Sonntag, 05. Mai 2024

Archiv


Verschlusssache Schießbefehl

Bei blutigen Straßenkämpfen nach dem Sturz des rumänischen Diktators Ceausescu im Dezember 1989 wurden rund tausend Menschen getötet. Doch wer hat die Schießbefehle aufs Volk zu verantworten? Die rumänische Justiz ist bis heute den Angehörigen der Revolutionstoten eine Antwort schuldig geblieben. Die Mutter eines Getöteten kämpft dagegen seit Jahren an.

Von Annett Müller | 21.12.2011
    Elena Vlase putzt den weißen Marmor blank, ordnet die roten Rosen neu - auf dem Grab ihres Sohnes. Mitten in der Innenstadt von Brasov ist er beerdigt. Auf dem Heldenfriedhof, den man genau dort angelegt hat, wo es Ende Dezember 1989 in der Stadt zu blutigen Unruhen gekommen war. Der Junge von Elena Vlase starb bei den Revolutionskämpfen mit gerade einmal 19 Jahren:

    "Es hätte damals niemand mehr sterben müssen, denn der Diktator war doch bereits gestürzt. Das haben wir doch im Fernsehen gesehen. Überall gab es Freudentaumel. Mein Junge hatte noch gesagt, ehe er loszog, wir haben es geschafft, wir sind den Tyrannen los."

    Der Tod des Jungen in Brasov war kein Einzelfall. Rund tausend Menschen starben bei den schweren Straßenkämpfen zwischen Militär, Geheimdienst und Bevölkerung. Und dass, obwohl der berüchtigte Diktator Nicolae Ceausescu bereits am 22. Dezember 1989 gestürzt und verhaftet worden war. Wozu also noch die tagelangen Kämpfe? Das war reine Manipulation, meint der Historiker Ioan Stanomir vom Bukarester Institut zur Aufarbeitung kommunistischer Verbrechen:

    "Das neue Regime brauchte damals Todesopfer, um seine neu gewonnene Macht zu legitimieren. Es hieß, schaut her, hier gibt es noch fanatische Anhänger von Ceausescu, aber wir wehren uns gegen sie. Man wollte sich mit einer Aura des Widerstands umgeben. Eine völlig trügerische Aura, denn die neuen Machthaber waren ja selbst Teil des kommunistischen Systems gewesen."

    Seit der Wende kämpft Elena Vlase darum, zu erfahren, unter welchen Umständen ihr Junge bei der Revolution sterben musste. Im Totenschein steht, er sei an einem Knieschuss verblutet. Wer geschossen hat, ist völlig ungeklärt. Jahrelang hieß es von der zuständigen Militärstaatsanwaltschaft, man werde den Fall Vlase aufklären. Eine dreiste Lüge, wie ein juristischer Kontrollrat später herausfand: In den 90er-Jahren hatten die Behörden die Ermittlungen heimlich eingestellt, weil es angeblich keinen Schuldigen gebe. Elena Vlase wurde nicht darüber informiert:

    "Wenn eine Familie ein Kind verliert, dann erlebt sie einen großen Schmerz. Aber wissen Sie, was noch schmerzhafter ist? Wenn man merkt, dass sich am System nichts geändert hat. Man sucht auf allen Wegen nach der Wahrheit, doch man findet sie nicht, weil alle zusammenhalten."

    Vor knapp zehn Jahren wurde der Fall neu aufgerollt. Doch blieb er wie die Mehrheit der Todesfälle aus den Revolutionstagen bis heute ungelöst. Der inzwischen pensionierte Staatsanwalt Dan Voinea hat zuletzt die Ermittlungen geführt, Zeugen verhört, die Tatorte untersucht, um herauszufinden, wer die Schießbefehle aufs Volk gegeben hat. Rumänische Medien berichteten, er habe dabei dilettantisch gearbeitet, zahlreiche Formfehler gemacht und so die Recherchen verzögert. Voinea will davon nichts wissen. Er sieht einen anderen Grund, warum bis heute niemand vor Gericht gekommen ist:

    "Ich habe die Ermittlungen abgeschlossen, jetzt sind die Militärrichter am Zug, doch sie tun nichts. Aus einem ganz einfachen Grund. Die Generäle, die zur Verantwortung gezogen werden müssten, haben weiterhin hohe Posten. Es ist sind die Freunde und Kollegen der Militärrichter. Deshalb werden sie von ihnen nicht vor Gericht gestellt."

    Wegen der schleppenden Aufarbeitung ist Elena Vlase vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gezogen, wie hundert andere Rumänen. Mit Erfolg. Die Straßburger Richter urteilten kürzlich, Opfer und Angehörige hätten ein Recht darauf, die Wahrheit über die 89er-Revolution zu erfahren. Vlase kommt fast täglich zum Heldenfriedhof. Sie wird in dieser Woche wieder frische Blumen bringen, auch weil sich der Todestag ihres Jungen jährt. Sie hat unlängst Post von der rumänischen Staatsanwaltschaft bekommen - als Reaktion auf das Straßburger Urteil. Im Brief heißt es, man sei mit den Ermittlungen kurz vor dem Abschluss. Ein Satz, den sie nun schon seit 22 Jahren hört.