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Verschuldet, EU-kritisch, unberechenbar
Ist Italien das neue Griechenland?

Unterdurchschnittliches Wirtschaftswachstum, hohe Jugendarbeitslosigkeit, 2,2 Billionen Euro Schulden: Viele Italiener machen die EU für den Zustand ihres Landes verantwortlich. Analysten hingegen sehen Italiens Politik als größten Risikofaktor. Denn viele der Probleme des Landes sind hausgemacht.

Von Brigitte Scholtes und Kirstin Hausen | 17.08.2018
    Die Flaggen Italiens und der Europäischen Union (EU) wehen über dem Eingang eines Gebäudes in Rom,
    Italien ist mit 2,2 Billionen Euro verschuldet - und gilt in der Eurozone als wohl größter Unsicherheitsfaktor (dpa / Soeren Stache)
    Ein Supermarkt vor den Toren Mailands. Es ist Samstag und viele Familien machen hier den Wocheneinkauf. Eine Mutter schiebt den zur Hälfte gefüllten Einkaufswagen zur Kasse, sie überschlägt im Kopf, was sie wohl bezahlen wird – und seufzt.
    "Nudeln, Brot, Milch, Wasser, Obst und Gemüse – das ist alles teurer als früher. Mit 150 Euro kommt man heute nicht mehr weit."
    Früher – das bedeutet: vor der Einführung des Euro im Jahr 2002. Für viele italienischen Verbraucher war die Übernahme der Gemeinschaftswährung im Rückblick der Beginn einer Leidensgeschichte, die immer noch anhält. Obwohl die Italiener emotional nicht so an ihrer Lira hingen wie die Deutschen an ihrer D-Mark. Obwohl man damals stolz war, dabei zu sein - schließlich gehört Italien zu den Gründerstaaten der Europäischen Union. Aber die Preise vor allem für Lebensmittel sind mit dem Euro stark gestiegen, haben sich teilweise verdoppelt. Die Löhne und Gehälter dagegen nicht.
    Schwindende Europa-Begeisterung
    Und so hat sich Italiens Europabegeisterung im Laufe der Jahre verflüchtigt. EU-kritische Parteien profitieren davon, denn ein Teil der Bevölkerung steht dem Euro und der EU inzwischen sehr kritisch gegenüber. Roberto Trefiletti von Italiens größtem Verbraucherverband versteht das.
    "Im Jahr 2000, 2001 waren die Bürger positiv eingestellt und zuversichtlich. Es herrschte Vorfreude auf den Euro, es war als würde ein Traum wahr.
    Heute sieht die Sache anders aus. Italiens Staatsverschuldung ist exorbitant gestiegen und unsere Söhne haben keine Arbeit, weil sich die Arbeitslosigkeit bei den jungen Italienern im Vergleich zu damals verdoppelt hat, von 20 auf 40 Prozent."
    Der Traum ist geplatzt – und schuld daran sind die EU und der Euro. Auf diese einfache Formel bringen es nicht nur die Menschen, die an der Supermarktkasse zähneknirschend in Euro zahlen, sondern auch diejenigen, die das Land heute regieren. Seit gut zwei Monaten ist die Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung und rechter Lega im Amt. Eine populistische Regierung, die als anti-europäisch und für Brüssel als unberechenbar gilt, weil sie von staatlicher Ausgabendisziplin wenig hält.
    Die EU als Sündenbock
    Innenminister von der Lega hat jahrelang gegen den Euro gewettert und ihn kurzum zum Sündenbock für alle wirtschaftlichen Probleme Italiens gemacht. Selbst den tragischen Brückeneinsturz von Genua lastete er in dieser Woche der EU mit an: Brüsseler Sparvorgaben – so erklärte es Salvini - seien mitverantwortlich für die marode Infrastruktur seines Landes.
    Salvini bei der Vereidigung der neuen Regierung Anfang Juni
    Italienischer Hardliner: Innenminister Matteo Salvini (imago / Xinhua)
    "Worüber ich als Minister und italienischer Bürger nachdenke ist, warum viele Schulen, Krankenhäuser und Autobahnen instand gesetzt werden müssen. Aber oft heißt es, wir können dieses Geld nicht ausgeben, weil es europäische Hindernisse gibt, das Defizit, das Bruttoinlandsprodukt."
