Archiv


Verräter oder Patriot?

Der Brief kam aus Wilhelmshaven und war an die amerikanische Botschaft in Bonn adressiert. U.S.A. AMBASSY BONN EXPRESS stand in Grossbuchstaben auf dem Umschlag. AMBASSY war falsch geschrieben, mit Anfangs-A statt mit E. "I'm sorry for my English" begann das Schreiben, das in einem zweiten Umschlag enthalten war. Es war für den US-Militärattaché bestimmt. In holprigem Englisch gab sich der Absender als Ausländer aus einem kommunistischen Land zu erkennen. Er bat um ein Geheimtreffen mit einem US-Armeeoffizier in Amsterdam oder Ostende. Er habe nicht viel Zeit, schrieb der Unbekannte, der den Luftpostbrief mit P.V. unterschrieben hatte. Er werde bei seiner Ankunft in Amsterdam den US-Militärattaché anrufen. Wer immer den Anruf entgegennehme, müsse Russisch oder Polnisch sprechen.

Von Siegfried Buschschlüter |
    Hinter dem Eisernen Vorhang
    Hinter dem Eisernen Vorhang (Deutschlandradio)
    Es war der 14. August 1972. Vier Tage später kam es im Zentralhotel von Den Haag zu dem gewünschten Treffen. Aus Bonn angereist zwei als US-Armeeoffiziere getarnte Mitarbeiter des Auslandsgeheimdienstes CIA. Oberst Henry Morton der eine, Walter Lang von der fiktiven "Programmauswertungsgruppe der US-Armee" der andere. Beide Namen Pseudonyme. Anders dagegen der dritte Mann mit dem gebrochenen Englisch, der es so eilig hatte mit dem Geheimtreff. "It have no many time", hatte er geschrieben. Und nun stand er vor ihnen, gab ihnen die Hand. Mit festem Griff, wie sich Walter Lang später erinnerte, doch eiskalt sei sie gewesen. "Mein Name ist Ryszard Kuklinski, geboren in Warschau am 13. Juni 1930, Oberstleutnant im polnischen Generalstab."

    Und so begann eine der faszinierendsten Spionagegeschichten des Kalten Krieges. Im Brennpunkt ein Mann, der über nahezu ein Jahrzehnt die CIA mit den brisantesten militärischen Geheimunterlagen der Sowjetunion und des Warschauer Pakts versorgen sollte. Insgesamt 40.265 Seiten, darunter Angriffspläne des Warschauer Pakts, die Pläne für die Verhängung des Kriegsrechts in Polen und die Zerschlagung von Solidarnosc, Unterlagen über Waffen und Strategien, Befehlsstrukturen und Führungsbunker.

    Für ihn sei Oberst Kuklinski einer der wichtigsten Agenten in der gesamten Nachkriegszeit gewesen, sagt Robert Gates, ehemaliger CIA-Direktor.

    Fritz Ermarth, langjähriger enger Mitarbeiter von CIA-Chef Gates, ordnet Kuklinski in eine Reihe ein mit so legendären Figuren wie Oberst Oleg Penkovsky, der in der Kubakrise den Amerikanern wertvolle Informationen über das Atomraketenarsenal der Sowjetunion verriet.

    Auch für Aris Pappas, der 1981 im CIA-Büro für Sowjetanalysen mit der Auswertung aller Informationen über das Kriegsrecht in Polen beauftragt war, zählt Kuklinski zu den zwei oder drei Topagenten, die je für den Westen und die USA gearbeitet haben.

    Penkovsky wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Kuklinski wurde zum Tode verurteilt und später rehabilitiert, nicht zuletzt aufgrund der Intervention von Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater Jimmy Carters. Kuklinski, sagt er, habe große Opfer gebracht und sein Leben aufs Spiel gesetzt.

    Radek Sikorski, ehemaliger stellvertretender polnischer Außen- und Verteidigungsminister, sieht in Kuklinski eine tragische Figur, vergleichbar mit dem deutschen Widerstandskämpfer, Claus Graf Schenk von Stauffenberg.

    Er habe die schwierige moralische Entscheidung getroffen, den Staat, dessen Uniform er trug, zugunsten seines Landes und seines Volkes zu verraten.

    Es gibt zwei Männer, denen Kuklinski besonders vertraute und die ihm nahe standen. Der eine ist Benjamin Weiser, Reporter der New York Times und Autor des Buchs "A Secret Life" . Er lernte Kuklinski 1992 kennen, als er noch bei der Washington Post war.

