Dirk Müller: Frustration, Ratlosigkeit, Wut, Perspektivlosigkeit, Chaos. Alles Begriffe, die die momentane Verfassung des Projekts Europa zu beschreiben versuchen. Das Nein zum neuen EU-Vertragswerk hat nicht nur die Europäischen Institutionen, die nationalen Regierungen in eine tiefe Krise gestürzt, sondern auch die Idee vom einem vereinigten Europa als eine politische Union. Es ist also das Große, das im Moment wankt, da zanken sich die Regierungschefs bereits wieder ums kleine - der Haushalt der Kommission ist der Streitpunkt. Die Deutschen wollen weniger zahlen, die Briten ihre Privilegien behalten, und die Franzosen bestehen auf ihre Agrarsubventionen. Ab morgen ist Gipfeltreffen in Brüssel und die Politiker wissen gar nicht so genau, womit sie denn anfangen sollen. In Brüssel sind wir nun verbunden mit EU-Kommissar Günter Verheugen. Guten Morgen.
Günter Verheugen: Guten Morgen.
Müller: Herr Verheugen, sind viele Regierungschefs gar keine Europäer?
Verheugen: Sie sind Europäer und die Auseinandersetzung um die finanzielle Vorausschau ist völlig normal. Wir haben das zum Glück nur alle sieben Jahre. Und beim Geld hört überall die Gemütlichkeit auf. Alle wissen aber, dass sie unter einem sehr starken Einigungszwang stehen. Wenn es diesmal nicht gelingen sollte, sich zu verständigen, wird das die Krise, von der Sie gesprochen haben, ja nur verschärfen. Und ich glaube, dass das einen heilsamen Zwang auslöst. Und ich bin nicht ganz so pessimistisch wie viele Beobachter, dass wir keine Lösung finden werden.
Müller: Sie meinen jetzt für den Haushalt?
Verheugen: Ja.
Müller: Sie haben schon viele Haushaltsberatungen verfolgt. Viele Experten von außen, die das auch schon seit Jahren beobachten, sagen, so eng wie jetzt ist das noch nie gewesen.
Verheugen: Das kann ich überhaupt nicht bestätigen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die letzte große Auseinandersetzung dieser Art, in Berlin 1999. Da waren wir übrigens nur neun Monate vor Beginn der Finanzperiode, jetzt liegen wir immer noch 18 Monate vor Beginn der neuen Finanzperiode. Es müssen sich alle etwas bewegen. Auf dem Tisch liegt ein Vorschlag der Kommission und wenn man zu einer Einigung kommen will, heißt es dass jeder von seiner Positionen etwas runter muss. Die großen Nettozahler können nicht so stark entlastet werden, wie sie wollen. Die Briten werden ihren Rabatt nicht so verteidigen können, wie er heute ist. Die Franzosen werden auch nicht darauf bestehen können, dass gar nichts passiert bei der Landwirtschaftspolitik. Die Spanier werden nicht darauf bestehen können, dass sie alles behalten, was sie bisher aus dem Gemeinschaftshaushalt bekommen. Wenn man dazu nicht bereit ist, dann wir es allerdings schwierig. Aber ich sage noch einmal, mein Eindruck ist, es bewegt sich aufeinander zu.
Müller: Morgen früh, ihre ersten Gespräche, bevor es dann richtig an die Tagesordnung geht, drehen sich in erster Linie um die Verfassung?
Verheugen: Ich selber habe mit diesem Gipfel gar nichts zu tun. Ich werde noch nicht einmal in Brüssel sein. Nach dem Ablauf, den ich kenne, ist es so geplant, dass morgen zuerst über die Frage gesprochen werden soll, wie es nun mit der Europäischen Verfassung weitergehen soll, und dann erst am Freitag die Finanzberatungen beginnen. Das ist auch ein richtiger Ablauf, denn ich glaube, man muss sich zunächst einmal darüber verständigen, was jetzt eigentlich der Weg aus der Krise ist, in die wir geraten sind. Hier ist nun wirklich von den Staats- und Regierungschefs eine klare Orientierung verlangt. Und in meinen Augen ist das allerwichtigste, dass man das Projekt dieser Verfassung nicht so einfach aufgibt, sondern einen Weg findet, wie es Unterstützung und Zustimmung in der europäischen Öffentlichkeit finden kann.
Müller: Haben Sie eine Idee wie?
