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Verheugen

DLF: Bundesaußenminister Fischer hat im Januar vor dem Europäischen Parlament in Straßburg vier Schwerpunkte der deutschen EU-Ratspräsidentschaft genannt, nämlich: Erfolgreicher Abschluß der Verhandlungen über die Agenda 2000 bis Ende März, deutliche Fortschritte hin zu einer wirksamen Beschäftigungspolitik, EU-Osterweiterung schnellstmöglich voranbringen und Stärkung der außenpoliti-schen Handlungsfähigkeit der EU. Dann aber kam alles anders, wie wir wissen: Zunächst der Rücktritt der gesamten EU-Kommission, nachdem ihr nicht nur das Europäische Parlament, sondern auch unabhängige Experten Vetternwirtschaft und Mißmanagement bescheinigt hatten. Dann der NATO-Luftkrieg gegen Jugoslawien, an dem auch Deutschland aktiv beteiligt ist – und niemand redet eigentlich mehr über die Ziele der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, Herr Verheugen. Welche Zwischen-bilanz ziehen Sie jetzt, wenige Tage vor dem Kölner EU-Gipfel?

Wolfgang Labuhn |
    Verheugen: Sie haben recht, daß über die Ziele der deutschen EU-Präsidentschaft im Schatten der schweren Krise, in der wir uns befinden – im Schatten des Krieges –, wenig gesprochen wird, und ich bin dankbar, daß ich es mal sagen kann: Wir haben nämlich schon jetzt eine ganz ungewöhnlich erfolgreiche Präsidentschaft hinter uns, und am Ende unserer Präsidentschaft in wenigen Wochen werden wir eine sehr positive Bilanz ziehen können. Von den Punkten, die Sie genannt haben, werden alle positiv erledigt sein. Die Agenda 2000 ist bereits abgeschlossen, übrigens nicht nur als politische Entscheidung, sondern auch gesetzgeberisch. Sie ist bereits umgesetzt im Parlament, was überhaupt niemand erwartet hätte. Wir haben in die Osterweiterung der Europäischen Union eine neue stärkere Dynamik gebracht; wir verhandeln jetzt bereits über die Hälfte aller Verhandlungskapitel. Und es ist überhaupt eine neue Dynamik in den gesamten Prozeß gekommen. Wir haben die Krise der Kommission sehr schnell bewältigen können, indem ein überzeugender neuer Kommissionspräsident innerhalb von Tagen gefunden werden konnte und wir darüber Einigung erzielt haben. Und was die Außenpolitik angeht: Gerade hier – glaube ich – ist der größte Fortschritt zu verzeichnen. In der sehr schwierigen Kosovo-Krise hat die Europäische Union von Anfang an eine gemeinsame Position eingenommen, diese gemeinsame Position wird durchgehalten. Und es kommen aus der Europäischen Union ja die Initiativen und die Vorschläge, was die politischen und diplomatischen Bemühungen zur Beendigung des Krieges angeht, aber vor allen Dingen auch diejenigen, die sich mit der Frage beschäftigen, was man nach dem Krieg tut, um endlich eine langfristige Stabilisierung und einen langfristigen Frieden und gesicherte Verhältnisse in diesem Teil Europas zu erreichen.

    DLF: Wir werden darauf noch zu sprechen kommen, Herr Verheugen. Zunächst einmal eine Frage nach dem Kölner EU-Gipfeltreffen, das gewiß auch vom Kosovo-Konflikt überschattet sein wird: Welche Themen sollen dort im Mittelpunkt stehen?

