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Verschwinden
Wenn der Absturz zum philosophischen Abgrund wird

Die Vorstellung von omnipräsenten Überwachungssystemen ist ähnlich naiv, wie es die über die Datensicherheit bis vor Kurzem waren, sagt Burkhard Müller-Ullrich. Die Spur eines voll besetzten Großflugzeugs am Himmel bleibe völlig unbemerkt.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 18.03.2014
    Ein wirkliches Verschwinden gibt es nicht. Wenn wir von Verschwinden sprechen, meinen wir bloß ein Verborgen- oder Verschüttetsein, ein Sichverstecken oder -verkleiden, aber nicht das, was Verschwinden eigentlich bedeutet.
    Wenn wir sagen, dass schon wieder eine Socke beim Waschen verschwunden ist, dann glauben wir nicht an ihre magische Dematerialisierung, sondern wir wissen, dass sie bloß nicht da ist, wo sie hingehört, wo wir sie vermutet oder erwartet haben, sondern schlicht und einfach woanders. Verschwinden ist jedoch mehr als ein Ortswechsel, Verschwinden ist der Austritt aus dem Sein.
    Deshalb ist der Gedanke des Verschwindens weitaus schauriger als alles, was man sich an Tod und Zerstörung vorstellen kann. Für die Angehörigen von Verunglückten ist es viel schlimmer, nicht zu wissen, wo die Katastrophe geschehen ist und wo die Opfer geblieben sind, als von ihren Leichen Abschied zu nehmen. Die furchtbarste Seelenfolter erleiden Eltern von verschwundenen Kindern, weil das Verschwinden eine völlige Beziehungslosigkeit mit sich bringt. Gerade Trauer braucht Gewissheit; das Verschwundene hingegen verharrt in der höchsten Form der Ungewissheit.
    Nun ist Ungewissheit sowieso etwas, das in unserer modernen Welt immer weniger vorkommt. Die Medienelektronik hat uns an eine Art von permanenter globaler Zeugenschaft gewöhnt, sodass es fast undenkbar scheint, ein so hochtechnisches Gerät wie ein Flugzeug könne sämtlichen hochtechnischen Mitteln der Überwachung und Ortung entgehen. Diese gefühlsmäßige Diskrepanz kommt natürlich von der trügerischen Annahme, dass die weltumspannende Kommunikation auch die ganze Welt abbilde.
    Doch das ist keineswegs der Fall. So faszinierend es sein mag, was Webcams und Handys alles dokumentieren, was Twitter und Facebook alles mitteilen – es ist nur ein winziger Ausschnitt des Weltgeschehens, und jeweils hundert Meter weiter, da, wo gerade keine Kamera ist, sieht alles schon ganz anders aus. Wir aber lassen uns durch die Fülle des Materials zu dem Glauben verleiten, alles, was ist, sei auch schon irgendwie erfasst. Was für ein enormer Trugschluss das ist, zeigt gerade die nervenaufreibende, anstrengende Ungewissheit angesichts eines seit zehn Tagen gesuchten und nicht gefundenen Flugzeugs. Nicht einmal eine Maschine dieser Größe wird über dem Meer permanent vom Radar erfasst.
    Unsere Vorstellungen von omnipräsenten Überwachungssystemen sind jedenfalls ähnlich naiv, wie es die von der Sicherheit der Datenkommunikation bis vor Kurzem waren. Ein Mittelweg hilft hier allerdings auch nicht weiter. Doch dieser Mittelweg ist es wohl, der die Wirklichkeit zutreffend beschreibt: Der weltweite Datenverkehr wird umfassend überwacht, aber die Spur eines voll besetzten Großflugzeugs am Himmel bleibt völlig unbemerkt.