Verheugen: Zunächst einmal rein technisch, es hat sich ja gezeigt, sowohl in Frankreich wie auch in den Niederlanden, dass die Menschen eigentlich nicht gegen die Inhalte der Verfassung etwas hatten. Das wäre ja geradezu absurd, wenn man im Namen der Demokratie demokratische Verbesserungen ablehnt. Die drei wesentlichen Punkte dieses Projektes sind ja: mehr Demokratie, eine klarere und bessere Verteilung der Aufgaben zwischen Europa und den Mitgliedsländern, bessere Entscheidungsverfahren und die Instrumente, um Europa international mehr Gewicht zu geben. Ich kann nicht feststellen, dass irgend jemand in Europa dagegen etwas hat. Also muss man versuchen, darüber miteinander zu reden, die Bürgerinnen und Bürger stärker einzubeziehen in dieses Gespräch und dann zum richtigen Zeitpunkt die Frage zu stellen. Also Schlussfolgerung: Man soll hier nicht mit dem Kopf durch die Wand. Und wenn ein Mitgliedsland oder auch mehrere mehr Zeit brauchen, um diesen intensiven Dialog mit der Öffentlichkeit zu führen, dann sollte man ihnen diese Zeit geben.
Müller: Intensive Dialoge, Auseinandersetzungen, Transparenz mit Blick auf die Öffentlichkeit ist ein Wesen der Demokratie. Das ist auch immer eine Forderung der Europäischen Union gewesen. Warum hat man das offenbar in den vergangenen Jahren verschlafen?
Verheugen: Es könnte sein, dass vielleicht doch unterschätzt worden ist, dass es eine tiefer sitzende Unzufriedenheit gibt oder eine Unsicherheit, möchte ich fast sagen. Europa macht immer mehr. Der Einfluss europäischer Entscheidungen auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger wird immer stärker. Diese haben aber offenkundig das Gefühl, dass man das nicht richtig durchschauen kann und dass sie das nicht beeinflussen können. Und man muss eines ganz deutlich sagen, die Forderung nach Einfachheit ist einfach naiv im Bezug auf Europa. Ein System kann nicht einfach sein, indem es darum geht, dass die Interessen von 25 souveränen Mitgliedstaaten bei jeder einzelnen Entscheidung in Übereinstimmung gebracht werden. Das kann leider nicht einfach sein.
Müller: Es sind ja, Herr Verheugen, auch sehr viele dafür - offenbar auch nach aktuellen Umfragen wieder bestätigt - dass Europa immer größer wird. Warum wird denn Europa immer größer?
Verheugen: Das ist eine sehr, sehr komplizierte Frage. Die Gegenfrage wäre zum Beispiel... jetzt bin ich erstaunt über das, was sie gesagt haben. Sie wollten sicher sagen, die Europäische Union wird immer größer. Europa ist ja nicht die Europäische Union. Es wird ja wohl niemand im Ernst behaupten, dass die Russen keine Europäer sind oder die Ukrainer.
Müller: Die Europäische Union, ich korrigiere.
Verheugen: Also was wächst, ist die Europäische Union und hier muss die Gegenfrage erlaubt sein: Aus welchem Grunde sollten die Deutschen, die Portugiesen und die Iren das Recht haben, dabei zu sein, die Polen, die Tschechen oder die Rumänen aber nicht? Das müsste mir mal jemand erklären. Die Völker in Ost- und Mitteleuropa sind deshalb an der Europäischen Integration nicht beteiligt gewesen, weil sie als Ergebnis des von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkrieges hinter dem eisernen Vorhang leben mussten. Und das muss man in Deutschland immer wieder sehr deutlich sagen. Mich ärgert diese Diskussion in Deutschland schon sehr, weil sie die besondere historische Verantwortung unseres Landes vollkommen verkennt. Im Übrigen ist es so, dass die Erweiterung der Europäischen Union die Union stärkt. Sie macht sie politisch stärker. Sie sorgt für Stabilität in einem Raum, in dem sonst ein politisches Vakuum herrschen würde und das Risiko von Anarchie und Konflikten. Und sie macht uns wirtschaftlich stärker, weil ja Gegenden, Regionen integriert werden mit einem ganz hohem und schnellen Wachstum. Anders als man in Deutschland glaubt, ist es ja so, dass das Wachstum und die Arbeitsplätze in Deutschland positiv beeinflusst werden. Von der Erweiterung entsteht mehr Wachstum und mehr Arbeit.
Müller: Das ist aber schwierig zu verstehen, Herr Verheugen, vor dem Hintergrund unserer wirtschaftlichen Situation.