    Absolut fasziniert war er von seiner Geschichte, von der damals nur Bruchstücke bekannt waren. Kuklinski lebte zu dem Zeitpunkt bereits in Amerika, unter dem Schutz der CIA, mit einer neuen Identität, die er nach seiner Ausschleusung 1981 aus Warschau erhalten hatte. Wie er später erfuhr, war die CIA dagegen, dass ihr Ex-Agent mit dem Reporter redete, überließ Kuklinski jedoch die Entscheidung. Und der wollte rede, seine Geschichte erzählen, seine Gründe für sein Verhalten darlegen. Und so trafen sich die beiden in einem kleinen Hotelzimmer in einem Vorort von Washington in Virginia und begannen eine Unterredung, die, so sagt Weiser, mehr als zehn Jahre andauerte.

    Die andere Vertrauensperson in Kuklinskis Leben war David Forden, ehemaliger Büroleiter der CIA in Warschau. Ihm gaben seine Vorgesetzten den Auftrag, Kuklinski als "case officer" zu betreuen. Mehr als 30 Jahre später erinnert sich Forden noch genau an seine erste Begegnung mit Kuklinski. Sie fand statt in einer konspirativen Wohnung in Hamburg, im Juni 1973.

    Anders als die beiden als Armeeoffiziere getarnten CIA-Mitarbeiter beim ersten Treffen in Den Haag, beschloss Forden, sich als CIA-Mann vorzustellen. "Ich wollte ihn nicht über einen längeren Zeitraum hinters Licht führen", sagt Forden. "Mir war wichtig, dass Kuklinski volles Vertrauen zu uns hatte." Und so stellte er sich auf polnisch vor als "Daniel von der CIA".

    Als Decknamen benutzte David Forden den Vornamen seines Sohnes. "Zwischen Daniel und P.V. - PV stehe für Polnischer Wikinger" sagte er einmal lachend - sollte sich in den folgenden Jahren ein ungewöhnlich enges, freundschaftliches Verhältnis entwickeln. Kuklinski habe außer ihm niemanden in Warschau gehabt, dem er sich in seiner fast zehnjährigen Agententätigkeit habe anvertrauen können, sagt Forden. Sogar seiner eigenen Familie habe er sein Geheimnis erst in den letzten Tagen vor seiner Ausschleusung verraten.

    In Benjamin Weisers Buch "A Secret Life" ist der Briefwechsel zwischen Daniel und Kuklinski nachzulesen. Briefe zwischen Freunden und immer wieder der Rat von Daniel an Kuklinski, nicht unvorsichtig zu handeln, keine unnötigen Risiken einzugehen.

    Deine Sicherheit, Dein Wohlergehen und das Deiner Familie haben absoluten Vorrang. Natürlich werden wir jedes Deiner Päckchen studieren und von den Unterlagen profitieren, die Du so geschickt ausgewählt und kopiert hast. Sie werden wie immer von größtem Wert für meine Regierung sein. Aber immer schauen wir beim Öffnen der Sendungen jedesmal nach einer persönlichen Mitteilung von Dir, um zu erfahren, ob Du ok bist.

    Dabei war sich Kuklinski der Gefahr, der er sich durch seine Agententätigkeit aussetzte, durchaus bewusst. Er habe viel darüber nachgedacht, wie er seine Familie vor dem Schlimmsten bewahren könne, schreibt er in einem Brief an Daniel.

    Ich glaube nicht, dass Sie ahnen, wenn ich das Haus für meine kurzen riskanten Begegnungen verlasse, dass ich mich jedes Mal innerlich von Ihnen verabschiede. Wenn alles gut geht und ich sicher zurückkehre, kann ich kaum verbergen, wie froh ich bin.

    Ryszard Kuklinski machte Karriere im Verteidigungsministerium in Warschau. Er wurde mit der Planung von Militärmanövern des Warschauer Pakts betraut und schließlich stellvertretender Chef der Hauptverwaltung Operationen sowie Verbindungsoffizier zwischen dem polnischen Generalstab und dem Warschauer Pakt. Sein Auftrag, so wurde ihm gesagt, sei die Vorbereitung eines Krieges gegen den Westen. Eines Angriffskriegs.