    Verheugen: Also, die fünf vorgesehenen Themen sind: Beschäftigungspakt, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die institutionellen Reformen der Europäischen Union, europäische Grundrechtscharta und eine Rußlandstrategie. Das sind die vorgesehenen Themen. Die sind auch soweit vorbereitet, daß ich heute schon sagen kann: Wir werden alle fünf Themen zufriedenstellend abschließen können. Und dann wird aber der Gipfel selbstverständlich ausführlich reden müssen und wollen über die politische Lage, in der wir uns befinden. Das wird ein bißchen abhängig sein davon, wie am Donnerstag und Freitag sich die Friedensbemühungen darstellen, ob man einen Schritt weitergekommen ist oder nicht. Und dann ist auch eine Orientierungsdebatte notwendig über den weiteren Kurs, den die europäische Integration jetzt einschlagen soll. Der Krieg im Kosovo hat viele schreckliche Seiten und schreckliche Folgen, er hat aber auch politisch eine gute Wirkung hervorgebracht. Und diese gute Wirkung ist die, daß die politische und sicherheits-politische Dimension des europäischen Einigungsprozesses wieder viel, viel stärker hervortritt. Es ist ein starkes, neues Moment hinzugetreten. Wir sehen wieder viel schärfer, als es bisher der Fall war, um was es in Europa eigentlich geht, nämlich nicht um Rindfleischpreise und um Quoten für Paprika oder Einfuhr von Tomaten, sondern daß es in Europa um Frieden und um Demokratie, um Rechtsstaatlichkeit und um Prosperität für die Menschen geht. Da ist ein starker neuer Zug reingekommen, den wir jetzt nutzen sollten. Und deshalb muß in Köln ausführlich gesprochen werden, wie, wann und mit welchen Mitteln beispielsweise den Balkanvölkern die Perspektive zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union geboten wird. Hätten wir so eine Perspektive 1991 schon gehabt, wie sie jetzt in dem Stabilitätspakt sich abzeichnet, dann wäre vielleicht manches gar nicht passiert.

    DLF: Der Vertrag von Amsterdam, Herr Verheugen, sieht ein neues EU-Amt vor, nämlich den ‚Hohen Beauftragten für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik‘. Wäre ein Konflikt wie jetzt um das Kosovo eine Bewährungsprobe für den ‚Mister GASP‘, wie er ja populär genannt wird?

    Verheugen: Ohne Zweifel ja. Das ist auch die deutsche Auffassung, daß der Hohe Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik, der gleichzeitig der Generalsekretär des Rates sein wird, mehr sein soll, als ein Exekutivsekretär der Außenminister. Er soll wirklich eine gestaltende, eine führende Rolle in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik spielen. Deshalb braucht man personell eine überzeugende Lösung, und wir brauchen die Bereitschaft, insbesondere der großen Mitgliedsstaaten, dieses neue Amt auch wirksam werden zu lassen. Ich will ganz offen zugeben, daß ich noch nicht hundertprozentig davon überzeugt bin, daß das auch wirklich geschehen wird. Deshalb ist es meine Meinung, daß wir als das stärkste Land innerhalb der Europäischen Union auch eine besondere Verantwortung haben, dieses Amt wirksam werden zu lassen und denjenigen oder diejenige, der oder die das zu machen haben, auch wirklich uneingeschränkt zu unterstützen.

    DLF: Würde Sie selbst dieses Amt reizen?

    Verheugen: Nein, ich bin kein Kandidat für dieses Amt gewesen und will es auch nicht sein.

    DLF: Nun fällt Ihr Name allerdings im anderen Zusammenhang recht häufig, wenn es um die Personalien bei der neuzubildenden EU-Kommission unter dem designierten EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi geht. Fällt Ihr Name zu Recht?