Verheugen: Das ist gar nicht schwierig zu verstehen. Sie müssen sich nur die Zahlen ansehen. Deutschland exportiert in all die neuen Mitgliedsländer wesentlich mehr, als die neuen Mitgliedsländer nach Deutschland importieren. Der Unterschied drückt sich aus im zusätzlichen Wachstum und den zusätzlichen Arbeitsplätzen. Deutschland ist der größte Nutznießer diese Erweiterung. Es gibt kein einziges wirtschaftswissenschaftliches Institut in Deutschland, das das bestreitet und auch kein ernsthaftes Medium. Und ich muss von der deutschen Politik erwarten, dass sie die Menschen in Deutschland über die wirklichen Tatbestände aufklärt. Wenn hier der Eindruck entsteht, diese Erweiterung sei ein wirtschaftlicher Schaden gewesen, dann ist das natürlich ein Problem für die Europäische Idee. Es ist aber das Gegenteil richtig, es ist ein großer Vorteil und es bleibt auch ein großer Vorteil.
Müller: Herr Verheugen, das bedeutet, wenn ich Sie richtig verstanden habe, diejenigen Bürger, die da sagen, uns geht das in die falsche Richtung - erstens ist es für uns zu groß oder es wird uns zu groß und es geht alles viel zu schnell - die haben Europa gar nicht verstanden?
Verheugen: Also das Argument "es geht zu schnell" ist doch absurd. Erinnern Sie sich daran, wann der eiserne Vorhang fiel. Das war im Jahre 1989. Das ist jetzt fast 16 Jahre her. Und von diesem Tag an läuft der Prozess der Erweiterung der Europäischen Union, weil von dem Tag an die Menschen in diesen Ländern das wollten. Wenn Sie das einen Augenblick mal aus der Sicht eines Polen, eines Tschechen oder eines Ungar betrachten, würde man nicht auf die Idee kommen und sagen, das ging zu schnell.
Müller: Und wirtschaftlich müssen die Staaten nicht so weit sein, dass sie passen?
Verheugen: Das war doch auch vorher nicht der Fall. Als die Spanier, die Portugiesen, die Iren und die Griechen beigetreten sind, war der Unterschied zur übrigen Union genauso groß. Es gibt diese ernormen Unterschiede auch innerhalb der Europäischen Union. Das ist nicht das Problem. Es gelten die gleichen Regeln für alle. Es gibt hohe Wachstumsraten für die neuen Mitglieder. Diese hohen Wachstumsraten führen zu einer hohen inländischen Nachfrage in diesen Ländern und diese hohe Nachfrage wird am stärksten bedient von der größten Exportnation Europas, und die heißt Deutschland.
Müller: Günter Verheugen war das, EU-Kommissar in Brüssel. Vielen Dank für das Gespräch.
Günter Verheugen: Guten Morgen.
Müller: Herr Verheugen, sind viele Regierungschefs gar keine Europäer?
Verheugen: Sie sind Europäer und die Auseinandersetzung um die finanzielle Vorausschau ist völlig normal. Wir haben das zum Glück nur alle sieben Jahre. Und beim Geld hört überall die Gemütlichkeit auf. Alle wissen aber, dass sie unter einem sehr starken Einigungszwang stehen. Wenn es diesmal nicht gelingen sollte, sich zu verständigen, wird das die Krise, von der Sie gesprochen haben, ja nur verschärfen. Und ich glaube, dass das einen heilsamen Zwang auslöst. Und ich bin nicht ganz so pessimistisch wie viele Beobachter, dass wir keine Lösung finden werden.
Müller: Sie meinen jetzt für den Haushalt?
Verheugen: Ja.
Müller: Sie haben schon viele Haushaltsberatungen verfolgt. Viele Experten von außen, die das auch schon seit Jahren beobachten, sagen, so eng wie jetzt ist das noch nie gewesen.
Verheugen: Das kann ich überhaupt nicht bestätigen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die letzte große Auseinandersetzung dieser Art, in Berlin 1999. Da waren wir übrigens nur neun Monate vor Beginn der Finanzperiode, jetzt liegen wir immer noch 18 Monate vor Beginn der neuen Finanzperiode. Es müssen sich alle etwas bewegen. Auf dem Tisch liegt ein Vorschlag der Kommission und wenn man zu einer Einigung kommen will, heißt es dass jeder von seiner Positionen etwas runter muss. Die großen Nettozahler können nicht so stark entlastet werden, wie sie wollen. Die Briten werden ihren Rabatt nicht so verteidigen können, wie er heute ist. Die Franzosen werden auch nicht darauf bestehen können, dass gar nichts passiert bei der Landwirtschaftspolitik. Die Spanier werden nicht darauf bestehen können, dass sie alles behalten, was sie bisher aus dem Gemeinschaftshaushalt bekommen. Wenn man dazu nicht bereit ist, dann wir es allerdings schwierig. Aber ich sage noch einmal, mein Eindruck ist, es bewegt sich aufeinander zu.
