Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Verlag "Das Kulturelle Gedächtnis"
Sie wollen gar keine Bestseller

Es gibt immer wieder Wagemutige, die daran glauben, dass es sich weiterhin lohnt, Bücher zu verlegen. In Berlin haben sich einige dieser Idealisten zusammengetan und den Verlag "Das Kulturelle Gedächtnis gegründet". Ein Ziel: Die Bücher sollen sich finanziell selber tragen.

Von Holger Heimann | 31.08.2017
    Bücher stehen in München in einer Buchhandlung in einem Bücherregal.
    Bei der Suche im Bücherschrank ist einer der Verleger auf Texte gestoßen, die jetzt in einem Buch erschienen sind. (dpa / Andreas Weihmayr)
    Ein spannenderes und ungewöhnlicheres Verlagsprojekt hat es in den letzten Jahren kaum gegeben. Und selten war ein Name so sprechend wie dieser: Der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis will kluge, zeitlose und doch vergessene Bücher wieder zugänglich machen. Es ist ein Verlag mit gleich vier Verlegern, Tobias Roth, Thomas Böhm, Carsten Pfeiffer und Peter Graf, die allesamt andere Fulltimejobs in der Buchbranche haben: Der fünfte, wichtige Mann im Bund wirkt als Berater mit: Wolfgang Hörner, im Hauptberuf Leiter des Galiani Verlags, hat die Unternehmung ins Rollen gebracht.
    "Wenn man einen Verlag macht, dann hat man mit sehr vielen Texten zu tun. Man kann in dem Verlag, den man gerade macht, nur eine bestimmte Zahl von Titeln machen und die müssen auch genau ins Profil passen. Und ich hatte gerade ein-zwei Sachen, die ich sehr spannend fand, die aber bei mir weder zeitlich noch vom Programm passten, noch so richtig in den Verlag zu hundert Prozent passten."
    Um den Verlag herum gib es ein Netz von Unterstützern
    Wolfgang Hörner kam mit dem Dichter und Übersetzer Tobias Roth ins Gespräch, der sich sofort dafür begeistern ließ, einen neuen Verlag zu gründen und gleich eine Buchidee beisteuerte: Voltaires "Der Fanatismus oder Mohammed". Das religionskritisches Stück, in Frankreich ein Bestseller und bei uns kaum bekannt, wurde zu einem der vier Titel des ersten Programms. Aber zunächst fanden Hörner und Roth weitere Mitstreiter: den Verleger Peter Graf, den Literaturvermittler Thomas Böhm und den Vertriebsmann Carsten Pfeiffer. Sie alle sind bereits umfänglich beschäftigt. Peter Graf zum Beispiel will seinen Walde und Graf Verlage gerade mit neuem Schwung voranbringen und hat nebenher wenig Zeit. Er sagt:
    "Eine der Ideen war, sich nicht nur mehr Arbeit – als man ohnehin schon hat – aufzuhalsen, sondern eine Konstellation zu suchen, wo man anders miteinander Programm entwickeln kann und einen kleinen Verlag mit den notwendigen Strukturen, der vielleicht ein bisschen anders funktioniert als das der klassische Verlag zum Teil auch muss."
    5.000 Euro hat jeder eingebracht, außerdem gibt es eine Reihe von stillen Teilhabern, die ebenfalls Geld investiert haben. So kam das Startkapital zusammen. Mit den vier Büchern, die in jedem Programm erscheinen, müssen lediglich die Produktionskosten gedeckt werden. Ausgaben für Löhne und Mietkosten entfallen. Um den Verlag herum ist überdies ein ganzes Netz von Unterstützern entstanden. Der Schauspieler Ulrich Nöthen hat Buchtexte umsonst eingelesen. Thomas Sarbacher, auch er Bühnenprofi, trägt bei Veranstaltungen aus den Büchern vor – ohne Honorar. Es ist vieles anders als im gewöhnlichen Buchbusiness. Und dennoch besteht Wolfgang Hörner darauf, dass die gemeinsame Arbeit für den Verlag das Kulturelle Gedächtnis mehr ist als ein ernsthaftes Hobby.
