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Vergessene Generation der Kriegskinder

Repression, Diktatur, fehlende Schule und fehlende Kindheit haben aus jenen, die in der Zeit des Nationalsozialismus noch Kinder waren, eine vergessene Generation gemacht. Die Journalistin und Autorin Sabine Bode hat ein Buch über diese Generation geschrieben.

Moderation: Michael Köhler | 10.04.2005
    Michael Köhler: In der kommenden Woche beginnt in Frankfurt der erste internationale Kongress zum Thema Kriegskindheit und deren Langzeitfolgen. Repression, Diktatur, fehlende Schule, fehlende Kindheit haben aus jenen, die bei Machtergreifung oder Kriegsende noch Kinder waren, eine so genannte vergessene Generation gemacht. Sie war doppelt verschwiegen. Sie hatte gelernt, den Mund zu halten, zu gehorchen: zu Hause, in der Schule, später vielleicht sogar auch in der Ehe, im Betrieb, in der Politik. Sie war über Freiheit, Friede und Rechtssicherheit froh. Wie es im Inneren aussah, interessierte kaum jemanden. Den Mut, danach zu fragen, ihm eine Stimme zu geben, haben viele erst jetzt. Die Journalistin und Autorin Sabine Bode hat das versucht, hat ein Buch darüber geschrieben, über "Die vergessene Generation", so hat sie es genannt, und sie habe ich gefragt, auf welchen Zeitraum sie denn diese Generation zunächst begrenzt.

    Sabine Bode: Also ich habe es eingegrenzt auf die Jahrgänge 1930 bis 1945. Natürlich ist jemand, der 1928 geboren ist, irgendwo auch ein Kriegskind, denn der war bei Kriegsende 17 und bei Kriegsanfang eben fünf Jahre jünger. Nur, ich musste das für mich überschaubar halten und deshalb habe ich gedacht, 15 Jahrgänge ist schon ziemlich viel, wenn man die alle im Blick haben will. Denn man muss ja wissen, eigentlich handelt es sich um mehrere Generationen, denn es macht einen Riesenunterschied ob jemand diesen Krieg als Kleinkind erlebt hat oder gerade erst eingeschult oder in der Vorpubertät oder in der Pubertät. Und insofern finde ich, 15 Jahrgänge im Blick zu behalten ist schon eine ganz beachtliche Aufgabe.

    Köhler: Erinnerung, individuell und national, ist eine höchst unterschiedliche Sache. Wenn ein ehemaliger Insasse oder eine Insassin, sagen wir die israelische Nationalhymne, die Hatikva, hört, dann denkt sie vielleicht an die Todesmärsche; wenn meine Mutter vom Jahrgang '33 auf dem Dorf mittags die Sirene hört, die auf dörflichen Rathäusern mittags um 12 teilweise noch erklingt, fängt sie an zu zittern, weil sie an den Fliegeralarm denken muss. Das soll heißen, Erinnerungen werden auch richtig körperlich erfahrbar, selbst heute noch im Jahr 2005, 60 Jahre nach Kriegsende. Was haben Sie für Erfahrungen gemacht mit diesen Kriegskindern, wie sich diese Erinnerungen äußern, sich sozusagen an die Oberfläche emporarbeiten und nicht länger mehr versteckbar sind und runterschluckbar sind?

    Bode: Also ich glaube, unterschwellig haben Sirenen immer Ungutes ausgelöst. Auch diese jahrzehntelange Belästigung durch Tiefflieger glaube ich, ist in dieser Generation etwas ganz, ganz Schwieriges gewesen. Auf der anderen Seite hat sie ja versucht, diese schlimmen Erinnerungen so lange und so gut wie möglich von sich fern zu halten, auch dadurch, dass sie ganz viel gearbeitet hat, das ist ja eine extrem tüchtige Generation gewesen. Und was jetzt passiert, seit ungefähr fünf Jahren - aber extrem erst seit drei Jahren - ist, dass durch die Kriege, die - zum Beispiel der Kosovo-Konflikt war ganz wichtig, der 11. September hat sehr viel noch mal ausgelöst an alten Erinnerungen und der Irak-Krieg also ganz gewiss - das sind alles Sachen - also in der Trauma-Behandlung sagt man dann, diese alten schlimmen Erlebnisse werden "getriggert", das heißt die werden untergründig angestoßen, kommen nach oben. Und der zweite Faktor ist, dass die Leute halt älter werden. Erstens haben sie dann Ruhe, zweitens rückt im Alter ohnehin die Kindheit näher, da zieht man Bilanz. Das heißt, auch die Abwehrkräfte gegen diese "verdammten Jahre", wie mir mal ein Leser schrieb, die sind einfach sehr gering geworden. Und jetzt ist offenbar der Zeitpunkt gekommen, in der das so eine "Erinnerungsgemeinschaft" wird, diese Kriegskinder.

