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Verheugen lobt Reformen der Türkei

Simon: In die Diskussion um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist wieder Fahrt gekommen. Die Fairness gebiete es, dass die Türkei nicht strengeren Bedingungen als andere unterworfen werde, befand eine unabhängige Expertengruppe europäischer Politiker unter Leitung des früheren finnischen Ministerpräsidenten Ahtisaari. In dem Bericht heißt es auch: Wenn die Türkei die politischen Kriterien erfülle, werde ein weiterer Aufschub der Verhandlungen die Glaubwürdigkeit der EU beschädigen. Der zuständige europäische Kommissar für die EU-Erweiterung, Günter Verheugen, ist auf seiner letzten Sondierungsreise in der Türkei unterwegs, bevor die Kommission am 6. Oktober ihre Bewertung abgibt, ob die Türkei die Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erfüllt. Und jetzt ist Günter Verheugen am Telefon im osttürkischen Diyerbakir. Guten Morgen.

Moderation: Doris Simon |
    Verheugen: Guten Morgen.

    Simon: Herr Verheugen, was hat sich in Sachen Beitrittskriterien verändert seit Ihrem letzten Besuch?

    Verheugen: Wir sehen weitere entschlossene Fortschritte in der Türkei. Die türkische Regierung unter Ministerpräsident Erdogan drückt ein Reformpaket nach dem anderen durch das Parlament und das Land verändert sich in einem bisher nie gekannten Tempo und niemand auf der ganzen Welt leugnet das. Das muss anerkannt werden, das wird anerkannt werden. Die Frage, die für mich im Augenblick die wichtigste ist, ist die: Wie tief gehen die Reformen in der Türkei, wie sehr werden sie von der Gesellschaft aufgenommen und wie sehr werden sie von allen Teilen des türkischen Staats- und Machtapparates auch wirklich umgesetzt?

    Simon: Können Sie das als Besucher für ein paar Tage wirklich feststellen?

    Verheugen: Nein, das kann ich natürlich nicht. Ich stütze mich bei dem endgültigen Urteil auf die Mithilfe von hunderten von Fachleuten. Wir benutzen alle verfügbaren Informationsquellen. Trotzdem glaube ich ist es wichtig, dass ich mir ein Bild von der Lage an Ort und Stelle vermittle. Ich muss zumindest mit den Betroffenen gesprochen haben und wir haben ein Programm, das es mir erlaubt, Dutzende von Menschenrechtsorganisationen, Dutzende von Organisationen der türkischen Zivilgesellschaft zu treffen und von deren Repräsentanten Auskunft zu erhalten. Gestern Abend habe ich hier in Diyerbakir auch Leyla Sana getroffen, die Freiheitsheldin des kurdischen Volkes, die zehn Jahre im Gefängnis gesessen hat und als Teil, als Ergebnis der von uns verlangten Politik ihre Freiheit wieder gefunden hat.

    Simon: Herr Verheugen, Sie sprachen an, die jetzige Regierung unter Tayyip Erdogan drückt die Reformen wirklich schnell durch. Aber ist es jetzt nicht noch eigentlich zu früh, um überhaupt zu beurteilen, wie weit das greift? So etwas braucht doch normalerweise Jahre.

    Verheugen: Wir haben ja mit dieser Vorbeitrittsstrategie gegenüber der Türkei vor fünf Jahren begonnen, wie bewerten jetzt einen Zeitraum von fünf Jahren. Sie haben vollkommen Recht dass es verwegen wäre zu glauben, dass jetzt ein abschließendes Urteil möglich ist. Aber es ist ja so, dass wir bestimmte Methoden entwickelt haben, wie wir diese Frage bewerten. Und ich will hier dieselben Methoden anwenden, wie bei den anderen Beitrittskandidaten auch. Zu dem Zeitpunkt als beispielsweise für Rumänien, Bugarien oder die Slowakei entschieden worden ist, dass sie Beitrittskandidaten sind, konnte auch überhaupt keine Rede davon sein, dass alle notwendigen Reformen in allen Landesteilen und allen Teilen der Gesellschaft und des Staates bereits vollkommen verwirklicht waren. Also bei dieser Frage der Umsetzung der Reformen geht es darum, den Trend zu sehen, um zu erkennen, wie stark dieser Trend ist und ob er glaubwürdig ist.

    Simon: Sie sagten es vorhin, Sie sind in Diyerbakir im Südosten der Türkei. Nach Ihren Gesprächen dort, hat sich die Situation nicht nur der Kurden auch der wenigen aramäischen Christen so verbessert dass sie sagen können, ja, das ist jetzt EU-gerecht?

    Verheugen: Also was die Kurden angeht ist der Eindruck, den ich aus den Gesprächen gestern gewonnen habe - aber das setzt sich ja heute noch fort - der, dass es schon fast zu viele Hoffnungen und Erwartungen auf eine Zukunft in der Europäischen Union gesetzt werden. Hier gibt es eine hundertprozentige Unterstützung für die Politik der europäischen Integration. Ich habe niemanden getroffen, der nicht gesagt hätte, es wäre für uns ein schwerer und gefährlicher Rückschlag, wenn jetzt nicht das Datum für den Beginn der Verhandlungen festgelegt würde. Was die christlichen Minderheiten angeht, so werde ich am Donnerstag in Istanbul eine Begegnung haben mit sämtlichen Führern der christlichen Kirchen hier in der Türkei und das wird mir einen wertvollen Hinweis darauf geben, wie hier die Lage ist. Ich habe aber gestern schon dem türkischen Ministerpräsidenten meine Sorgen noch einmal vorgetragen, dass in Bezug auf die Religionsfreiheit auch die gesetzgeberische Aktivität der Regierung zu wünschen übrig lässt.

