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Verkünder der Hoffnungslosigkeit und des Absurden

"Mein Werk hat noch nicht begonnen", schrieb Albert Camus während der Arbeit an "Der erste Mensch". Dieses Romanmanuskript wurde wenig später bei seiner Leiche gefunden. Dennoch gehört Camus zu den wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts.

Von Peter Henning | 06.11.2013
    Montag, 4. Januar 1960. Ein Personenwagen rast mit überhöhter Geschwindigkeit über die Straße Sens-Paris beim Weiler Villeblevin. Nach etwa hundert Metern ein Knall, der Reifen eines Hinterrades platzt. Der Wagen bricht aus, nach links, nach rechts, prallt gegen eine Platane. Dann gegen eine zweite, an der er, in zwei Teile gerissen, zum Stehen kommt. Auf dem Feld liegen, aus dem Auto geschleudert, drei Menschen: zwei ohnmächtige Frauen, ein bewusstloser Mann. Der Fahrer des Wagens, Michel Gallimard, der vier Tage später stirbt.

    In den Trümmern der Karosserie befindet sich ein vierter Passagier, zwischen den hinteren Sitzen. Mit ruhigem, gleichsam erstauntem Gesicht, leicht hervortretenden Augen und ein wenig Blut im Genick. Um herauszufinden, um wen es sich bei dem Toten handelt, durchsucht man seine Taschen. Man stößt auf eine unbenutzte Bahnfahrkarte sowie ein Romanmanuskript, das den Titel "Der erste Mensch" trägt. Dann auf einen Personalausweis mit folgenden Angaben: Albert Camus, Schriftsteller, geboren am 7. November 1913 in Mondovi, Department Constantin, Algerien.

    "Ein Schriftsteller stirbt, und wir untersuchen sein Werk. Jedes einzelne seiner Bücher. Wir sinnen über das Band nach, das eines mit dem anderen verknüpft. Und wir versuchen in unserer Bewertung dessen inneren, jäh unterbrochenen Schwung zu bemessen. Ein Mensch stirbt, und durch ein lebendes Antlitz, durch Gebärden, Taten und Erinnerungen jagen wir einem auf immer ausgelöschten Bild nach."

    Dies schrieb im April 1960 der italienische Kritiker und Kenner der französischen Literatur Nicola Chiaromonte.

    Camus` Werk, das Werk eines immer noch jungen Schriftstellers, der in der Mitte seiner Laufbahn und seines Lebens stand, ist unvollendet geblieben, weist aber gleichwohl eine gewisse innere Geschlossenheit auf, bestehend aus Romanen, Erzählungen, Essays, Dramen und seinen Tagebüchern. Auffallend und faszinierend zugleich erscheint an Camus` Werk die ungewöhnliche Kongruenz der Schriften mit den biografischen Hintergründen ihres Verfassers. Der französische Schriftsteller und einstige Weggefährte Camus`, Pascal Pia, welchem dieser seinen 1942 publizierten, philosophischen Essay "Der Mythos von Sisyphos" widmete, bemerkte einmal dazu:

    "Wer Camus kennenlernte, entdeckte bewundernd, dass er völlig mit seinem Werk übereinstimmte. Was einem auffiel, war seine Schlichtheit. Ich habe keinen anderen berühmten Mann kennengelernt, der sich so wenig aufspielte, selbst an jenem Oktoberabend, als der frischgebackene Nobelpreisträger in Paris einer wichtigen Theaterpremiere beiwohnte und die Hunderte von Blicken, die auf ihm ruhten, ihn weder verlegen noch steif machten. Er lächelte und sprach so unbefangen von der Vorstellung wie ein x-beliebiger Besucher. Er war auch in dieser Stunde ganz er selbst."

    Camus war seinem Selbstverständnis nach primär Künstler und nicht Philosoph.

    "Weil ich in Worten und nicht in Bildern denke."

    Gleichwohl begriff er sich auch nicht als Roman-Schriftsteller im herkömmlichen Sinn, sondern als einen Künstler, der nach Maßgabe seiner Leidenschaften und seiner Ängste Mythen schafft:

    "Aus dem gleichen Grund haben mich auf Erden stets nur die Menschen mit Begeisterung erfüllt, welche die Stärke und die Ausschließlichkeit dieser Mythen besaßen."

    Zeit seines Lebens bleibt in seinen Arbeiten etwas von der Atmosphäre seiner nordafrikanischen Heimat Algerien spürbar. Gerade seine frühen Texte – Sammlungen wie "Licht und Schatten", "Hochzeit des Lichts" oder "Heimkehr nach Tipasa" – präsentieren anschaulich den bestechenden Gegensatz des dortigen Lebens: den Reichtum eines ganzjährigen Sommers gegenüber sozialer Bescheidenheit und Armut."