    "Was wir erreichen wollen, ist, dass die Bücher sich selbst tragen. Wir müssen nicht aus einem Buch das absolute Maximum an Verwertbarkeit herausholen. Insofern ist es ein anderer Ansatz. Und natürlich: Ich bin von 9 bis 18 Uhr bei Galiani. Es kann nicht so viel andere Zeit in diese Bücher gehen. Aber trotzdem ist so viel Kompetenz zusammen durch die verschiedenen Leute, die seit vielen Jahren in verschiedenen Funktionen des Geschäftes sind, dass man das, was wir wollen, erreichen kann: Wunderschöne Bücher machen, auch Bücher, von denen ich viel lerne – immer noch."
    Im Team ergänzen sich die einzelnen Kompetenzen perfekt
    Jeder tut das, was er am besten kann. Es gibt die erfahrenen Programm-Macher Hörner und Graf, den Übersetzer Roth, den Veranstaltungsprofi Böhm, den Verkäufer Pfeiffer. Zusammen bilden sie ein nahezu ideales Team, in dem sich die einzelnen Kompetenzen perfekt ergänzen. Aber es ist weit mehr, was das Quintett an der neuen Arbeit begeistert. Man könnte das Ganze als eine Art soziales Experiment beschreiben. Peter Graf sagt:
    "Das gemeinsame Programmmachen – das ist etwas, was wahnsinnig viel Spaß macht. Wir treffen uns regelmäßig. Jeder hat eine Leidenschaft für eine bestimmte Art von Literatur oder eine bestimmte Art von Sachbuchtexten und -themen. Man findet sich zusammen und profitiert von den Lese-Erfahrungen der Mitverleger und erschließt sich so neue Texte, neue Themen, die einem vorher vielleicht völlig unbekannt waren. Dieses Sich-den-Ball-zuspielen ist für mich eine der schönsten Erfahrungen. Das ist sehr beglückend."
    Es geht den Verlegern dabei nicht darum, bloß interessante ältere Texte neu zu veröffentlichen und sorgfältig zu kommentieren. Die vier Bücher des ersten Programms lassen sich alle als Kommentare zu gegenwärtigen Entwicklungen lesen. Es sind mithin alte Texte, die aktuelle Kontexte erhellen können. Peter Graf hat einen komplett erfundenen Zeitungsbericht von 1835 ausgegraben: "Neueste Berichte vom Kap der Guten Hoffnung über Sir John Herschels höchst merkwürdige astronomische Entdeckungen, den Mond und seine Bewohner betreffend" – so sind die phantastischen Beschreibungen vom Leben auf dem Mond betitelt. Sie machten dereinst viel Furore – bis der Schwindel aufflog – und passen nur allzu gut in unsere Fake-News-Zeiten. Das Buch mit dem vehementesten Bezug zur Gegenwart ist eine Fluchtgeschichte, allerdings eine von 1754. Die Reise geht von Schwaben nach Amerika, aber vieles ist seinerzeit nicht anders als heute: Es gibt Schlepper, die von der Not der Flüchtlinge profitieren. Die Bedingungen auf den Schiffen sind katastrophal. Viele überleben die Überfahrt nicht. Wolfgang Hörner ist eher zufällig auf den Bericht des Auswanderers Gottlieb Mittelberger aufmerksam geworden.
    "Bei einer Recherche für ein Galiani-Buch bin ich drüber gestolpert. Und fand das sehr frappierend, wie die Umstände damals ähnlich waren. Aber dann kam hinzu, dass ich geschaut habe, wie die Diskussion in Amerika über die ankommenden Deutschen ablief, und da waren die Parallelen wieder so frappant. In dem Moment war es bei mir so, dass ich dachte, jetzt finde ich die Sache sehr interessant. Es ist die Diskussion, die wir haben, bloß mit einer für mich sehr entscheidenden Blickverschiebung: Die Flüchtlinge sind Deutsche. Und dann sieht man aber sämtliche Grundmuster der Diskussion über Flüchtlinge in Amerika genauso wieder."