    1968 erlebte er den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei und nahm mit Empörung zur Kenntnis, dass polnische Truppen an der Invasion des Nachbarlandes beteiligt waren. Als zwei Jahre später, im Dezember 1970, die polnische Regierung der Armee den Befehl erteilte, auf streikende polnische Hafenarbeiter zu schießen, stand Kuklinskis Entschluss fest. Doch nicht an Spionage dachte er, wie Benjamin Weiser betont, und nicht an die CIA. Im Fall eines sowjetischen Angriffs auf Westeuropa wollte er zusammen mit anderen gleichgesinnten polnischen Offizieren dafür sorgen, dass Natotruppen ungehindert ins Land einrücken konnten.

    Diesen Plan trug er den beiden US-Armeevertretern bei seinem Geheimtreffen im August 1972 in Den Haag vor. Doch sie verwarfen ihn als unrealistisch und überredeten Kuklinski, auf seinem Platz zu bleiben und die Amerikaner auf dem laufenden zu halten. Um Kontakt zur US Army aufzunehmen, hatte sich Kuklinski bei seinem Dienstvorgesetzten grünes Licht für eine Aufklärungsfahrt mit acht oder neun Offizieren durch deutsche und holländische Häfen geben lassen. Das Schiff, ein im Zweiten Weltkrieg versenktes deutsches Segelboot, hatte er selber umgebaut und seetüchtig gemacht. Er taufte es auf den Namen "Legia", Legende. Am 11. August 1972 legte die "Legia" in Wilhelmshaven an. Und hier schrieb er den Brief, mit dem die Operation "Gull" (Möwe) begann, der Codename, den die CIA Kuklinski gab.

    Im Sommer 1980 hatte sich die Lage in Polen dramatisch zugespitzt. Im Gefolge von Preiserhöhungen für Lebensmittel kam es zu Protesten und Arbeiterunruhen. Am 14. August traten 100.000 Werftarbeiter in Danzig in den Streik, nachdem eine Arbeiterin fristlos entlassen wurde, weil sie die Zeitung der Freien Gewerkschaft verteilt hatte. Solidarnosc wurde geboren.

    In seinem Buch "From The Shadows" schreibt Robert Gates, damals persönlicher Referent von CIA-Direktor Stansfield Turner, die CIA habe die Entwicklung in Polen mit größter Aufmerksamkeit verfolgt. Niemand war an ihren Analysen mehr interessiert als Präsident Carters Sicherheitsberater, Zbigniew Brzezinski. Am 3. September bat er Turner um eine Einschätzung, wie groß die Gefahr einer sowjetischen Intervention sei. Er wollte die sowjetische Führung rechtzeitig wissen lassen, dass sich die USA im Falle einer sowjetischen Invasion Polens anders verhalten würden als bei früheren Interventionen der Sowjetunion, in der Tschechoslowakei und 1956 in Ungarn.

    Nach mehreren zunehmend besorgten Einschätzungen der Lage durch die CIA übermittelte Präsident Carter am 3. Dezember Kreml-Chef Leonid Brezhnev auf der "Hotline", der direkten Fax-Verbindung zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml, eine unmissverständliche Warnung. "Unsere Beziehungen würden höchst nachteilig betroffen, wenn der polnischen Nation eine gewaltsame Lösung aufgezwungen werden sollte", hieß es in der Note. Wenige Tage später, am 7. Dezember, gab das Weiße Haus eine weitere Erklärung heraus, in der die Sowjets erneut vor den Folgen einer militärischen Intervention in Polen gewarnt wurden. Der Warnung lagen Informationen zugrunde, die Oberst Kuklinski am 4. Dezember der CIA übermittelt hatte. Doch der Einmarsch blieb aus. Waren es Carters Warnungen, die die Sowjets von der Invasion abhielten?

    Dieses Urteil könne er nicht abgeben, und diese Behauptung würde er auch nicht aufstellen, sagt Brzezinski. Neben den Warnungen des Weißen Hauses hätten die Sowjets jedoch berücksichtigen müssen, dass die USA ihre Intervention in Afghanistan, wie Brzezinski sagt, "nicht völlig passiv verfolgen" würden.

    Auch über die Vorbereitungen zur Verhängung des Kriegsrechts in Polen wurden die Amerikaner von Kuklinski aus erster Hand unterrichtet. Absolut kritisch seien seine Informationen gewesen, sagt Robert Gates, zu dem Zeitpunkt der zuständige CIA-Mann für die Sowjetunion und Osteuropa.