Müller: Morgen früh, ihre ersten Gespräche, bevor es dann richtig an die Tagesordnung geht, drehen sich in erster Linie um die Verfassung?
Verheugen: Ich selber habe mit diesem Gipfel gar nichts zu tun. Ich werde noch nicht einmal in Brüssel sein. Nach dem Ablauf, den ich kenne, ist es so geplant, dass morgen zuerst über die Frage gesprochen werden soll, wie es nun mit der Europäischen Verfassung weitergehen soll, und dann erst am Freitag die Finanzberatungen beginnen. Das ist auch ein richtiger Ablauf, denn ich glaube, man muss sich zunächst einmal darüber verständigen, was jetzt eigentlich der Weg aus der Krise ist, in die wir geraten sind. Hier ist nun wirklich von den Staats- und Regierungschefs eine klare Orientierung verlangt. Und in meinen Augen ist das allerwichtigste, dass man das Projekt dieser Verfassung nicht so einfach aufgibt, sondern einen Weg findet, wie es Unterstützung und Zustimmung in der europäischen Öffentlichkeit finden kann.
Müller: Haben Sie eine Idee wie?
Verheugen: Zunächst einmal rein technisch, es hat sich ja gezeigt, sowohl in Frankreich wie auch in den Niederlanden, dass die Menschen eigentlich nicht gegen die Inhalte der Verfassung etwas hatten. Das wäre ja geradezu absurd, wenn man im Namen der Demokratie demokratische Verbesserungen ablehnt. Die drei wesentlichen Punkte dieses Projektes sind ja: mehr Demokratie, eine klarere und bessere Verteilung der Aufgaben zwischen Europa und den Mitgliedsländern, bessere Entscheidungsverfahren und die Instrumente, um Europa international mehr Gewicht zu geben. Ich kann nicht feststellen, dass irgend jemand in Europa dagegen etwas hat. Also muss man versuchen, darüber miteinander zu reden, die Bürgerinnen und Bürger stärker einzubeziehen in dieses Gespräch und dann zum richtigen Zeitpunkt die Frage zu stellen. Also Schlussfolgerung: Man soll hier nicht mit dem Kopf durch die Wand. Und wenn ein Mitgliedsland oder auch mehrere mehr Zeit brauchen, um diesen intensiven Dialog mit der Öffentlichkeit zu führen, dann sollte man ihnen diese Zeit geben.
Müller: Intensive Dialoge, Auseinandersetzungen, Transparenz mit Blick auf die Öffentlichkeit ist ein Wesen der Demokratie. Das ist auch immer eine Forderung der Europäischen Union gewesen. Warum hat man das offenbar in den vergangenen Jahren verschlafen?
Verheugen: Es könnte sein, dass vielleicht doch unterschätzt worden ist, dass es eine tiefer sitzende Unzufriedenheit gibt oder eine Unsicherheit, möchte ich fast sagen. Europa macht immer mehr. Der Einfluss europäischer Entscheidungen auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger wird immer stärker. Diese haben aber offenkundig das Gefühl, dass man das nicht richtig durchschauen kann und dass sie das nicht beeinflussen können. Und man muss eines ganz deutlich sagen, die Forderung nach Einfachheit ist einfach naiv im Bezug auf Europa. Ein System kann nicht einfach sein, indem es darum geht, dass die Interessen von 25 souveränen Mitgliedstaaten bei jeder einzelnen Entscheidung in Übereinstimmung gebracht werden. Das kann leider nicht einfach sein.
Müller: Es sind ja, Herr Verheugen, auch sehr viele dafür - offenbar auch nach aktuellen Umfragen wieder bestätigt - dass Europa immer größer wird. Warum wird denn Europa immer größer?
Verheugen: Das ist eine sehr, sehr komplizierte Frage. Die Gegenfrage wäre zum Beispiel... jetzt bin ich erstaunt über das, was sie gesagt haben. Sie wollten sicher sagen, die Europäische Union wird immer größer. Europa ist ja nicht die Europäische Union. Es wird ja wohl niemand im Ernst behaupten, dass die Russen keine Europäer sind oder die Ukrainer.