    Köhler: Ich glaube, Sie haben es mal sehr treffend charakterisiert als die "verschwiegene Generation" oder die "schweigende Generation" oder vielleicht sogar eine Art "Nicht-Generation", die unter Repression, Diktatur, fehlender Schule und fehlender Kindheit groß geworden ist. Was denken Sie, woran das liegt, dass die so still und so verschwiegen war, gerade auch in der jungen Bundesrepublik, der so genannten formierten Gesellschaft?

    Bode: Also eine Sache ist, dass - als der Krieg vorbei war - es wirklich nur ums Überleben ging. Da war einfach kein Platz, sich darum zu kümmern: "Meine Güte, Du armes Kind, was hast Du Schlimmes erlebt?" Außerdem glaube ich, ist es für Eltern etwas ganz, ganz Schwieriges, wenn sie ihre Kinder nicht schützen konnten. Zum dritten war man damals der Meinung, Kinder sind robust - wenn die nicht darüber reden, dann haben die das gut verkraftet, die halten ja viel aus. Aber im Grunde hat man dieser Generation mit auf den Weg gegeben bei Kriegsende: "Sei froh, dass Du überlebt hast, denk nicht mehr daran, vergiss alles, guck nach vorn." Und da wurde nicht mehr darüber geredet.

    Köhler: Was halten Sie von der These, diese Generation würde an einer - ich nenne es mal so - Empathielücke leiden, also an einer Art Einfühlungsgefühl oder Mitgefühl würde ihr mangeln, eben weil sie sich sich selber gegenüber so preußisch verhalten hat?

    Bode: Sie sprechen da wirklich etwas Schwieriges an. Ich versuche das mal, in dieser kurzen Zeit zu erklären: Es ist heute noch bekannter als es vielleicht schon viele Schriftsteller und Dichter wussten - die wissen ja häufig Dinge eher, auch im psychologischen Bereich -, dass man eigentlich nur sehr mitfühlsam und mitfühlend sein kann, wenn man auch sein eigenes Leid hat wahrnehmen können. Und das ist etwas ganz Schwieriges, das nicht zu tun. Nun ist ausgerechnet in dieser Kriegskindergeneration, deren Leid ja nicht gesehen worden und angesprochen und wahrgenommen und berücksichtigt worden ist, eine hohe Verantwortung für das anzutreffen, was man die deutsche Schuld nennt. Das heißt, sie haben sich - gerade in diesem Alter, wahrscheinlich weil die eigenen Eltern sich da so bedeckt gehalten haben - extrem darum gekümmert, wie ging es den Nazi-Opfern - ihre Erschütterung darüber ist groß gewesen. Aber ihr Engagement - das habe ich nun, glaube ich, inzwischen auch begriffen und ich bin da nicht die Einzige, die das so sieht - ist wahrscheinlich doch eher getragen von einer moralischen Verpflichtung und nicht von einem wirklichen Mitgefühl. Es ist schwer, ihnen das zu sagen, weil sie dann natürlich denken: "Meine Güte, jetzt haben wir uns immer so engagiert." Aber natürlich ist es auch schwer, dann irgendwann sagt man: "Jetzt muss auch mal Ruhe sein." Und vielleicht erklärt sich daher, dass sich bei so Älteren, zum Beispiel bei Martin Walser, dann irgendwie dieser Satz von der "Auschwitzkeule" kommt und "Nu ist aber auch gut, jetzt haben wir doch schon immer wieder darum gekümmert".

    Köhler: Ich habe glaube ich bei Ihnen mal den Satz gelesen: "Es wurde nicht geklagt, nicht geweint und nicht getrauert."?

    Bode: Ja.