    Hausgemachte Probleme
    Was er verschweigt, ist die Tatsache, dass Italiens Wirtschaft vor der Euroeinführung auf dem Weltmarkt nur konkurrenzfähig bleiben konnte, weil die Lira abgewertet wurde. Das half damals, um grundsätzliche strukturelle Probleme wie eine niedrige Produktivität, hohe Lohnnebenkosten und zu viel Bürokratie nicht angehen zu müssen. Dass diese Probleme aber hausgemacht sind und wenig mit dem Euro zu tun haben – davor verschließen auch die meisten italienischen Politiker bis heute die Augen. Denn sie haben es versäumt, notwendige Reformen beizeiten einzuleiten. Stattdessen wird die Schuld auf andere abgeschoben – am liebsten auf die EU und den Euro. Die Unternehmerin Maria Xenia D'oria hält das für kurzsichtig.
    "Das Leben war einfacher mit der Lira, aber das liegt nicht am Euro, sondern an den veränderten Bedingungen, mit denen wir heute zu tun haben. Die Welt war weniger globalisiert, das heißt, die Märkte waren abgeschotteter als heute und das hat die italienische Wirtschaft geschützt.
    Wir haben unsere Produkte damals leichter verkaufen können, aber das hat nicht mit der Währung zu tun, sondern mit der gestiegenen Konkurrenz aufgrund der Globalisierung."
    Erinnerungen an die Griechenland-Krise
    Die Umstellung auf den Euro brachte zunächst Vorteile, dann aber ging es abwärts. Erinnerungen an die Griechenland-Krise drängen sich auf. Drei Hilfspakete waren in den vergangenen acht Jahren für die Griechen geschnürt worden, um einen Staatsbankrott abzuwenden. Am 20. August läuft das letzte aus. Nun blicken europäischen Politiker und auch die Finanzmärkte sorgenvoll auf Italien – doch ist die Lage dort mit Griechenland vergleichbar?
    Olivenöle und verschiedene Konserven in einem italienischem Supermarkt.
    Kunden in Italien machen die EU für die hohen Lebensmittelpreise verantwortlich (picture alliance / dpa/ Lars Halbauer)
    Michael Heise, Chefvolkswirt des Versicherungskonzerns Allianz, winkt ab: An der Ägäis habe es nach der Euro-Einführung einen regelrechten Boom gegeben, Bruttoinlandsprodukt und die Verschuldung auch im privaten Sektor seien sehr rasch gewachsen:
    "Die Löhne stiegen rasant an in Griechenland, sodass man in eine riesige Blase hinein lief, in ein makroökonomisches Ungleichgewicht. Das hat sich in Italien nie entwickelt in den ersten Jahren des Euro-Zeitalters. Und insofern hat Italien nicht diese Auf- und Ab-Bewegungen mitgemacht, die Griechenland gemacht hat. Die in Griechenland dann schweren Schaden verursacht haben."
    Anders als Griechenland ist Italien Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und es war – anders als Griechenland – auch von Anfang an in der Währungsunion dabei. Die meisten Italiener hatten großes Interesse an einer Aufnahme, obwohl Deutschland damals vor über 16 Jahren sehr skeptisch war. Erinnert sich Michael Hüther, Direktor des IW, des unternehmensnahen Instituts der Deutschen Wirtschaft:
    "Man kann sich noch erinnern wie am Rande einer, ich meine Haushaltsausschuss-Sitzung des Deutschen Bundestages Theo Waigel, damals Bundesfinanzminister, gesagt hat: er könne sich nicht vorstellen, dass bei den finanzpolitischen Indikatoren Italien beim Start dabei sei. Das hat einen Aufruhr in Öffentlichkeit und Medien vor allem in Italien ausgelöst, und damit war das Thema quasi weg, das nur mal versucht zu haben anzudeuten, dass es auch ohne Italien gehen könnte."
    Bundesbank warnte damals vor Italien-Aufnahme in die Währungsunion
    Theo Waigel konnte sich damals auch auf die Warnung der Deutschen Bundesbank berufen. Die Zentralbank hatte für die Bundesregierung einen Bericht zur Konvergenzlage in der Europäischen Union erstellt und untersucht, wie weit die Mitgliedsländer die Stabilitätskriterien erfüllten, die im Maastrichter Vertrag festgelegt worden waren. Im Bericht hieß es:

    "Hinsichtlich der Voraussetzung einer auf Dauer tragbaren Finanzlage der öffentlichen Hand bestehen allerdings im Falle Belgiens und Italiens ernsthafte Besorgnisse. Diese ließen sich nur ausräumen, wenn zusätzliche substanzielle Verpflichtungen verbindlich eingegangen werden."
