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Verlust der Menschlichkeit

Das vielleicht Erstaunlichste an dem neuen Buch des in Paris lebenden Philosophen und Schriftstellers Alain Finkielkraut ist, daß es trotz des thematisierten dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte, trotz der dargestellten erschütternden Geschehnisse einen Ton jenseits aller Wehleidigkeit und einseitiger Schuldzuweisungen gefunden hat. Der Grund hierfür ist in des Autors weitem Horizont, in seiner grundsätzlichen Frage nach dem zu suchen, was der Mensch und die Menschlichkeit überhaupt bedeuten. Und: Ist die nationalsozialistische Theorie und Praxis eine radikale Ausnahme, hat sich der Mensch hier ganz und gar von sich selbst entfernt oder sind die rassenideologischen Verblendungen und Vernichtungspraktiken Bestandteil der gesamten Zivilisationsgeschichte und also in ihr vorgezeichnet und von ihr konditioniert?

Hans-Jürgen Heinrichs |
    Finkielkrauts "Versuch über das 20. Jahrhundert. Verlust der Menschlichkeit" beginnt im Stil eines Filmdrehbuchs. Dramaturgisch äußerst eindrucksvoll und geprägt von einer weitreichenden symbolischen Aussagekraft läßt er den Häftling mit der Nummer 174517 noch einmal vor dem Ingenieur Pannwitz im Lager Auschwitz auftreten. Was wie eine einfache Prüfung aussehen könnte - der Häftling soll daraufhin getestet werden, ob er für bestimmte Arbeiten geeignet ist - , erweist sich als ein Schauspiel von ungeheurer Tragweite: In der Physiognomie des Ingenieurs erkennt Finkielkraut die gesamte Tragödie des Dritten Reiches wieder. In den Augen des Prüfers ist der Gefangene - im übrigen handelt es sich um den Chemiker und Schriftsteller Primo Levi - kein Mitglied der Gemeinschaft der Menschen, noch nicht einmal einer, der bestraft oder gefoltert werden müßte, sondern schlicht und einfach ein Nichtmensch.

    Das Entscheidende dabei ist, daß der Ingenieur Pannwitz nicht als dämonisches Ungeheuer auftritt; vielmehr macht er seine Arbeit, steht mit beiden Füßen auf dem Boden der Realität. Gerade weil er überhaupt nicht von der anderen Seite der Vernunft aus agiert, erschüttert uns dieser potentielle Wahnsinn derart. Jemand wird auf seine Nützlichkeit hin geprüft, aber nicht, um ihm damit auch nur im geringsten die Chance des Menschseins zu geben, im Gegenteil: zu seiner Eigenschaft als Abfall und Ausschuß kommt vorübergehend, vor der definitiven Liquidierung, noch die Eigenschaft hinzu, als verwertbares Material und Mittel zu dienen. "Gegen die totale Funktionalität", notiert Finkielkraut, "bietet sogar das Argument vom Nutzen keinerlei Ausweg mehr."

    Der Autor spricht von der Grausamkeit, die in dieser absoluten Unmöglichkeit beschlossen liegt, überhaupt noch irgend jemand und irgend etwas anzurufen, von einem "Absinken der Bittschriften in die Welt der Stille". Das mache den Wahnsinn des Dritten Reiches aus, in dem jedes Gespür für Moral und Gemeinsinn von der instrumentellen Vernunft besiegt worden sei. Am Ende ist ein im Lager herumstreundender Hund, wovon ein anderer Schriftsteller, Emmanuel Lévinas berichtet, so etwas wie der "letzte Kantianer Nazi-Deutschlands": Er erkennt die Gefangenen als Menschen - und wird nach einigen Wochen von den Wärtern verjagt. Die vergessene Menschlichkeit, die sich nur noch in der Herzlichkeit eines Tieres bestätigen kann, eines Wesens, das seinen Instinkt nicht verstandesmäßig zu verallgemeinern vermag, erscheint als abgründige Besonderheit in der Geschichte des Unmenschlichen.

    Und dennoch gibt es Hinweise darauf, daß diese hier geschehene Unmenschlichkeit in der Menschheitgeschichte vorgezeichnet ist. So ist doch unbestritten, daß der Begriff "Menschheit" (der alle Rassen und Lebensformen einschließt) erst sehr spät aufgekommen ist und sich immer nur sporadisch durchsetzen konnte. Viel selbstverständlicher scheint dem Menschen die Vorstellung zu sein, daß er die "Anderen" nicht (als seinesgleichen) erkennt. Eifersüchtig wacht er darüber, daß ihm (als Angehörigen einer bestimmten Gesellschaft oder eines bestimmten Clans) letztlich allein die Bezeichnung Mensch zustehe. Menschliche Gesichtszüge und Verhaltensweisen allein - das belegen die Theorien und Praktiken der unterschiedlichsten Kulturen ebenso wie diejenigen der Nationalsozialisten - reichen nicht aus, um den "Anderen" als Menschen anzuerkennen und ihn von "Phantomen" und "Nichtmenschen" zu unterscheiden.

    Finkielkraut spielt in seiner Studie mehrere Begriffe durch, um diese abgrundtiefe Verkennung des anderen zu erklären: Kann der Begriff der Regression (also ein psychischer Mechanismus des Rückschritts und der Einschränkung) geschichtliche Vorgänge dieses Ausmaßes erklären? Muß man nicht ein viel umfassenderes Drama des Zusammenpralls zweier für die Moderne maßgeblichen Komponenten - nämlich von Würde und Geschichte - am Werke sehen?