    Köhler: Ist das der Grund dafür, dass lange so darüber geschwiegen wurde? Dass die Sache nicht hochkam und jetzt vielleicht bei dieser Generation, die jetzt im Ruhestand ist oder vielleicht im letzten Lebensjahrzehnt, noch mal bilanziert wird und man vielleicht auch die Muse hat, zu sagen: "Was war da eigentlich los?"

    Bode: Ja, ganz genau. Also für Trauer war keine Zeit. Im Krieg war keine Zeit, im Überlebenskampf danach auch nicht und ich denke auch mal, beim Wirtschaftswunder hat man gedacht, wir haben Besseres zu tun, wir wollen jetzt mal so richtig auf die Sahne hauen und mal gucken, wie das Leben ist, wenn es sich gut anfühlt. Das Interessante ist, glaube ich, dass ja dieses Schlagwort von der "Unfähigkeit zu trauern", das von den Mitscherlichs Ende der 60er Jahre aufgekommen ist und dann ja auch immer viel zitiert worden ist, bezog sich ja auf die mangelnde Trauer bezüglich der Nazi-Opfer und auch, dass man so in seiner Liebe zum Führer enttäuscht worden ist. Das betrifft natürlich nicht so sehr die Kinder. Das wurde dann so ein Schlagwort, wenn es um die mangelnde Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit ging und da hat man gesagt: "Ja, ja, also wir können ja eben nicht gut trauern, also dann ist es das." Was wir jetzt erleben, meiner Einschätzung nach, ist der Beginn, dass diese Trauer jetzt nachgeholt wird. Man kann ja versäumte Trauer nachholen. Das wissen viele Menschen aus persönlichem Erleben, dass man einen Verlust hat und während man diesen Verlust verarbeitet, wird ein anderer Verlust, der vielleicht Jahrzehnte zurückliegt, wieder wichtig und man kann ihn mitverarbeiten und das ist eine große Erleichterung bei einer Krisenbewältigung. Und ich glaube, was wir zurzeit tun und erleben in Deutschland, mit dieser ungeheuren Vielfalt dieses Gedenkjahres, was ja nicht nur ein Mediengedenkjahr ist, sondern von ganz, ganz vielen Bürgern mitgetragen wird, wenn Sie sich diese Veranstaltung vor allen Dingen regional angucken, ich glaube, jetzt ist der Zeitpunkt, dass diese versäumte Trauer nachgeholt wird.

    Köhler: Tut uns das gut, wenn wir jetzt hingehen und diese Generation der Kriegskinder mit Begriffen behaften, die aus der Psychiatrie, der Psychotherapie kommen, und von Traumatisierungen und Ähnlichem sprechen? Ist das förderlich, was denken Sie?

    Bode: Also das eine ist natürlich das, dass man an diese ganzen Sachen ohne Psychologie nicht herankommt. Sie können das einfach nicht erklären ohne dieses Wissensgebiet. Das andere ist, dass meiner Meinung nach, es nicht darum gehen kann, einer ganzen Generation ein Trauma anzuhängen. Das ist ein Teil und wir wissen nicht, wie groß dieser Teil ist - also die ihr Trauma nicht verarbeitet haben, das muss man ja differenzieren. Ich glaube, insgesamt tut es dieser Generation gut und das braucht sie, dass sie jetzt endlich wahrgenommen wird. Als eine, die als Kinder viel Leid ertragen hat und eine, die tüchtig war und die gut damit umgegangen ist, die stolz sein kann auf ihre Lebensleistung und die ein Recht darauf hat, gut alt zu werden. Denn das ist der entscheidende Punkt. Wenn plötzlich Schwierigkeiten aus der Kindheit virulent werden und sie wissen das gar nicht, dass - also sie kommen in den Ruhestand, haben irgendwelche Beschwerden und dann stellen sie fest, ja meine Güte, gehen zum Arzt und niemand kommt auf die Idee, dass dem ein Kriegstraumata zugrunde liegen kann. Dann ist das Ergebnis, dass sie älter werden und alt werden und sie stehen unter Pillen und können noch nicht mal ihre Enkel genießen. Das hat diese Generation nicht verdient, sondern man muss ihnen die Erlaubnis geben, Trauerarbeit, Aufarbeiten, so weit sie das möchte, damit sie gut alt werden kann.