Müller: Die Europäische Union, ich korrigiere.
Verheugen: Also was wächst, ist die Europäische Union und hier muss die Gegenfrage erlaubt sein: Aus welchem Grunde sollten die Deutschen, die Portugiesen und die Iren das Recht haben, dabei zu sein, die Polen, die Tschechen oder die Rumänen aber nicht? Das müsste mir mal jemand erklären. Die Völker in Ost- und Mitteleuropa sind deshalb an der Europäischen Integration nicht beteiligt gewesen, weil sie als Ergebnis des von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkrieges hinter dem eisernen Vorhang leben mussten. Und das muss man in Deutschland immer wieder sehr deutlich sagen. Mich ärgert diese Diskussion in Deutschland schon sehr, weil sie die besondere historische Verantwortung unseres Landes vollkommen verkennt. Im Übrigen ist es so, dass die Erweiterung der Europäischen Union die Union stärkt. Sie macht sie politisch stärker. Sie sorgt für Stabilität in einem Raum, in dem sonst ein politisches Vakuum herrschen würde und das Risiko von Anarchie und Konflikten. Und sie macht uns wirtschaftlich stärker, weil ja Gegenden, Regionen integriert werden mit einem ganz hohem und schnellen Wachstum. Anders als man in Deutschland glaubt, ist es ja so, dass das Wachstum und die Arbeitsplätze in Deutschland positiv beeinflusst werden. Von der Erweiterung entsteht mehr Wachstum und mehr Arbeit.
Müller: Das ist aber schwierig zu verstehen, Herr Verheugen, vor dem Hintergrund unserer wirtschaftlichen Situation.
Verheugen: Das ist gar nicht schwierig zu verstehen. Sie müssen sich nur die Zahlen ansehen. Deutschland exportiert in all die neuen Mitgliedsländer wesentlich mehr, als die neuen Mitgliedsländer nach Deutschland importieren. Der Unterschied drückt sich aus im zusätzlichen Wachstum und den zusätzlichen Arbeitsplätzen. Deutschland ist der größte Nutznießer diese Erweiterung. Es gibt kein einziges wirtschaftswissenschaftliches Institut in Deutschland, das das bestreitet und auch kein ernsthaftes Medium. Und ich muss von der deutschen Politik erwarten, dass sie die Menschen in Deutschland über die wirklichen Tatbestände aufklärt. Wenn hier der Eindruck entsteht, diese Erweiterung sei ein wirtschaftlicher Schaden gewesen, dann ist das natürlich ein Problem für die Europäische Idee. Es ist aber das Gegenteil richtig, es ist ein großer Vorteil und es bleibt auch ein großer Vorteil.
Müller: Herr Verheugen, das bedeutet, wenn ich Sie richtig verstanden habe, diejenigen Bürger, die da sagen, uns geht das in die falsche Richtung - erstens ist es für uns zu groß oder es wird uns zu groß und es geht alles viel zu schnell - die haben Europa gar nicht verstanden?
Verheugen: Also das Argument "es geht zu schnell" ist doch absurd. Erinnern Sie sich daran, wann der eiserne Vorhang fiel. Das war im Jahre 1989. Das ist jetzt fast 16 Jahre her. Und von diesem Tag an läuft der Prozess der Erweiterung der Europäischen Union, weil von dem Tag an die Menschen in diesen Ländern das wollten. Wenn Sie das einen Augenblick mal aus der Sicht eines Polen, eines Tschechen oder eines Ungar betrachten, würde man nicht auf die Idee kommen und sagen, das ging zu schnell.
Müller: Und wirtschaftlich müssen die Staaten nicht so weit sein, dass sie passen?
Verheugen: Das war doch auch vorher nicht der Fall. Als die Spanier, die Portugiesen, die Iren und die Griechen beigetreten sind, war der Unterschied zur übrigen Union genauso groß. Es gibt diese ernormen Unterschiede auch innerhalb der Europäischen Union. Das ist nicht das Problem. Es gelten die gleichen Regeln für alle. Es gibt hohe Wachstumsraten für die neuen Mitglieder. Diese hohen Wachstumsraten führen zu einer hohen inländischen Nachfrage in diesen Ländern und diese hohe Nachfrage wird am stärksten bedient von der größten Exportnation Europas, und die heißt Deutschland.
Müller: Günter Verheugen war das, EU-Kommissar in Brüssel. Vielen Dank für das Gespräch.