    Simon: Gehen Sie davon aus, dass dort nachgebessert wird?

    Verheugen: Ja, davon gehe ich aus.

    Simon: Das klingt ein wenig, wenn Sie das so sagen, als ob Sie das nur für eine Formalie halten, dass für Beitrittsverhandlungen gestimmt wird. Ist das so?

    Verheugen: Nein, ganz bestimmt nicht. Das wird eine sehr, sehr schwierige und wohl auch kontroverse Entscheidung. Ich bin mit meinem abschließenden Urteil überhaupt noch nicht fertig. Das wundert mich ein bisschen über bestimmte Beiträge, die im Augenblick geleistet werden. Die Kommission arbeitet im Augenblick sehr intensiv daran, den abschließenden Fortschrittsbericht fertig zu stellen und mit der Formulierung der Empfehlungen haben wir noch nicht einmal angefangen, weil ich natürlich das Ergebnis dieser Reise noch verarbeiten will, aber weil ich auch Beiträge aus vielen anderen Teilen der türkischen Gesellschaft und der internationalen Öffentlichkeit noch einbeziehen will.

    Simon: Herr Verheugen, Sie wissen es selber am allerbesten, egal wie sachlich man daran geht, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, das ist ein hochemotionales Thema und das gilt auch für Ihre Politikerkollegen. Zum Beispiel hat Ihr Kommissionskollege Frits Bolkestein aus den Niederlanden gesagt - und er ist da nur einer von vielen: Mit Eintritt der Türkei müsse man eine Veränderung der EU-Identität fürchten, dann müsse man auch die Ukraine und Weißrussland akzeptieren. Ist das so?

    Verheugen: Also einen solchen Mechanismus sehe ich nicht, aber richtig ist natürlich, dass alle europäischen Nationen, die das wollen, einen Beitrittsantrag stellen können und der wird dann genauso behandelt, wie alle anderen auch. Aber davon sind wir weit entfernt und der Fall Türkei wird von den Mitgliedsländern ja etwas anders betrachtet. Zunächst einmal ist die Türkei der älteste Partner der europäischen Union überhaupt, sie ist seit 40 Jahre assoziiertes Mitglied, sie hat seit 40 Jahren eine Beitrittsperspektive, sie hat eine enorme politische und strategische Bedeutung für die Europäische Union, die noch größer geworden ist seit dem 11. September 2001 in New York. Man muss ja nur auf die Landkarte schauen um zu sehen, wie wichtig die Türkei für unsere Zukunft und für unsere Sicherheit ist. Mein Eindruck ist, dass bei den Mitgliedsländern diese strategischen und geopolitischen Überlegungen sehr stark in den Vordergrund getreten sind, während die integrationspolitischen Bedenken, die selbstverständlich jeder haben kann, die ich sehr gut verstehe, demgegenüber etwas zurücktreten. Natürlich würde eine Mitgliedschaft der Türkei, die ja nicht unmittelbar bevorsteht, sondern wir reden jetzt über etwas, was vielleicht in zehn oder noch mehr Jahren passieren könnte, würde den Charakter der Europäischen Union noch einmal verändern, wie jetzt der Beitritt der Zehn ihn bereits wesentlich verändert hat. Aber das spiegelt nun einmal die europäischen Realitäten wieder. Ich kann das nicht für einen Fortschritt halten, zu sagen: Unabhängig davon wie die Welt sich verändert, unser kuscheliges Europa bleibt so, wie es ist.

    Simon: Das heißt wenn ich Sie richtig verstehe, die veränderte Weltlage könnte dazu führen, dass auch die EU, die Mitgliedsländer der EU eines Tages sagen: Es ist wirklich nicht nur eine Notwendigkeit, die Einlösung eines alten Versprechens, dass wir die Türkei aufnehmen, sondern ein Gewinn?

    Verheugen: Die Mitgliedsländer sagen das bereits. Also die öffentliche Diskussion weigert sich ja zur Kenntnis zu nehmen, dass die Mitgliedsstaaten längst beschlossen haben, dass die Türkei Mitglied werden kann. Die Frage, die jetzt zu erörtern ist, ist nicht die Grundsatzfrage, sondern die Frage, die jetzt erörtert wird ist, ob sie schon jetzt die politischen Voraussetzungen für die Aufnahme von Verhandlungen erfüllt.

    Simon: Herr Verheugen, das ist dann jetzt nicht mehr ihr Gebiet, aber wann sollte angefangen werden mit der Vermittlung bei den normalen Bürgern, dass die Türkei Mitgliedsland werden könnte?

    Verheugen: Das hätte schon längst geschehen müssen und ich bin froh darüber, dass in der Bundesrepublik Deutschland diese Diskussion sehr früh begonnen hat und hier die Positionen ja auch sehr klar sind. Aber es gibt eine ganze Reihe von Mitgliedsländern, in denen das Thema ausgeblendet wird und das wird Schwierigkeiten geben. Das ist nun wirklich keine Entscheidung, die man ohne vollständige Information und vollständige Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger machen kann. Da ist viel, viel Aufklärung und sehr viel Dialog notwendig.

    Simon: Das war EU-Kommissar Günter Verheugen, zuständig für die Erweiterung, zur Zeit in Diyerbakir im Südosten der Türkei. Vielen Dank für das Gespräch Herr Verheugen. Auf Wiederhören!

    Verheugen: Wiederhören.