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Verschiebung von Tokio 2020
Kritik am Corona-Krisenmanagement Japans

Seit die Olympischen Spiele verschoben wurden, haben sich im Gastgeberland Japan die COVID-19-Infektionszahlen vervielfacht. Das nährt Zweifel. Haben die Offiziellen über weite Strecken Gesundheitsrisiken vernachlässigt, um Tokio 2020 zu retten?

Von Felix Lill |
Der Gouverneur von Tokio, Yuriko Koike, der Präsident von Tokio 2020, Yoshiro Mori, der Präsident des IOC, Thomas Bach, und der japanische Premierminister, Shinzo Abe, nehmen an der Zeremonie "One Year to Go" für die Olympischen Spiele von Tokio 2020 teil.
Kritiker werfen Japans Regierung vor, zu spät auf die Coronakrise reagiert und zu lange an Olympia 2020 festgehalten zu haben: Links Tokios Gouverneurin Yuriko Koike, Tokio 2020-Präsident Yoshiro Mori, IOC-Präsident Thomas Bach, Regierungschef Shinzo Abe. (picture-alliance / Zuma Press / Rodrigo Reyes Marin )
Eine Zeitlang sah es so aus, als wäre Japan von Covid-19 kaum betroffen. Als es in vielen Teilen der Welt schon längst Ausgangssperren gibt, da läuft der Alltag im Land noch recht unverändert weiter. Die Behörden sagen zwar ab Februar diverse Sportevents ab. Aber das größte von allen sollte stattfinden: Die Olympischen Spiele, so betonen die Organisatoren wochenlang, würden ganz bestimmt im Juli dieses Jahres starten.
Bis dann das IOC und Premierminiser Shinzo Abe am 24. März entschieden, Tokio 2020 in den Sommer 2021 zu verschieben. Seitdem sieht vieles anders aus. Die Zahl bestätigter Infektionsfälle hat sich von rund 2.000 bis zum Ende dieser Woche auf über 10.000 verfünffacht.
Anfang April ruft Premierminister Shinzo Abe den Ausnahmezustand für die größten Metropolregionen aus. Diese Woche hat er die Maßnahme auf das ganze Land ausgeweitet. Mittlerweile werden die Menschen auch in Japan dazu angehalten, zuhause zu bleiben.
Olympische Ringe vor dem Olympiastadion in Tokio.
Olympische Ringe vor dem Olympiastadion in Tokio (imago images / Sven Simon)
Umfrage: Ausnahmezustand hätte früher kommen sollen
Und im Land kommen Zweifel auf. Laut einer Umfrage des öffentlichen Rundfunksenders NHK finden drei Viertel, der Ausnahmezustand hätte früher verhängt werden sollen. Die Gesundheitskrise hält man also für verschleppt. Und noch vor der Olympia-Verschiebung hatten zwei Drittel in einer Umfrage von Yahoo Japan angegeben, dass sie "Tokio 2020" gar nicht mehr wollen. Denn viele glauben, das lange Festhalten am Olympiaplan und die späte Reaktion auf die Gesundheitskrise hängen zusammen.
"Politisch betrachtet ist es unnatürlich und schwer vorstellbar, dass die beiden Dinge nichts miteinander zu tun haben. Premierminister Abe und Tokios Gouverneurin Koike wollten die Olympischen Spiele unbedingt dieses Jahr veranstalten. Es ging ihnen um Wirtschaftspolitik und ihr Ansehen in der Öffentlichkeit. Auch als sie ahnten, dass sich dieser Plan wegen des Coronavirus vielleicht nicht umsetzen lässt, warteten sie trotzdem noch ab, ehe sie deutliche gesundheitspolitische Entscheidungen fällten. Sie wollten Tokio 2020 unbedingt retten", sagt Koichi Nakano.
Der Politikprofessor der Sophia Universität in Tokio gehört zu den profiliertesten Kritikern der Regierung um Shinzo Abe. Nakano glaubt, dass der politischen Elite und den Olympiaveranstaltern ihre eigenen Anliegen wichtiger sind als die Gesundheit der Bevölkerung.
Zu wenig Tests
Schließlich reize Japan inmitten der Coronakrise seine Testkapazitäten nicht aus, so dass die Dunkelziffer von Infektionsfällen ein Vielfaches sein könnte. Während Japan bis Ende März auf kaum 30.000 Tests pro Woche kam, sind es mittlerweile rund 70.000 pro Woche. Zum Vergleich: Deutschland hat allein letzte Woche 360.000 Tests durchgeführt. Die Situation in Japan hat also lange Zeit deutlich besser ausgesehen, als sie wirklich war.