    Deutlicher hätte die Bundesbank ihre Bedenken kaum vortragen können. Das hörte man in Italien natürlich nicht gern. Helmut Kohl war es schließlich, der gegen heftigen Widerstand im eigenen Land darauf bestand, dass Italien in die Währungsunion aufgenommen wird. Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums am IfW, am Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel:
    Obere Hälfte einer italienischen Ein-Euro-Münze vor schwarzem Hintergrund
    Italiens Wirtschaft fehle der Leistungsgedanke, kritisieren Finanzexperten (picture alliance / Karl-Josef Hildenbrand)

    "Dann hat sich eben doch die sogenannte politische Sichtweise durchgesetzt und über die ökonomischen Kriterien hinweggesetzt, sodass Italien dann auf eigenen Wunsch beim Start des Euro dabei sein konnte."
    ARCHIV - Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU)
    Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl bestand auf Italien als Gründungsmitglied der europäischen Währungsunion (dpa /Uwe Anspach)
    Währungsunion nach deutschem Vorbild
    Nüchtern betrachtet sprachen die Zahlen schon damals Bände: So listete die Europäische Zentralbank in ihrem Jahresbericht für 1998 die Bruttoverschuldung der Gründungsmitglieder der Währungsunion auf: Italien lag damals schon an der Spitze mit einer Quote von 118,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Schulden konnten aufgehäuft werden, weil die italienische Notenbank immer wieder Lira druckte. Italien habe eine "andere monetäre Tradition", wie Kooths das nennt - eine andere als zum Beispiel Deutschland. Nach deutschem Vorbild gestaltet wurde dann die Währungsunion: Geld drucken, um Strukturprobleme zu übertünchen – genau das sollte nicht mehr möglich sein im europäischen Währungsraum, darauf hatte man sich damals verständigt.
    "Da gab es natürlich zu Recht Bedenken auch in Italien, ob man denn praktisch den Schalter einfach umlegen kann, um von einer geldpolitischen Tradition nahezu über Nacht in ein völlig neues Regime zu wechseln, und diese Befürchtungen scheinen sich jetzt doch bewahrheitet zu haben."
    Italiens Anfangselan ging schnell verloren
    Dabei hatten sich die Italiener schon in den 1990er-Jahren bemüht, die schlimmsten Auswüchse der italienischen Wirtschaft in den Griff zu bekommen, erinnert sich Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft. Fatal war bis zu diesem Zeitpunkt die feste Koppelung der Lohn- an die Preisentwicklung. Diese Bindung hob man auf:
    "Man hat eine konzertierte Aktion gegründet als neuen Rahmen für Tarifbeziehungen. Und im Ergebnis drehte sich auch die Handelsbilanz. Die war seit 1970 chronisch defizitär und Italien hatte 1993 dann auf einmal einen beachtlichen Überschuss."
    Dieser Elan aber sei in Rom bald verloren gegangen, obwohl Zinsen und Inflation mit Beginn der Währungsunion stark gesunken waren. Italien sei damals eigentlich auf einem guten Weg gewesen. Und habe dann Vertrauen wieder verspielt. Diese Analyse deutscher Ökonomen wie Michael Heise von der Allianz fällt ganz nüchtern aus.
    "Leider hat Italien dann diese Möglichkeiten nicht genutzt, die der Euro ihm gegeben hat, insbesondere im Hinblick auf die Konsolidierung der Staatshaushalte. Italien war halt viele, viele Jahre im gelben, wenn nicht im roten Bereich, was die finanzpolitische Entwicklung angeht. Und der Zinsrückgang hätte da ein viel forscheres Vorgehen und eine stärkere Konsolidierung ermöglicht. Aber die ist aus politischen Gründen in Italien nicht wahrgenommen worden."
    Unpopuläre Reformen
    Einzelne wirksame Reformen immerhin hat es gegeben. Die aber gelten in weiten Teilen Italiens als unpopulär: Die Rentenreform etwa, weil sie eine Anhebung des Renteneintrittsalters versieht. Oder die Arbeitsmarktreform, die den bisher rigiden Kündigungsschutz lockert und befristete Arbeitsverträge vorsieht. Die amtierende Regierung hat bereits angekündigt, diese Reformen kippen zu wollen.

    "Das wäre sehr schädlich. Man darf nicht übersehen, dass der Beschäftigungsstand in Italien in den letzten Jahren seit dem sogenannten Jobs Act im Jahr 2014 drastisch angestiegen sind. Der Beschäftigungsstand ist jetzt höher als im Jahr 2007 vor der Krise in Italien. Und das geht schon auch auf die Liberalisierung oder Reformen, wie man es nennen will, am Arbeitsmarkt zurück. Man sollte das bitte nicht zurückdrehen."