    Verheugen: Ich finde, daß die Art und Weise, wie in den letzten Wochen bei uns diskutiert worden ist über die deutschen Vorschläge für die neue EU-Kommission, daß diese Art und Weise schädlich war und auch dem Geist der Europäischen Verträge widerspricht. Wir haben – jedenfalls im SPD-Teil der Regierung – eine klare Absprache. Die lautet, daß wir über Personalvorschläge im Zusammenhang mit der Kommission erst nach der Europawahl sprechen wollen. Daran habe ich mich strikt gehalten und werde mich auch weiterhin strikt daran halten. Deshalb ist alles, was zu diesem Thema gesagt und geschrieben wird, eine reine Spekulation. Im Augenblick kann man dazu nur soviel sagen, daß die Bundesrepublik Deutschland ja sehr deutlich im Zusammenhang mit der Krise der Kommission gesagt hat, daß bei der Besetzung der künftigen Kommission sehr strenge Maßstäbe angelegt werden müssen. Die Latte der Qualifikation wird ziemlich hoch liegen. Das ist auch notwendig, denn diese neue Kommission muß sehr viel verlorengegangenes Vertrauen zurückgewinnen, und sie muß wieder der eigentliche Motor der europäischen Integration werden. Und jetzt kommt ein Punkt, der mir sehr wichtig ist: Es scheint in der deutschen Öffentlichkeit ein Mißverständnis zu geben. Mitglieder der Kommission sind doch nicht Repräsentanten der Staaten, aus denen sie kommen. Es gibt nicht einen ‚deutschen‘ Vertreter in der EU-Kommission, sondern die Mitglieder der EU-Kommission sind allein dem Gedanken der Europäischen Union verpflichtet, und nichts sonst. Sie werden zwar von den Regierungen der Mitgliedsstaaten vorgeschlagen, aber sie sind nicht die Vertreter der Mitgliedsstaaten in der Europäischen Kommission. Das Mißverständnis müßte aus der deutschen Öffentlichkeit mal verschwinden.

    DLF: Klingt aus Ihren Worten Kritik am Verhalten Ihres bündnisgrünen Koalitions-partners in dieser Frage?

    Verheugen: Nein, so habe ich das nicht gemeint, weil auch die Grünen ja ganz bewußt darauf verzichtet haben, jetzt irgendeinen Vorschlag zu machen. Es ist Kritik an Einzelnen - im gesamten politischen Spektrum; es betrifft - leider - alle Parteien des Deutschen Bundestages. Einzelne haben Äußerungen gemacht, die die Spekulation angeheizt haben. Sie sind sinnlos. Wir sollten also in Ruhe die kurze Zeit noch abwarten, und dann wird man das entscheiden – auch vor dem Hintergrund dessen, was zum Beispiel Romano Prodi in der nächsten Woche den Teilnehmern am Europäischen Gipfel über seine Vorstellungen hinsichtlich der zukünftigen Arbeitsweise, Organisation und Aufgabenschwerpunkte der neuen Kommission zu sagen hat.

    DLF: Würden Sie dem Bundeskanzler eine Absage erteilen, wenn er Sie als EU-Kommissionsmitglied vorschlüge?

    Verheugen: Jetzt versuchen Sie es so herum. Ich habe doch schon gesagt, daß ich nichts tun werde, was die Spekulationen anheizt. Und dazu gehört dann auch, daß man sich weder zum Kandidaten noch zum Nichtkandidaten erklärt.

    DLF: Herr Verheugen, zurück zum europäischen Geschäft, das Sie als Staatsminister im Auswärtigen Amt zu betreiben haben. Sie haben im Oktober vergangenen Jahres als weiteres Ziel der deutschen EU-Ratspräsidentschaft genannt, den Prozeß der Heranführung der Türkei zu beschleunigen und mit mehr Substanz zu versehen. Was ist in dieser Hinsicht geschehen?

    Verheugen: Es gibt intensive Gespräche zu diesem Thema innerhalb der Europäischen Union mit unseren Partnern, und es gibt auch Gespräche mit der Türkei. Diese Gespräche haben ein sehr interessantes Stadium erreicht, sie sind aber vertraulich. Und es würde einen möglichen Erfolg gefährden, wenn ich jetzt in Einzelheiten gehen würde. Aber soviel kann man sagen, daß sich innerhalb der Europäischen Union ein Konsens dahingehend abzeichnet, daß man der Türkei sagt: ‚Ihr seid ein Kandidat wie jedes andere Land auch, das der Europäischen Union beitreten möchte. Ihr seid uns willkommen – und für Euch gelten dieselben Regeln, wie für alle anderen auch.‘ Es gibt keinen Bonus für die Türkei, weil sie ein strategisch so besonders wichtiges Land ist und ein so großes Land ist. Es gibt aber auch keinen Malus für die Türkei, weil sie einem anderen Kulturkreis angehört oder weil sie islamisch ist. Es gelten für die Aufnahme von Verhandlungen über den Beitritt die Maßstäbe, auf die sich die Europäische Union verständigt hat: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz. Auch bestimmte ökonomische Bedingungen – nicht zu vergessen – müssen erfüllt sein. Im Falle der Türkei werden die sogar noch eine immer wichtiger werdende Rolle spielen. Es ist Sache der Türkei, die entsprechenden Voraussetzungen zu erfüllen. Wenn die Türkei sagt: ‚Das würden wir ja tun, wenn wir sicher wären, daß die Europäische Union uns auch wirklich akzeptiert am Ende‘, dann muß die Antwort der Europäischen Union sein: ‚Jawohl, das werden wir tun‘. Also, hier muß Verläßlichkeit, Transparenz, auch ein Stück gegenseitiges Vertrauen erreicht sein. Aber ich muß schon sagen, daß Vertrauen in diesem sehr, sehr sensiblen Feld schon basieren muß auf nachprüfbaren politischen Leistungen. Erklärungen, die einfach so mal abgegeben werden, würden nicht ausreichen.