    "Ich weiß, dass meine Quelle sich in "Licht und Schatten" befindet, in jener Welt der Armut und des Lichts, in der ich lange gelebt habe, und die mich dank meiner Erinnerung noch heute vor zwei gegensätzlichen, jeden Künstler bedrohenden Gefahren bewahrt hat, nämlich dem Ressentiment und der Sattheit..."

    ... hat Camus später rückblickend in sein Tagebuch der Jahre 1951-1959 notiert.

    "In Afrika kosten Meer und Sonne nichts. In diesem Leben der Armut, unter diesen schlichten Leuten, die nicht einmal lesen konnten, bin ich dem am nächsten gekommen, was mir als der wahre Sinn des Lebens erscheint: das Gefühl, auf hohem Meer zu leben, bedroht, im Herzen eines königlichen Glücks."

    So bleibt Camus` literarische Welt stets das Abbild subjektiv erfahrener Wirklichkeit. Und es ist insbesondere jene Zeit des Heranwachsens in überaus einfachen Verhältnissen, die der Autor zeitlebens nicht vergessen wird.

    "Obwohl ich in einem Armenviertel zur Welt kam, wusste ich nicht, was wahres Unglück bedeutet. Ich lebte in beschränkten Verhältnissen, aber auch einer Art Genuss. Das Elend lehrte mich zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist."

    Die Klarheit dieser Selbsteinschätzung, wie jene der eigenen Lebensumstände, demonstriert eindrucksvoll, auf welch bestechende Art und Weise Camus sein Dasein zu beurteilen wusste: sparsam und analytisch, selbstkritisch und dabei unmissverständlich mit Blick auf die Welt, "jenen Tempel, aus dem die Götter geflohen sind." Doch dieser "Tempel" war Camus` einziges Reich, war jener Ort, an welchem er, der Dichter, den "geflohenen Göttern" noch einmal auf seine Weise zu begegnen versuchte:

    "Es gibt kein Leben nach dem Tod. Das Leben eines Menschen ist ein Endzweck, ohne Bedeutung im Sinne eines persönlichen Gottes. Wir sterben, und unser einziges Reich ist von dieser Welt."

    Auch ein halbes Jahrhundert nach Camus’ Tod hat dessen, um die transzendentale Obdachlosigkeit des Menschen kreisendes Werk nichts an Klarheit, Schärfe und Ausdruckskraft eingebüßt, im Gegenteil: Als Denker erscheint er aktueller denn je. Seine Bücher erfreuen sich einer stetig wachsenden Nachfrage, denn der Mann, der aus der sprachlosen Welt seiner Herkunft zum Moralisten und Pariser Starintellektuellen aufstieg, erscheint mit seinen dereinst grimmig formulierten Thesen von der Negation Gottes und der Beschwörung eines rein irdischen Glücks verlockender denn je. Anders gesagt: Der Mythos Camus lebt. Er wurde zum Verkünder der Hoffnungslosigkeit und des Absurden in der Welt und lebte, was er schrieb: kompromisslos, demütig und ebenso leidenschaftlich. So liest sich sein um Werk als eine Huldigung an Himmel und Erde, Sonne und Meer; Dichtung als Verkündigung von Schönheit und Tod, Freiheit und Größe, von Auflehnung und Liebe.

    "Einer Auflehnung im Namen aller Menschen, damit das Leben aller Menschen ins Licht erhoben werde."

    Geboren 1913 in Mondovi, einem Dorf im Osten Algeriens, lernte der Junge frühzeitig eine Sprache einfacher, aber tiefer Empfindung. 1924 tritt er ins Gymnasium von Algier ein, das er 1930 mit dem Abitur beendet. Er begeistert sich für Fußball und das Theater, und trägt sonntags das himmelblaue Trikot von "Racing Universitaire", ein braun gebrannter, sehniger, sportlicher junger Mann, der sich eines Tages nach einem Spiel erkältet und schwer erkrankt. Er bekommt Fieber, dann eine Lungenentzündung. Und schließlich lautet die Diagnose: Tuberkulose. Im Vorwort seiner autobiografischen Schrift "Licht und Schatten" schrieb er 1937 dazu:

    "Diese Krankheit fügte den bestehenden Fesseln neue hinzu. Am Ende aber begünstigte sie jene Freiheit des Herzens und jenes unmerkliche Abstandwahren gegenüber den Interessen der Menschen, die mich vor jeder Feindschaft bewahrt haben."