    Italiens Ministerpräsident Conte bei seiner Antrittsrede vor dem Senat in Rom
    Italiens Ministerpräsident Conte. Die Politik sei der größte Risikofaktor für das Land, glauben Analysten (AFP / Andreas Solaro)
    2,2 Billionen Euro Schulden
    Denn mittlerweile - die Zahlen stammen von 2017 - ist Italien mit mehr als 2,2 Billionen Euro verschuldet. Das entspricht mehr als 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Eigentlich sind laut Maastrichter Vertrag in der EU nur 60 Prozent erlaubt. Die Defizitgrenze allerdings, also die Neuverschuldung des Haushalts, hält Italien gut ein. Erlaubt sind nach EU-Vorgaben drei Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Italien lag zuletzt bei nur 2,3 Prozent.
    Trotzdem sucht die populistische Regierung aus Lega und Fünf-Sterne-Bewegung jede Gelegenheit, in Brüssel auf Ausnahmen zu dringen. Die Defizitgrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts sei ihm egal, wenn es um die Interessen der Italiener gehe, greift Innenminister Salvini die EU immer wieder an:
    "Wirtschaft findet im wahren Leben statt. Und wenn mir gesagt wird, die Lira sei eine unbedeutende, schwächliche, inflationäre Währung gewesen, so frage ich zurück, ob es einfacher war, damals ein Haus abzuzahlen oder heute? Ob es damals mehr Arbeitsplätze gab oder heute? Ob man damals am Monatsende noch was zum Sparen übrig hatte oder heute. Wirtschaft ist die Frage: Was kann ich mir von meinem Geld kaufen - und da hat Europa versagt."
    Kein Euro-Austritt Italiens geplant
    Von Euro-Austritt aber sprechen italienische Regierungspolitiker nicht mehr – zumindest nicht öffentlich. Die Diskussion darüber schon während der Koalitionsverhandlungen im Mai hatte an den Finanzmärkten zu einer eindeutigen Reaktion geführt: Die Renditen der Staatsanleihen schossen in die Höhe. Was immer ein Zeichen dafür ist, dass die Finanzmärkte ein Risiko höher einschätzen. In diesem Fall das Risiko, dass der italienische Staat die Schulden bei den Gläubigern nicht zurückzahlen kann. Ist Italien also ein Problem für den Euroraum? Marija Kolak, Präsidentin des Bundesverbands deutscher Volks- und Raiffeisenbanken:
    "Aufgrund der Größe des Landes, der hohen Staatsverschuldung und der Risiken im Bankensektor können die Wirtschaftsentwicklung und die Finanzstabilität im Euroraum beeinträchtigt werden.
    Eine Warnung ist hier die Entwicklung der Staatsanleiherenditen seit der Bildung der italienischen Regierung Anfang Juni."
    Sorgenkind Bankensektor
    Italien als drittgrößte Volkswirtschaft im Euroraum könnte diesen zumindest stark gefährden. Im Krisenfall müssten zunächst die Banken stabilisiert werden, denn die haben 630 Milliarden Euro an italienischen Staatsanleihen im Depot. Der Bankensektor gebe noch immer Anlass zur Sorge, meint Stefan Kooths vom Kieler Institut für Weltwirtschaft:
    "Wir müssten uns schon große Sorgen machen, was passiert wenn der derzeitige konjunkturelle Aufschwung an sein Ende kommt. Dann werden die Fragezeichen hinter Italien wieder sehr, sehr groß."
    Im September will die neue Regierung ihren Haushaltsentwurf für das kommende Jahr ins Parlament einbringen. Im Wahlkampf hatten die Populisten niedrigere Steuern, höhere Sozialleistungen, frühere Rente versprochen – nur Sparen war nicht vorgesehen. In der EU schrillten die Alarmglocken.
    Nun heißt es aus Rom, man wolle umfassende Reformen einleiten und zugleich die Staatsverschuldung reduzieren. Michael Heise von der Allianz bleibt skeptisch:
    "Insofern ist da ein großes Risiko auch für den Herbst, wenn eben die Budgetpläne dann vorgelegt werden, dass Italien weiter abgestraft wird von den Finanzmärkten. Ich denke, dass dies die Regierung weiß und gerade dieser Druck der Kapitalmärkte sie da abhalten wird, allzu drastische Pläne auch umzusetzen, die Italien bei der Schuldenpolitik wieder zurückwerfen würden. Insofern ist das Szenario noch ein optimistisches. Aber ein Risiko ist sicherlich da."