    DLF: In der Türkei bemüht sich gerade Bülent Ecevit – ein sehr erfahrener Politiker – um die Bildung einer neuen Regierung. Welche konkreten Signale erwarten Sie denn von ihm, um dem Genüge zu tun, was Sie als Mindestvoraussetzungen gerade umrissen haben?

    Verheugen: Ich glaube, daß Erwartungen an die Türkei geäußert werden sollen und müssen – ganz ohne Rücksicht darauf, welchen Stand die Diskussion über ihre europäische Integration erreicht hat, denn ganz unabhängig von dieser Frage der europäischen Integration sind wir ja an einer demokratischen, an einer stabilen und einer sich wirtschaftlich gut entwickelnden Türkei interessiert, aus einer ganzen Reihe von Gründen. Man müßte also wohl von der neuen türkischen Regierung erwarten, daß sie Initiativen entwickelt in alle drei Richtungen: In Richtung auf die volle Demokratisierung des Landes, in Richtung auf die Herstellung eines voll entwickelten rechtsstaatlichen Systems – einschließlich des Schutzes der Minderheiten und des Abbaues jeglicher Diskriminierung –, und schließlich braucht das Land auch eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die dazu beiträgt, die enormen sozialen Gegensätze, die es in diesem Land gibt, zu überwinden.

    DLF: Herr Verheugen, die Agenda 2000 sieht erste EU-Beitritte mittel- und osteuropäischer Staaten für das Jahr 2003 vor. Ist dieser Zeitplan eigentlich noch einzuhalten - angesichts des schleppenden Tempos der Beitrittsverhandlungen?

    Verheugen: Erstens: Es gibt kein Zieldatum für den Beitritt der ersten Kandidaten. Es stehen Mittel zur Verfügung für den Beitritt ab 2002. Ob das von einem der Kandidaten erreicht wird, läßt sich heute noch nicht sagen. Wir sollten ein Zieldatum auch wirklich erst dann festlegen, wenn wir mit Sicherheit sagen können, daß es erreichbar ist. Das ist im Augenblick noch nicht möglich. Zweitens, was das Tempo der Verhandlungen angeht, so ist es nicht schleppend, sondern es ist von uns deutlich erhöht worden. Es wird verhandelt über 31 Kapitel, und diese 31 Kapitel bilden zusammen immerhin 20.000 Rechtsakte. Und was viele nicht wissen: Diese 20.000 Rechtsakte müssen von einem beitretenden Land übernommen sein, bevor es beitritt – nicht erst danach. Die müssen dann bereits übernommen sein. Darüber wird also verhandelt. Die Hälfte all dieser Verhandlungskapitel befindet sich bereits im Verhandlungsprozeß, das haben wir sehr beschleunigt. Man muß aber realistischer weise sehen, daß die Verhandlungsteile, die noch nicht aufgerufen sind, die schwierigsten sein werden. Es kommen noch ungewöhnlich schwierige Probleme auf uns zu. Ich will nur das Thema ‚Umwelt‘ nennen: Wenn also die Beitrittsstaaten die Umweltstandards der Europäischen Union erfüllen werden, so wird ein ungeheurer Investitionsaufwand notwendig sein. Für mich bedeutet das, daß wir im Augenblick in bezug auf die Staaten, mit denen verhandelt wird, nichts anderes tun können, als unsere Bemühungen zu verstärken, sie fit zu machen, sie auch weiterhin zu beraten, die Heranführungsstrategie beizubehalten. Und bei denjenigen, mit denen noch nicht verhandelt wird, da geht es darum, ihnen zu helfen, die Voraussetzungen für den Verhandlungsbeginn zu erfüllen. Entscheidungen darüber werden in Köln aber nicht fallen. Köln ist kein Erweiterungsgipfel, sondern die Entscheidungen darüber werden am Ende dieses Jahres fallen in Helsinki auf der Grundlage der bis dahin erzielten Fortschritte.