    Nachdem er sein Philosophiestudium abgeschlossen hat, stößt er 1938 als Redakteur zum "Alger Republicaine", wo er sich mit Elan in die Arbeit des Journalisten stürzt. Zeitgleich erscheint sein erster Essayband "Licht und Schatten". Längst hat sich sein Denken von solchen Worten wie Jugend, Sonne, Meer entfernt, sein Denken hat sich geformt. Doch was bleibt, sind die Lebensumstände, denen er entkommen ist und an die er sich später so erinnern wird:

    "Hinter dem Jungen lag ein stinkender Gang. Dieses Viertel, dieses Haus! Es besaß nur ein Stockwerk, und auf der Treppe gab es kein Licht. Noch heute, nach langen Jahren, möchte er in dunkler Nacht dorthin zurückkehren. Er weiß, dass er die Treppe in Windeseile hinaufstürmen könnte, ohne ein einziges Mal zu straucheln. Sein Körper ist von diesem Haus durchtränkt. Seine Beine tragen noch die genaue Höhe der Stufen in sich und seine Hände das nie überwundene Grauen vor dem Treppengeländer. Daran waren die Schaben schuld."

    Seine Fähigkeit zur klaren einfachen Darstellung gepaart mit einer suggestiven Bildhaftigkeit haben Camus unzählige Male die Anerkennung prominenter Zeitgenossen eingebracht. So schrieb sein ehemaliger Freund und späterer philosophischer Widersacher, Jean-Paul Sartre, in seinem Nachruf auf den tödlich Verunglückten im Januar 1960 im France Observateur:

    "Er, dieser Cartesianer des Absurden, verkörperte innerhalb dieses Jahrhunderts, und zwar gegen die Geschichte, den lebenden Erben einer langen Reihe von Moralisten, deren Werke vielleicht das Originellste darstellen, was die französische Literatur hervorgebracht hat. Man musste ihn umgehen oder sich ihm stellen. Er war unentbehrlich für die Spannung, die das Leben des Geistes ausmacht."

    Im Mittelpunkt von Camus` Denken und Schreiben steht der Mensch als fühlendes, handelndes Wesen – unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung. In seinem Werk geht es um den Einzelnen als Ausgelieferten an die Naturgewalten. All seine Protagonisten – der seines Kurzromans "Der Fremde" ebenso wie jener seiner großen Romanallegorie "Die Pest" – sind alleine gelassen mit der Gewissheit ihrer unauflöslichen Situation.

    So schildert er in seiner berühmten Erzählung "Der Fremde" die Geschichte eines jungen Franzosen, der bindungslos und ohne Liebe und Anteilnahme dahinlebt unter der unerbittlichen algerischen Sonne, bis ihn ein lächerlicher Zufall zum Mörder werden lässt. Doch im Scheitern seiner scheinbar absolut freien Existenz erfährt er am Ende, dass Leben Mit-leben bedeutet. Dabei hat Camus das Einzelschicksal literarisch ins Symbolische erhöht, um die grundlegende Bedeutung einer solchen Erfahrung zu verdeutlichen. Meursault, so der Name des Protagonisten, ist frei, trotz seines irdischen Scheiterns, denn die Regeln und Determinationen der Gesellschaft haben keinerlei Gültigkeit mehr für ihn. Und so schließt der Roman:

    "Als hätte mich dieser Zorn von allem Übel gereinigt und mir alle Hoffnung genommen, wurde ich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum ersten Mal empfänglich für die zärtliche Gleichgültigkeit dieser Welt. Als ich empfand, wie ähnlich, wie brüderlich sie mir war, da fühlte ich, dass ich glücklich gewesen war und immer noch glücklich bin."

    In Form des literarischen Kunstgriffs gelingt es Camus, die Idee seiner Philosophie des Absurden deutlich zu machen. Und auch in dem Roman "Die Pest" prägt seine alte Erkenntnis vom individuellen Handeln des Einzelnen den Ablauf der Geschichte. So weitet sich seine Chronik einer Pest-Epidemie, in deren Zentrum ein Einzelner für die Aufrechterhaltung alles Moralischen kämpft, am Ende zum literarischen Mahnmal seiner Epoche. Sein Entwurf nahm Bezug auf die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die Vernichtungs- und Konzentrationslager ebenso wie die geführten Kriege und die damit verbundenen sinnlosen Menschenopfer. In seinen Tagebüchern notierte er dazu:

    "Ich will mit der Pest das Ersticken ausdrücken, an dem wir alle gelitten haben. Die Pest wird das Bild jener Menschen wiedergeben, denen in diesem Krieg das Nachdenken zufiel, das Schweigen und auch das seelische Leiden."