    Besuch in einem mittelständischen Betrieb. Die Gerberei Bonaudo in der Lombardei ist eine der modernsten Italiens. Blank geputzter Boden, Walzen und Fässer, die sich langsam um die eigene Achse drehen wie Betonmischer. Der Wasserverbrauch wurde in den vergangenen fünf Jahren um 30 Prozent gesenkt, das Abwasser verlässt die Fabrik bereits geklärt. Trotzdem habe die Branche ein Imageproblem, sagt Gerbereibesitzer Alessandro Illiprandi
    "Wir leiden heute noch unter dem Vorurteil, dass die Lederindustrie die Umwelt verschmutzt und eine Gerberei dreckig ist und stinkt. Das entspricht aber überhaupt nicht mehr der Realität. Wer heute Leder produziert, muss sich an strenge Umwelt-Auflagen halten und das ist auch richtig so."
    Denn nur so könne er sich auf dem Weltmarkt behaupten, erklärt Alessandro Iliprandi, der ausschließlich Leder für Luxusprodukte produziert.
    Italiens Lederindustrie ist mit 17.000 Beschäftigten ein wichtiger Wirtschaftszweig, die Ware ist qualitativ hochwertig, 70 Prozent werden exportiert.
    "In Italien ist Leistung fast eine Sünde"
    Eigentlich eine Erfolgsstory. Doch es gibt viele Hindernisse. Beispielsweise die Bürokratie. Durch sie verlieren italienische Unternehmer mehr Zeit und Geld als in Ländern mit einer effizienten Öffentlichen Verwaltung. Alle Regierungen der vergangenen Jahre versprachen Besserung, allerdings ohne große Erfolge. Für den Wirtschaftswissenschaftler Giorgio Barba Navaretti von der Universität Mailand fehlt das Leistungsprinzip.
    "Das ist Italiens große Schwäche, vor allem in der öffentlichen Verwaltung. Auch in der Privatwirtschaft, aber im öffentlichen Bereich ist die Wirkung besonders verheerend. In Italien ist Leistung fast eine Sünde. Alle müssen gleich bezahlt werden. Niemand darf besser sein und besser bezahlt. Wozu führt das? Zum einen dazu, dass alles viel kostet, unabhängig von der Qualität. Und zweitens, dass man keine Elitenförderung betreibt, was aber wichtig wäre für die Zukunft."
    "Früher war alles besser" ist ein weitverbreitetes Lamento. Früher stand Italien weniger unter Reformdruck und konnte sich beispielsweise einen umfassenden Kündigungsschutz eher leisten als heute. Der "posto fisso", der sichere Arbeitsplatz auf Lebenszeit, ist nach wie vor das Ziel vieler Berufseinsteiger. Italiens Wirtschaft ist gekennzeichnet von niedriger Produktivität, unterdurchschnittlichem Wachstum und hoher Krisenanfälligkeit – doch der Reformwille hält sich in Grenzen.
    "Italien hat nicht den Mut, radikale Reformen einzuleiten. Andere Länder Europas sind da weiter. In Italien werden die Interessen bestimmter Gruppen über die Interessen der Allgemeinheit gestellt. Das ist ein enormes Problem, weil so eine Minderheit mit einer starken politischen Vertretung Reformen verhindert, die notwendig sind für das wirtschaftliche Wachstum des ganzen Landes."
    Größter Risikofaktor in Italien: die Politik
    Das größte Risiko – so sehen es nicht nur die Analysten – geht in Italien von der Politik aus. Was werden sich die Populisten von Lega und Fünf Sterne-Bewegung einfallen lassen, wenn der Erfolg ausbleibt? Italien gilt in der Eurozone als wohl größter Unsicherheitsfaktor. Wenn sich die drittgrößte Volkswirtschaft finanziell überhebt, dürfte es – anders als im Fall Griechenland - unmöglich sein, das Land mit einer europäischen Rettungsaktion aufzufangen. Weshalb Marija Kolak, Präsidentin des Bundesverbands deutscher Volks- und Raiffeisenbanken, sagt:
    "Es ist ganz entscheidend, dass Italien eine für das Land und für Europa verantwortungsvolle Politik betreibt. Denn Italien hat für die Eurozone quasi systemische Bedeutung."