    DLF: Herr Verheugen, all das, was wir bisher erörtert haben, steht – wie eingangs angedeutet – völlig im Schatten des Krieges um das Kosovo. Vermutlich wird auch der EU-Gipfel in Köln sich dem nicht entziehen können. Und da stellen sich doch einige Fragen. Die NATO fliegt seit über zwei Monaten mittlerweile tagtäglich Angriffe auf Ziele in der Bundesrepublik Jugoslawien. Auf der andern Seite kommen die diplomatischen Bemühungen um eine Beilegung dieses Konfliktes nicht weiter. Und es stellt sich auch die Frage, ob hier nicht eine neue Qualität des Völkerrechtes eingetreten ist, wenn die Anwendung militärischer Gewalt gegen Jugoslawien seitens der NATO ohne UNO-Mandat, dafür aber explizit zur Erzwingung einer menschenwürdigen Politik Belgrads im Kosovo - die verändert ja das Völkerrecht. Der Stärkere, in diesem Fall die NATO - wohl unter der Führung Washingtons - nimmt sich das Recht, moralische Ziele gewaltsam durchzusetzen. Welche Folgen hat das eigentlich für die künftige Lösung von Konflikten auf der Welt - und natürlich auch in Europa?

    Verheugen: Also, um vorne anzufangen: Man muß zugeben, daß die gewählte Strategie im Kosovo-Konflikt ihr Ziel noch nicht erreicht hat. Das bedeutet aber nicht, daß das Ziel nicht erreichbar wäre. Und bei Abwägung aller Umstände – auch der Fehler, die gemacht werden, die man nicht beschönigen sollte – bei Abwägung aller Umstände komme ich zu dem Ergebnis, daß die gewählte Strategie keine sinnvolle Alternative hat. Es gibt keine sinnvolle Alternative dazu. Die gewählte Strategie heißt, daß wir die politischen und diplomatischen Bemühungen zur Beilegung der Krise vorantreiben unter Einbeziehung aller, die dort einbezogen werden müssen, einschließlich auch der Vereinten Nationen. Zweitens, daß wir das humanitäre Elend lindern müssen, so gut wir es können. Und drittens, daß es bei einem beschränkten Einsatz der militärischen Mittel bleibt. Ich glaube, daß der Luftkrieg deshalb so lange dauert, weil wir von Anfang an gesagt haben, wir setzen nur beschränkte Mittel ein. Es sollen die eigenen Piloten - Soldaten - nicht in Gefahr gebracht werden, es sollen Schäden in der Zivilbevölkerung vermieden werden. Es sollen auch nicht die Lebensbedingungen für die Menschen verändert werden oder beschädigt werden, sondern es sollen Ziele ausgesucht werden, die entweder direkt militärischer Natur sind oder aber dazu dienen, den politischen und militärischen Macht- und Unterdrückungsapparat am Leben zu erhalten. So, dieser letzte Punkt ist der, der Schwierigkeiten macht - das weiß ich -, weil hier die Abgrenzung manchmal schwierig ist oder fast immer schwierig ist. Ein Kraftwerk ist ein Kraftwerk, und es versorgt eben nicht nur militärische Einrichtungen, sondern es versorgt eben auch zivile Einrichtungen. Aber ich komme nicht an der fundamentalen Frage vorbei: Wenn der militärische Druck aufgegeben wird – was die Folge ist. Und das sage ich Ihnen ganz genau, was die Folge ist: Dann wird es Frieden geben – ja –, aber zu den Bedingungen von Milosevic. Und das heißt, es wird die Vertreibung eines ganzen Volkes mitten in Europa akzeptiert, und es wird auf lange, lange Zeit niemanden mehr geben, der einem anderen, der einen ähnlichen Versuch macht, in den Arm fallen könnte.