    Recherche im Bücherschrank
    Die Deutschen waren nicht willkommen. Man fürchtete eine Überfremdung der noch jungen amerikanischen Gesellschaft. Und ganz wie ein gegenwärtiger Kommentar zu den Flüchtlingen, die dieser Tage nach Europa kommen, klingt, was ausgerechnet Benjamin Franklin in einem Brief notiert, aus dem Hörner in seiner erhellenden Einleitung zitiert:
    Zitat aus Mittelberger "Reise in ein neues Leben": "Diejenigen Deutschen, die hierher kommen, gehören gewöhnlich zu den Ungebildetsten und Dümmsten ihrer eigenen Nation ... jetzt aber kommen sie scharenweise und reißen alles mit sich ... Auf dem Lande lernen wenige ihrer Kinder Englisch. Die Schilder auf unseren Straßen haben Inschriften in beiden Sprachen und teilweise nur auf Deutsch."
    Man kann sich nur wundern, dass Mittelbergers Reisebericht und Franklins Invektive in der gegenwärtigen Diskussion bisher kaum vorkamen. Doch mit dem vorliegenden Buch mag sich das nun ändern. Überhaupt ist das gesamte Programm des Verlags Das Kulturelle Gedächtnis ein Einspruch gegen das Vergessen. Thomas Böhm formuliert es so:
    "Es ist so ein komischer Gegenwarts-Narzissmus. Ich meine, die Menschen, die vor uns gelebt haben, Generation um Generation, die haben ja auch Erfahrungen gemacht, die haben auf höchstem Niveau gedacht, geschrieben. Und es ist nur ein Ausdruck des Respekts und ein Verständnis davon, dass man Teil eines Kontinuums von Kultur ist, immer mal wieder zurückzugucken: Wir sind in einer bestimmten Situation und dann zu sagen – so wie man es früher gemacht hat –, jetzt gehen wir mal an den Bücherschrank und gucken, was Menschen vor uns gedacht und geschrieben haben – und daraus vielleicht etwas zu gewinnen."
    Thomas Böhm ist in seinem Bücherschrank gleich auf zwei Texte gestoßen, die jetzt in einem Buch erschienen sind. Beide beschäftigen sie sich mit Möglichkeiten der Konfliktlösung, doch sie tun es auf ganz unterschiedliche Weise. Der österreichisch-ungarische Offizier Franz von Bolgar plädiert in seinen "Regeln des Duells" für die blutige Art. Die Frage ist nur Pistole oder Degen. Der Franzose Jules Cambon hingegen favorisiert das Gespräch, die kluge Diplomatie. "Gegenschuss. Erkenntnis aus Widerspruch" – ist das ungewöhnliche und innovative Konzept überschrieben, das sich Böhm ausgedacht hat.
    Demnächst erscheint ein lange verschollener Roman
    "Seitdem wir das gemacht haben, sind immer mal wieder Leute gekommen und haben gesagt, es gab schon mal so Bücher, die man von vorne nach hinten und von hinten nach vorne lesen kann, aber es gab sicherlich nie so eine Reihe und es gab nie so eine Komposition. Zwei Bücher, die sich im Grunde genommen ein und dergleichen Sache von zwei Perspektiven, zwei unterschiedlichen Weltbildern nähern."
    Im zweiten Programm, das im September erscheint, wird in der Gegenschuss-Reihe der Typus des Hochstaplers mit dem ehrbaren Kaufmann konfrontiert. Einen weiteren Titel aus dem Herbstprogramm hat das Verlegerteam vorgezogen und schon im Mai präsentiert. Es ist eine kleine Sensation, ein wiederentdeckter Roman von Walt Whitman: "Das abenteuerliche Leben des Jack Engle". Das Buch, das gleich bei drei deutschen Verlagen erscheint, könnte bereits der erste Bestseller des Verlags werden, der eigentlich gar nicht auf Bestseller aus ist.