    1951: Der Krieg ist zu Ende, Paris feiert seine Befreier, und Saint-Germain-des Prés wird zum Zentrum der existenzialistischen Schule um Sartre und Simone de Beauvoir, zu der sich dann und wann auch Camus hinzugesellt. Als 1951 sein Buch "Der Mensch in der Revolte" erscheint, erhebt sich der engste Kreis um Sartre gegen ihn. Camus, der in seinem Buch nachzuweisen versucht, dass die politischen Ideen von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis heute Konstruktionen und utopische Entwürfe waren, die das Absolute forderten und daher zwangsläufig in Terror, legitimiertem Mord und damit im Absurden gipfeln mussten, schärft mit diesem Buch seinen Ruf als politisch-philosophischer Denker. Gleichwohl aber beschwor es einen erbitterten Streit mit seinem Widersacher Sartre herauf, der ihn von einem feuilletonistischen Handlanger als "Idealist, algerischer Gassenjunge und Opfer seiner Maßlosigkeit" aburteilen lässt. Eine Verleumdung, von welcher sich Camus nie mehr erholen sollte. Denn er, der in der Idee der Revolte eine "fruchtbare Verneinung" definiert sah, verstand seine eigenen revolutionären Ansätze gerade als eine entscheidende Begegnung mit dem Nihilismus, gipfelnd in einer "Verzweiflung, die hell bleibt."

    Am 17. Oktober 1957 schließlich verlieh ihm die Schwedische Akademie den Nobelpreis für Literatur.

    "Für ein Werk, das die Probleme beleuchtet, die sich in unserer Zeit dem Gewissen der Menschen stellen."

    So repräsentiert Albert Camus auch heute noch, ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod und vielleicht nachdrücklicher denn je, jenen Typ des Intellektuellen, der es Kraft seiner zeitlosen, um Begriffe wie Schuld, Freiheit und Verantwortung kreisenden Ideen immer neu vermag, ganze Generationen in seinen Bann zu ziehen.

    "Mein Werk hat noch nicht begonnen ..."

    ... notierte er während der Niederschrift an seiner unvollendet gebliebenen Romanbiografie "Der erste Mensch", welche er stets als sein Hauptwerk bezeichnete, tatendurstig in sein Notizbuch. Sein plötzlicher Tod aber setzte dieser Vorstellung ein jähes Ende. Was bleibt, sind seine vollendeten Werke: die Romane "Der Fall", "Der Fremde" und "Die Pest", seine Erzählungen und hellsichtigen Essays; Arbeiten von herausfordernder Klarheit und Schärfe, die auch ein halbes Jahrhundert nach dessen Tod für das stehen, was Günter Grass einmal so beschrieb:

    "Was vor allem von Camus gelernt werden kann, ist seine Haltung: dieses Aushalten einer deprimierenden Zeit, dieser lange Atem im Widerstand gegen Ausbeutung, Zerstörung und Hass."


    Literatur-Empfehlungen:

    • Taschenbücher mit den Werken von Albert Camus sind im Rowohlt Verlag erschienen

    • Michel Onfray: Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus, Aus dem Französischen von Stephanie Singh, Knaus Verlag, München 2013, 576 S., 29,99 Euro (Besprechung in Lesart)

    • Martin Meyer: Albert Camus – Die Freiheit leben, Carl Hanser Verlag, München 2013, gebunden, 368 S., 24,90

    • Iris Radisch: Camus – Das Ideal der Einfachheit – Eine Biographie, Rowohlt, Reinbek 2013, zahlreiche Abbildungen, gebunden, 352 S., 19,95 Euro (Besprechungen in Radiofeuilleton: Kritik und Andruck)

    • Albert Camus: Sein Leben in Bildern und Dokumenten, Hrsg. Catherine Camus, Übersetzung aus dem Französischen von Alwin Letzkus. 224 Seiten mit 550 Fotos und Illustrationen. Hardcover im Folio-Format 28 x 33 cm, 49,95 Euro

    • Hörbuch: "Leben heißt handeln" – Begegnungen mit Albert Camus. Feature, 2 CDs. Der HÖRverlag. (Besprechung in Radiofeuilleton: Kritik)
    Der Schriftsteller, Philosoph, und Freidenker Albert Camus
    Camus: Schriftsteller, Philosoph, und Freidenker (picture alliance / dpa)
    Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre in Paris
    Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre in Paris (AP Archiv)