    DLF: Also, auch keine NATO-Feuerpause?

    Verheugen: Ich halte das Argumentieren mit einer Feuerpause für verständlich, aber ich muß darauf hinweisen, daß eine Feuerpause mit Sicherheit von Milosevic benutzt werden würde für politische Manöver, die es schwermachen würden, das militärische Druckmittel dann noch weiter zu verwenden. Im übrigen ist es so, daß unsere wichtigsten Verbündeten diesem Vorschlag überhaupt nichts abgewinnen können, und ich würde sehr davon abraten, daß sich Deutschland aus der Loyalität und Solidarität im gemeinsamen Bündnis entfernt. Was die rechtliche Frage angeht, die Sie aufgeworfen haben: Dies ist wirklich eine sehr schwerwiegende Frage. Und man soll ja nicht Fragen mit einer Gegenfrage beantworten, aber ich muß eine Gegenfeststellung treffen: Die Gegenfeststellung ist die, daß die Konstruktion der Vereinten Nationen es im Augenblick nicht sicherstellt, daß sie zuverlässig die Entscheidungen treffen kann, die man braucht, um die zentralen Werte ihrer eigenen Charta zu verteidigen und zu sichern. Um was es im Kosovo geht, ist ja wirklich ein zentraler Wert der Charta. Das ist einer der Gründe, weshalb die Vereinten Nationen überhaupt entstanden sind, nämlich daß Vertreibungen dieser Art, die ja im Falle Kosovo sogar einen eindeutigen rassistischen Hintergrund haben, daß das nicht mehr geschehen darf. Der Sicherheitsrat war nicht entscheidungsfähig, er war blockiert. Und die weiterführende Frage, wie wir die UNO wieder handlungsfähig machen und zuverlässig handlungsfähig machen, ist eine der wichtigsten und ist auch aller Bemühungen wert.

    DLF: Eine Einrichtung der UNO immerhin, Herr Verheugen, nämlich das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag hat gehandelt: Es ist Anklage erhoben worden gegen Milosevic und andere führende serbische Politiker wegen der hunderttausendfachen Vertreibung von Kosovaren aus ihrer Heimat und wegen Mordes in 340 namentlich bekannten Fällen. Kommt Milosevic damit eigentlich überhaupt noch als Gesprächspartner des Westens, der demokratischen Nationen, bei der Suche nach einer Kosovo-Friedenslösung in Frage?

    Verheugen: Ich glaube, daß wir die Vereinbarungen über ein Ende der Gewalt mit demjenigen treffen müssen, der in Belgrad zu dem Zeitpunkt an der Macht ist, ganz egal, wer es ist. Wenn wir die Forderung erheben würden, daß in Belgrad erst ein Regimewechsel stattfinden muß, bevor der Krieg beendet werden kann, dann würden wir willentlich dazu beitragen, daß er ohne Not verlängert wird. Die nächste Frage ist: Kann das langfristige Stabilisierungskonzept für die ganze Region, das ja die Bundesrepublik Jugoslawien mit einbeziehen soll, kann das mit Milosevic realisiert werden? Dazu sage ich ein klares ‚Nein‘. Die Demokratisierung Serbiens, also der Bundesrepublik Jugoslawien, ist ein ganz zentraler Punkt für die Stabilität des ganzen Raumes. Und das setzt eben voraus, daß eine demokratische Regierung in Belgrad an der Macht ist, und nicht mehr Milosevic. Was das Kriegsverbrechertribunal angeht, so glaube ich, daß die langfristigen Wirkungen dieser Anklage positiv sein werden, denn das ist immer ein klares Signal an jeden Kriminellen in Regierungspalästen, daß die Zeiten vorbei sind, wo man so etwas ohne Gefahr für die eigene Sicherheit tun konnte.