesamtes waren, oder ob sie dann in Tarnfirmen als freie Mitarbeiter beschäftigt waren. Und das dauerte bis etwa 1955. Damals gaben die Alliierten dann die Kontrollhoheit auf und dann in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre sind diese Leute, die sozusagen als freie Mitarbeiter beschäftigt worden waren, allmählich übernommen worden, bekamen dann ordentliche Beschäftigungsverhältnisse, und dieses "Glück" währte für diese Leute dann bis Anfang der 60er-Jahre, als sie dann skandalisiert wurden und dann in den folgenden Jahren alle wieder dort ihre Positionen verloren haben.
    Das heißt nicht, dass die jetzt auf die Straße gesetzt worden sind, sondern man hat sie in andere Behörden versetzt, die einfach unauffälliger waren.
    "Der Feind, der stand im Osten"
    Heinemann: Wo stand für diese Leute nach dem Krieg der Feind?
    Goschler: Na ja, der Feind, der stand im Osten. Das war sozusagen die einfachste Möglichkeit, auch wieder so was wie eine Kontinuität herzustellen. Man hat sich dann auf die antikommunistische Seite geschlagen. Im Grunde genommen kann man sagen, je nachdem wo man landete: Wenn man im Osten landete, dann hat man den Antiamerikanismus aus dem Nationalsozialismus mitgenommen, und wenn man im Westen landete, dann nahm man eben den Antikommunismus mit. Im Nationalsozialismus steckte ja beides drin und so konnte man zumindest einem Teil seiner Überzeugungen treu bleiben.
    Heinemann: Herr Professor Goschler, haben Nazi-Schergen, ehemalige Nazi-Schergen den Kurs des Bundesverfassungsschutzes geprägt?
    Goschler: Das würde ich so nicht sagen. Dazu waren sie insgesamt dann doch zu wenige. Man kann allenfalls sagen, dass sie zeitweilig in bestimmten Abteilungen die Atmosphäre geprägt haben. Das war vor allem in der Spionageabwehr der Fall. Das hat ja dann aber auch dazu geführt, dass der Skandal dann entstanden ist und dass man gesagt hat, das geht nicht, weil der Eindruck entstanden war, da hat sich so eine Art Seilschaft gebildet. Aber was unsere Ergebnisse eigentlich nicht hergeben ist die Vorstellung, am Anfang der Gründung des Bundesverfassungsschutzes stand sozusagen eine braune Seilschaft und da kann man jetzt eine direkte Linie durchziehen bis zur Gegenwart und sagen, was weiß ich, die Schwierigkeiten, die wir jetzt im Zusammenhang des NSU-Skandales gesehen haben, dass die eine direkte Folge oder Ableitung der damaligen Zeit sind. Da hat ja auch ein radikaler personeller Bruch in den 60er-Jahren stattgefunden.
    Heinemann: Wobei Sie ja den Verfassungsschutz nur bis 1975 untersucht haben.
    Goschler: Genau.
    Heinemann: Aber Sie würden das auch über die Zeit danach sagen?
    Goschler: Na ja, gut. Ich kann nicht sagen, was sich danach dann ergeben hat. Ich kann nur sagen, ich kann keine Linie durchziehen von der Nachkriegszeit bis in die Zeit danach. Was wir sagen können ist, dass in personeller Hinsicht in unserem Untersuchungszeitraum ein tief greifender Bruch stattgefunden hat und die Leute, die man dann zurecht angeprangert hat, dass die nicht in eine derartige Einrichtung hinein gehören, die sind dann alle versetzt worden oder in Ruhestand versetzt worden. Die waren dann nicht mehr da.
    "Man wollte nicht wieder Staatsschützer haben in schwarzen Ledermänteln und mit Pistolen"
    Heinemann: Bestand kurz nach dem Krieg die Gefahr, dass sich eine neue Gestapo bilden würde?
    Goschler: Die Gefahr vielleicht nicht, aber die Sorge bestand. Deshalb kann man sagen, der Quellcode, der am Anfang der Gründung liegt und auch der ersten Jahrzehnte, des Bundesamtes für Verfassungsschutz war, hier darf keine neue Gestapo entstehen. Das hat man dann auch in vielerlei Hinsicht versucht durchzusetzen und deswegen haben die Alliierten am Anfang die Personalpolitik sehr stark kontrolliert. Das hatte aber auch strukturelle Konsequenzen. Man wollte nicht wieder Staatsschützer haben in schwarzen Ledermänteln und mit Pistolen, die dann nachts an der Tür klopfen. Deswegen hat der Verfassungsschutz zum Beispiel keine Exekutivgewalt bekommen. Die dürfen nicht als Polizei auftreten. Die dürfen nur Nachrichten sammeln, sie dürfen aber nicht selber dann exekutiv auftreten.
    Und eine andere Konsequenz war, dass man den Verfassungsschutz extrem stark föderalisiert hat. Die Gestapo war ja nun gerade das Gegenteil, das war ja die Zentralisierung aller Staatspolizeistellen vorher. Das hat man jetzt rückgängig gemacht mit der Konsequenz, dass wir heute natürlich manchmal sehen, dass der Verfassungsschutz ein extrem sperriges und unhandliches Instrument ist. Der Versuch zu vermeiden, die Gestapo wieder neu aufleben zu lassen, hatte auch ihren Preis.
    "Das Ansehen der Behörde war eigentlich nie besonders gut"
    Heinemann: Skandale begleiten die Geschichte des Bundesverfassungsschutz, von der Vulkan-Affäre (da ging es um falsche Behauptungen von Wirtschaftsspionage für die DDR) bis zum Celler Loch. Wie hat sich das Ansehen der Behörde gewandelt?
    Goschler: Das Ansehen der Behörde war eigentlich nie besonders gut. Das ist schon interessant, weil etwa in Großbritannien oder in den USA entsprechende Einrichtungen ein viel besseres Image genießen.
    "Niemand weiß genau, was der Verfassungsschutz eigentlich macht"
    Heinemann: Wieso ist das in Deutschland anders als in den genannten Ländern?
    Goschler: Ich glaube, das hat viel mit der Tradition zu tun. Das hat mit dieser verqueren Geschichte zu tun, dass hier eine Einrichtung übernommen worden ist, die eigentlich, wenn man ihr den angemessenen Namen gegeben hätte, Staatsschutz hätte heißen müssen. Man hat aber den Namen vermeiden wollen, man wollte alle Anklänge an Gestapo vermeiden, aber dieses Amt hat immer diesen Schatten mit sich herumgeschleppt.
    Es gab ein grundsätzliches Misstrauen. Im Grunde genommen hat man dem Verfassungsschutz immer entweder vorgeworfen, dass er unfähig ist und gar nichts kann, oder man hat Allmachtsfantasien entworfen und gesagt, er kann viel zu viel und er hat alles unter Kontrolle, was auch damit zu tun hat, dass niemand genau weiß, was der Verfassungsschutz eigentlich macht, und ich hoffe, dass unser Buch da ein bisschen zu beitragen kann, dass man eine genauere Vorstellung bekommen kann, wo eigentlich die Grenzen und die Möglichkeiten dieser Einrichtung tatsächlich gelegen haben - zumindest in dem Zeitraum, über den wir geschrieben haben.
    Heinemann: Der Historiker Professor Constantin Goschler. Heute erscheint das Buch "Keine neue Gestapo": das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.