Auch Hitoshi Oshitani, Virologieprofessor an der Tohoku Universität in Sendai und Mitglied des Krisenstabs der Regierung, hat schon früh vor dem Virus gewarnt. Schon im Februar, also rund einen Monat vorm Beschluss zur Verschiebung, hatte Oshitani die geplante Austragung von Olympia für unrealistisch gehalten. Aber dass Japans Offizielle bis dahin bewusst Risiken vernachlässigt haben, verneint er.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
Alle Beiträge zur Corona-Pandemie (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
"Von Anfang an haben wir versucht, Menschen zu retten und nicht die Olympischen Spiele. Und jetzt wird der aktuelle Zustand, mit den Anweisungen an die Menschen, möglichst zuhause zu bleiben, wohl mindestens zwei Monate andauern. Es stimmt, dass wir das Ausmaß unserer Tests nicht besonders erhöht haben. Wir glauben, dass das auch nicht nötig ist. Wir verfolgen stattdessen die Kontaktpersonen der bestätigten Infektionsfälle, um Cluster zu erkennen. In den Clustern testen wir also intensiver. Dass wir dadurch Fälle übersehen, ist richtig. Aber das ist überall auf der Welt so."
Kritiker sehen Parallelen zum Umgang mit Fukushima
Nicht für alle Beobachter klingt dieser Ansatz nach bloßer Pragmatik im Krisenmanagement. Kritiker erkennen darin auch ein Wegsehen oder sogar Verharmlosung – und damit Parallelen zur Atomkatastrophe von Fukushima im Frühling 2011. Damals hätten die Verantwortlichen die Risiken lange Zeit heruntergespielt, meint auch Koichi Nakano.
"Es ist jetzt wieder wie mit der Atomkatastrophe in Fukushima. Die Regierung setzte als Experten vor allem Atomphysiker ein, die den Menschen fälschlicherweise sagten, alles sei nicht so schlimm. Sie sprachen in Fachwörtern und arbeiten für die Ziele der Regierung. Zu deren Zielen gehörte aber, trotz allem an der Atomkraft festzuhalten. Diesmal ist es ähnlich: das Ziel der Regierung war, Olympia stattfinden zu lassen, weil das für die Politik- und Wirtschaftselite wichtig war. Deshalb wurde weggesehen, solange es nur ging. Es wird weniger getestet, als möglich wäre. So sieht die Gesundheitssituation besser aus, als sie ist."
Schwere Vorwürfe
Es sind schwere Vorwürfe: Ihre eigenen politischen Anliegen sind den Entscheidern wichtiger als die Gesundheit der Bevölkerung? Nach einer Anfrage ans Tokioter Organisationskomitee erhält man zumindest nicht den Eindruck, als wäre Gesundheit das oberste Kriterium gewesen. In einer Stellungnahme vom 31. März per E-Mail zu den Gründen, die den Ausschlag für die Olympia-Verschiebung gegeben haben, heißt es:
"Während es derzeit keine Gegenden in Japan gibt, wo viele Infektionsfälle bestätigt sind, mussten weltweit viele Qualifikationsevents abgesagt werden, weil sich in vielen Ländern das Virus verbreitet hat. Einige Athleten und Nationale Olympische Komitees haben außerdem bekanntgegeben, dass sie unter den aktuellen Umständen nicht trainieren können. Und diese neue Situation hat uns große Sorgen gemacht."
Dass die Olympia-Verschiebung auch früher hätte beschlossen werden können, scheint zumindest auch der Regierungsberater Hitoshi Oshitani zu denken. Er sagt, er habe schon im Januar vorhergesagt, dass es zu einer Pandemie kommen würde. Nun gelte es, die Schäden möglichst geringzuhalten. Auf die Frage, ob denn ein Olympiastart im Juli 2021 realistisch sei, sagt er:
"Kein Kommentar. Das hängt noch von vielen Dingen ab."