    Er habe ihnen einen guten Einblick in Denken und Planen der Sowjets sowie in Widerstand und Nachgeben der polnischen Führung zu verschiedenen Zeitpunkten der Krise vermittelt. Kuklinski habe mehr geliefert als nur Einzelinformationen oder Bruckstücke, sagt auch Aris Pappas, der in der CIA mit der Auswertung der Informationen über das Kriegsrecht in Polen beschäftigt war. Er habe die Entscheidungsprozesse der polnischen und sowjetischen Führung verständlich gemacht. Dieses Verständnis fehle in den meisten Geheimdienstoperationen. Da sehe man gewöhnlich nur Fragmente der Realität.

    "Strategische Transparenz" nennt Fritz Ermarth, was Kuklinski aufgrund seiner Informationen über die Sowjetunion und den Warschauer Pakt Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre vermittelt habe. Ihr größter Wert habe darin gelegen, dass die USA mit einer angespannten politischen Situation umgehen konnten, ohne Gefahr zu laufen, versehentlich oder durch Fehleinschätzung in einen Krieg zu stolpern.

    Als in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht in Polen ausgerufen wurde, befand sich Oberst Ryszard Kuklinski bereits in den USA. Anfang November hatte ihn die CIA mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen unter abenteuerlichen Umständen aus Warschau herausgeholt. In einem Dienstwagen der US-Botschaft wurden sie, in Pappkartons versteckt, nach Berlin geschleust und einige Tage später von Frankfurt aus nach Washington geflogen. So entkam Kuklinski nur knapp seiner Enttarnung. Kurz zuvor hatte der polnische Generalstab - wahrscheinlich aufgrund eines Hinweises der Sowjets - erfahren, dass die Pläne für die Ausrufung des Kriegsrechts an die CIA verraten worden waren. Kuklinski war einer der wenigen, die über das Original der Pläne verfügten. Mehr als ein Jahrzehnt lebte Kuklinski mit seiner Frau Hanka und seinen beiden Söhnen, Bogdan und Waldemar, abgeschirmt und unerkannt in den USA. Im Mai 1984 war er von einem Militärgericht in Warschau in Abwesenheit als Deserteur und Vaterlandsverräter zum Tode verurteilt worden. Und erst nach langer, kontroverser Debatte in Polen und nicht zuletzt durch persönliche Intervention Zbigniew Brzezinskis wurde das Urteil am 22. September 1997 aufgehoben. Kuklinski, so hieß es, habe aus "höherer Notwendigkeit" gehandelt. Das Ende des Falls Kuklinski, aber nicht das Ende der Debatte; denn es gab Zustimmung und Widerspruch, sagt Radek Sikorski und erinnert an eine öffentliche Erklärung von 30 pensionierten kommunistischen Generälen. "Wenn Kuklinski ein Held ist, sind wir Verräter", hätten sie gesagt, und, meint Sikorski, da sei etwas dran.

    Sechs Monate später flog Ryszard Kuklinski zum ersten Mal zurück in seine Heimat. Die Stadt Krakau hatte ihn zum Ehrenbürger ernannt. Das Ende einer, wie er sagte, 25 Jahre dauernden Reise in ein freies Polen. Im November 1999 wurde Kuklinski auf einer Konferenz der Texas A&M University in College Station für seine Verdienste gewürdigt. CIA-Direktor George Tenet pries ihn als einen Helden des Kalten Krieges, als einen Mann, der aus Überzeugung gehandelt habe und seinem Gewissen gefolgt sei auf einem Weg tödlicher Gefahren. "Er fühle sich zutiefst geehrt, seine vielen anonymen Kameraden zu vertreten, die auf beiden Seiten der Front des Kalten Krieges gedient hätten", entgegnete Kuklinski. Und mit bewegter Stimme: "Ich bin froh, dass unser langer, harter Kampf nicht nur meinem Land, sondern vielen anderen Menschen auch Frieden, Freiheit und Demokratie gebracht hat."

    Ryszard Kuklinski starb in der Nacht vom 10. auf den 11. Februar letzten Jahres im Alter von 73 Jahren in einem Militärkrankenhaus in Florida an den Folgen eines Schlaganfalls. Seine sterblichen Überreste wurden auf einem Friedhof in Warschau beigesetzt, zusammen mit seinem ältesten Sohn Waldemar. Er kam 1994 bei einem Verkehrsunfall ums Leben, sechs Monate nach dem tragischen und immer noch ungeklärten Tod seines jüngeren Bruders, Bogdan. Er wurde nach einer Taucherexpedition vor der Küste Floridas als vermisst gemeldet.