Archiv

Verkehr
Per App Mobilität organisieren

Die Wahl eines Verkehrsmittels entscheidet sich zunehmend auf den Monitoren von Smartphones. Welche Chancen und Risiken damit verbunden sind, beleuchten Weert Canzler und Andreas Knie in ihrem Buch "Die digitale Mobilitätsrevolution – Vom Ende des Verkehrs, wie wir ihn kannten".

Von Mirko Smiljanic |
    "Die digitale Mobilitätsrevolution" ist ein dünner Band: 130 Seiten hat er, gedruckt in einem Format kleiner als DIN A5. Geübte Leser erschließen sich den Text während einer Fahrt mit der U7 von Rathaus Spandau nach Berlin-Rudow oder im ICE von Frankfurt nach Köln; sich im Auto das E-Book vorlesen zu lassen, dauert etwas länger. In jedem der beschriebenen Fälle befinden sich Leser und Hörer in medias res, in Verkehrsmitteln, deren Gebrauch "die digitale Mobilitätsrevolution" grundlegend ändern wird, so sagen es die Berliner Autoren Weert Canzler und Andreas Knie voraus. Aber was genau revolutioniert die Mobilität? Das Smartphone, der digitale Tausendsassa mit seiner Flut von Apps, von denen sich erstaunlich viele der Mobilität widmen: Deutsche Bahn, Nahverkehrsbetriebe, Taxizentralen, Fernbusbetreiber, Fluglinien, Carsharing-Firmen und so weiter, sie alle buhlen um Kunden.
    "Vom Informieren, über das Ticket bis zum Auschecken wird alles über das Smartphone gehen, einfach deswegen, weil es schnell und günstig ist und immer Realdaten liefert, das heißt, es wird der Generalschlüssel für alle Mobilitätsangebote sein."
    So der Verkehrsexperte Weert Canzler. Wie die Verknüpfung von Mobilität und digitaler Präsenz aussieht, welche Chancen und Risiken sie birgt, skizzieren die Autoren in sechs Kapiteln. "Nichts bleibt mehr so, wie es war" überschreiben sie das erste und entwerfen darin auf wenigen Seiten ein fulminantes Szenario. Dass Smartphones menschliches Verhalten beeinflussen, ist nicht neu; dass sie reale Wahrnehmungen umdeuten, aber schon.
    "Ein ICE, der längst hätte abfahren sollen, verharrt noch im Bahnhof. Drei Männer im Abteil der ersten Klasse werden bereits nervös, beginnen über verpasste Anschlusstermine nachzudenken. Einer bricht in die leicht spannungsgeladene Situation mit den Worten: Ich schau mal auf dem DB-Zugradar nach, was denn eigentlich los ist. Er macht sich an seinem iPhone zu schaffen, um in der nächsten Sekunde bereits erfreut auszurufen: Oh, im DB-Zugradar sind wir schon wieder unterwegs. Man zeigt sich erleichtert, dass es doch nun wirklich vorangehe, es ist ja auch deutlich erkennbar, wie sich das kleine Zugsymbol weiterbewegt. Tatsächlich steht der Zug aber immer noch im Bahnhof. Die Überzeugungskraft der App ist so groß, dass physische Restriktionen nicht mehr als ernsthafte Bedrohung gesehen werden."
    Smartphones mutieren zu allumfassenden und scheinbar allmächtigen Instrumenten – mit weitreichenden Konsequenzen. Für die Anbieter von Mobilität – den Bahn-, Bus- und Luftfahrtunternehmen – hat die digitale Präsenz auf dem Smartphone existenzielle Bedeutung. Wer nicht präsent ist, existiert nicht und fliegt aus dem Markt.
    "Der Wettbewerb darum, welches Verkehrsmittel ich nutze, verschiebt sich von der unmittelbar physischen Ebene auf den digitalen Marktplatz: Welche App zeigt mir am schnellsten die größte Vielzahl und die komfortabelste Auswahl? Welche Features habe ich zusätzlich und schließlich: Wie kann ich mir den Zugang verschaffen?"
    Und noch etwas fegt "die digitale Mobilitätsrevolution" zumindest in urbanen Lebensräumen hinweg: Die über Jahrzehnte tradierte Rolle des Autos als Statussymbol und Verlängerung des eigenen Wohnzimmers. Es komme erstens nicht mehr darauf an, bestimmte Automarken zu fahren, sondern irgendeines, ist zumindest Weert Canzler überzeugt, außerdem sei wichtig, ...
    "... dass man wegkommt von der alten Trennung Privatauto – öffentlicher Verkehr, dass auch die Dominanz des Autos jetzt untergraben wird, weil es im Prinzip gar nicht mehr auf das Gerät ankommt, sondern auf den Zugang."
    Die Berliner Mobilitätsforscher bieten ihren Lesern ebenso sachkundige wie verständlich geschriebene Einblicke in die digitalen Verkehrswelten: Wie Apps- und Tracking-Instrumente funktionieren; wie smartphonegesteuert, Mitfahrgelegenheiten gesucht und gefunden werden; was die Energie- und Verkehrswende miteinander verbindet und so weiter. Themen, die keineswegs nur Deutschland betreffen, Weert Canzler und Andreas Knie schauen über Europas Grenzen hinaus in asiatische Länder, ...
    "... wo einfach nichts mehr geht, weil da ist ein größeres Wachstum bei den Autos absehbar nicht mehr möglich. Da wird man auf Alternativen gehen müssen. Und auch da muss man natürlich gucken, was Deutschland als Land, wo man das alles gut im Griff hat, wo gleichzeitig aber auch Mobilität produziert und angeboten wird, dass man für diese Megacities Lösungen hat. Und da glauben wir, dass diese Lösungen weitgehend ohne Auto beziehungsweise mit einer anderen Autonutzung und nur nach Vermietsystemen funktionieren wird und nicht auf Basis von Privatautos."
    Im sechsten und letzten Kapitel schließlich schneiden die Autoren ein gesellschaftlich brisantes Thema an: "Mit Hurra in den digitalen Überwachungsstaat?" Wie sehen die Schattenseiten der digitalen Verkehrswelt aus?
    "Eines ist die Datensicherheit, also ist das eine echte Information, die ich jetzt habe. Oder ist das manipuliert, das ist eine ganz große Herausforderung. Die Zweite ist natürlich die, wir müssen Lösungen finden, wie wir mit dieser totalen Transparenz umgehen, weil das heißt natürlich letztlich auch, dass alle Bewegungen im Profil im Grunde dokumentiert und nachvollziehbar sind. Eine völlige Transparenz des Verhaltens. Und die kryptischen Möglichkeiten, das unschädlich zu machen, das ist die zweite große Herausforderung."
    "Die digitale Mobilitätsrevolution" bietet Einblicke in die Verkehrswelt von Morgen. Verständlich und spannend geschrieben, hintergründig mit vielen Informationen und Argumenten. Gut zu lesen in Bussen und Bahnen – aber natürlich auch zu Hause. Ein starkes Buch!
    Buchinfos:
    Weert Canzler, Andreas Knie: "Die digitale Mobilitätsrevolution - Vom Ende des Verkehrs, wie wir ihn kannten", oekom verlag München 2016, ISBN-13: 978-3-86581-754-9, 130 Seiten, Preis: 12,95 Euro