    Dieser Kampf, so Finkielkraut, habe zu einem "blutigen Triumph" der Geschichte und des Fortschritts geführt. Und mit dem Fortschritt habe sich auch die "ontologische Überlegenheit des Lebens der Menschheit über das Leben der (einzelnen) Menschen" bewiesen. Aus diesem Grunde behauptete die Philosophin Hannah Arendt: "Es ist gegen die menschliche Würde, an den Fortschritt zu glauben."

    Überhaupt ist es Hannah Arendts Philosophie, von der diese Studie ganz entscheidend getragen ist und auf deren Begriffe von Dankbarkeit, Gnade und Versöhnung sie hinausläuft. Dankbarkeit als einzige Alternative zum 'Nihilismus des Ressentiments, des Ressentiments gar gegen die eigene Existenz. Im Namen des Grundsatzes "Alles ist möglich" konnte man Verbrechen unter dem Signum der universalen Menschheit begehen und zur Durchsetzung der Idee einer höheren Menschheit aufrufen. Einer solchen Haltung könne man nur durch eine "grundlegende Dankbarkeit für einige elementare Dinge" begegnen, "Dinge, die uns unverändert gegeben sind, wie das Leben selbst, die Existenz des Menschen und die Welt." Nur wenn wir uns, wie durch eine außergewöhnliche Gnade, bewußt würden, daß Menschen und nicht der Mensch die Erde bewohnt, könnten wir uns mit der Vielfalt der Menschen und ihrer Unterschiede aussöhnen. Im Blick auf die universale Menschheit erscheint der andere stets als Fremder, nur wenn wir die Tatsache der Differenz achten, können wir den Einzelnen, trotz seiner Abgründe, lieben.

    Diese Möglichkeit scheint nun gerade die Idee einer planetarischen Gesellschaft, einer vernetzten globalisierten Welt wieder zunichte zu machen. Es ist, als würden unter der Hand, unter dem Schein der kommunikativen Euphorie, die alten Dämonen des Grundsatzes "Alles ist möglich" wieder zum Leben erweckt werden. Waren die Ereignisse nicht aufsehenerregend genug, um den Menschen zu erschüttern und ihm den Weg des Humanen zu weisen?

    Diese Überlegungen - die mit einer Frage enden, ob denn das 20. Jahrhundert vergeblich war - stehen am Schluß der Studie, nachdem die Begriffe der Regression, der Verdrängung, Verleugnung und des Ressentiments durchgespielt worden sind. Vor allem in der scharfen Zurückweisung von Michel Foucaults undifferenzierter Humanismus-Kritik und im Wiederaufgreifen von Jean-Paul Sartres 1946 vorgetragenen "Betrachtungen zur Judenfrage", mit denen er das Schweigen in Frankreich brach und gleichsam einen Stein in den Teich des "Als-ob-nichts-gewesen-wäre" warf, findet Finkielkraut zu seinen überzeugenden Analysen der Rolle, die dem Juden im westlichen Denken zugewiesen wurde:

    "Die Zurückweisung der universalen Moral verbindet sich im nationalsozialistischen Rassismus mit der bizarren Unerbittlichkeit eines universalen Erklärungssystems. Denn für die Nationalsozialisten führten alle Wege zum Juden. Der Jude ist nicht nur anders, sondern auch unheilvoll, unsichtbar und allmächtig." Der nationalsozialistische Antisemitismus prangert die vermeintliche Verschwörung der Böswilligen an. Mit dem Juden gäbe es kein Paktieren, sondern, so verkündete Hitler, nur das "harte Entweder-Oder". Ein gleichsam philosophisches Prinzip wurde in die Politik eingeführt.

    Dieses Entweder-Oder erscheint wie ein Sich-in-den-Dienst-der-Menschheit-Stellen, wie die Voraussetzung dafür, daß die Menschheit ihrer letzten Vollendung zugeführt wird. Da der Demokratie der Schutz der Schwachen eigen ist, muß auch sie verbissen bekämpft werden. "Befreit sich Deutschland aus dieser Umklammerung (dem Judentum)", schreibt Hitler in "Mein Kampf", "so darf diese größte Volksgefahr als für die gesamte Welt gebrochen gelten." Und Himmler sagt im gleichen Sinn, man müsse "die Sache" kompromißlos durchführen, wenn man ihre Notwendigkeit erkannt habe.

    Der Nationalsozialismus glaubte sich also ganz und gar in den Dienst der Evolution zu stellen. Die Ideologie der Evolution, des Fortschritts, der Menschheit, des Alles-ist-möglich hat gesiegt, die Würde hat verloren. Das Leugnen der Differenz hat mörderische Formen angenommen. Verleugnung, Verdrängung und Verwerfung sind psychische Mechanismen, die auf diesem geschichtlichen Hintergrund neu zu bestimmen wären.

    Die Schwierigkeit, mit der uns der Nationalsozialismus konfrontiert, besteht darin - und dies war auch Ausgangspunkt von Finkielkrauts Studie - , daß hier die Verschiedenheit von Menschen auf eine so extreme Art und Weise geleugnet wird, daß der andere (der Jude) nurmehr als Nichtmensch erscheint. Damit wird die Verkennung, die die gesamte Menschheitsgeschichte kennzeichnet, auf die Spitze getrieben. Das Band der Menschlichkeit ist zerrissen. Der Mensch erkennt sich nicht mehr im anderen Menschen wieder, man kann sich nicht mehr, um es bildlich auszudrücken, auf der anderen Seite der Glasscheibe wiederfinden. "Was ist also passiert", das ist Finkielkrauts leitende Frage, "daß der Begriff der universalen Menschheit und Menschlichkeit im Herzen der Zivilisation, wo er seine eindrucksvollste Entwicklung erreicht hatte, in eine so tiefe und radikale Vergessenheit geraten konnte?"