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Vernetzter Kapitalismus
Ethik in der digitalen Welt

Tech-Konzerne wollen die Welt verbessern, beschäftigen aber teils unter prekären Arbeitsverhältnissen. Künstliche Intelligenz könnte Gewalttäter identifizieren, doch wirft dies datenschutzrechtliche Fragen auf. Im heutigen Geist des digitalen Kapitalismus bedarf es einer neuen Ethik.

Von Mirko Smiljanic |
Weibliches Gesicht mit Computerplatinen.
Bei der vorhersagenden Polizeiarbeit soll eine Mustererkennungs-Software Personen identifizieren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit tatverdächtig sind (imago )
"Okay Jack, was haben wir?" "Einen Doppelmord. Einen Mann, eine Frau, der Mörder ist männlich, weiß, in den Vierzigern." "Zeig mir den Sektor, wir sind unterwegs."
2002, "Minority Report", ein US-amerikanischer Science-Fiction-Thriller des Regisseurs Steven Spielberg mit Tom Cruise in der Hauptrolle:
"Ich verhafte Sie wegen des zukünftigen Mordes an Sarah Marks."
Verbrechensbekämpfung in neuer Dimension: Die Polizei weiß vor dem Mord, dass er geschehen wird – und kann ihn so verhindern:
"Wir haben nichts weiter als die Bilder, die Sie produzieren, wir sehen, was Sie sehen." "Nicht ein Mord in sechs Jahren, das System ist perfekt." "So ist es!"
Vorhersagende Polizeiarbeit keine Utopie mehr
Perfekt ist es zumindest in diesem Hollywood-Streifen, der vor knapp 20 Jahren durchdeklinierte, wovon Polizeibeamte im letzten Jahrhundert nur zu träumen wagten: Verbrechen zu verhindern, indem sie Täter vor der Tat dingfest machen. Mittlerweile hat sich viel getan beim "Predictive Policing", bei der "vorhersagenden Polizeiarbeit". Im Mittelpunkt steht die Analyse von Falldaten zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Straftaten, die dann zur Steuerung des Einsatzes von Polizeikräften herangezogen wird.
"Minority Report" ist zwar auch heute noch Utopie, die Ränder weichen aber zunehmend auf. Möglich machen dies zwei Entwicklungen: Computertechnik, vor allem Künstliche Intelligenz, wird immer leistungsfähiger, außerdem hat sich ein neuer Geist des digitalen Kapitalismus etabliert. Dieser neue Geist baut auf alten Konzepten auf, so Oliver Nachtwey, Professor für Soziologie an der Universität Basel.
"Der ganz alte Geist, den haben Max Weber und Werner Sombart analysiert. Dabei geht es um den Ursprung des Kapitalismus, wie die Rationalität das kaufmännische Verhalten und bei Max Weber vor allen Dingen die protestantische Ethik die rationale Lebensführung den Kapitalismus geprägt und dynamisiert haben."
Tech-Konzerne wollen die Welt verbessern
Im 20. Jahrhundert folgte der industrielle Geist, der im "Fordismus" beziehungsweise in der Fließbandproduktion seinen Höhepunkt erlebte. Dieser Geist des Kapitalismus wurde in den 90er-Jahren abgelöst vom "Netzwerkgeist", also der Idee, miteinander verknüpfte Großprojekte sind die Zukunft kapitalistischer Produktionsweise. Auch er hatte nur kurze Zeit bestand und wurde vom aktuellen vierten Geist abgelöst:
"Wir nennen das die Ethik der Solution und wir zielen darauf ab, dass die großen Tech-Konzerne ihre Geschäftsmodelle darauf ausrichten, dass sie ein Versprechen machen, nämlich das Versprechen, die Welt oder sogar die gesamte Menschheit zu verbessern. Und das ist eben nicht, wie es der Philosoph Harry Gordon Frankfurt genannt hat ‚Bullshit‘, in dem Sinne, dass man eine Lüge erzählt beziehungsweise nicht daran glaubt, sondern sehr, sehr viele Leute in diesen Tech-Konzernen sind wirklich fest davon überzeugt, dass sie die Welt vernetzter, gerechter, besser machen."
Da spielt es keine Rolle, dass Tech-Konzerne bezogen auf ihre Mitarbeiter selbst Ungerechtigkeiten am Fließband produzieren. Google etwa ist einer der größten Arbeitgeber prekärer Arbeitsverhältnisse. Trotzdem, so Oliver Nachtwey, vertreten auch heute noch viele Mitarbeiter die ursprüngliche Firmenphilosophie:
"Googles ursprüngliches Firmenmotte war ‚Don’t be evil‘, und ich habe auch einige Interviews mit heutigen Google-Mitarbeitern geführt und die sagen alle, ja, das ist für uns wichtig. Wir wollen Produkte herstellen, die den Menschen etwas bringen."
Sichere Aussagen über Personen kaum möglich
Und dazu zählt auch Predictive Policing, die vorhersagende Polizeiarbeit. Massenhaftes Sammeln und Auswerten persönlicher Daten über Mustererkennungssoftware soll Verbrechen verhindern helfen. In den USA wird diese Technik schon eingesetzt. Und zwar sowohl, um Kriminalität in bestimmten Räumen zu erkennen, als auch für das Identifizieren von Personen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Opfer oder Täter von Gewaltkriminalität werden.
Alle Forschungsergebnisse zeigen dabei – so Dominik Gerstner, Soziologe am Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen an der Evangelischen Hochschule Freiburg: "Es ist problematischer, Aussagen über Personen zu machen, als wie jetzt über bestimmte Räume."
Dass im Görlitzer Park nachts gedealt wird, weiß jeder Polizist auch ohne Mustererkennung; wer wen im Falle eines Streits ersticht, liefert die Software allerdings auch nicht. In den USA experimentiert die Polizei mit Heat Lists, auf denen Menschen landen, deren Verhaltensweise nach kriminalistischen Analysen verdächtig erscheinen.
Neue Ethik für den Geist des digitalen Kapitalismus
Wehe, wer als "falscher Treffer" sich auf einer Heat List wiederfindet: "Weitaus problematischer, wo es auch schon Ansätze gibt, ist es, wenn soziale Netzwerke quasi als Datenbasis genommen werden. Das ist auch ein Thema, was diskutiert wird in verschiedenen Forschungsprojekten, die noch nicht wirklich praktisch angewendet werden, aber wo es beispielsweise um Terrorismus-Prävention geht. Wie kann ich Gefährder identifizieren?"
Das klingt im ersten Moment gut, ist aber hochbrisant – so Dominik Gerstner: "Inwieweit darf ich diese Daten überhaupt für diese Prognosen verwenden, da ich ja immer Netzwerkverknüpfungen immer auch zu anderen Personen mache, die nicht zwangsläufig tatverdächtig sind? Das stellt den Themenkomplex ‚Predictive Policing‘ vor sehr große datenschutzrechtliche und auch andere rechtliche Herausforderungen."
Der neue Geist der Digitalisierung erfordert eine neue Ethik. Diese Ethik ist aber erst in Umrissen sichtbar. Dies betrifft alle Bereiche der Digitalisierung, von der Partnerwahl über Gesundheitssysteme, über die öffentliche Verwaltung bis hin zur vorhersagenden Polizeiarbeit. Und die Vision des "Minority Reports"? Wird sie Realität?
"Prognosen treffen, wer in Zukunft einen Mord begehen wird und brauchen die Person nur noch verhaften und der Mord wird nicht geschehen, das ist natürlich eher ein Wunschgedanke. Damit müssen wir uns abfinden."