Das sind die Fakten, doch Fakten und rationales Denken spielen in dieser Debatte keine so große Rolle. Das Gezerre um die EU-Mitgliedschaft der Türkei ist von vielen Grauzonen geprägt und - vielleicht schlimmer noch - von besonders vielen Emotionen. Das liegt zum großen Teil am Thema Religion und - vielleicht genauer - an der Angst vor dem Islam.
Die Fragen werden gerne verallgemeinernd formuliert und lauten dann in etwa: Ist Europa nicht ein christlicher Club, der keine Muslime verträgt? Würde die EU durch die muslimische Türkei nicht überdehnt? Oder wäre eine Euro-Türkei im Gegenteil ein Symbol dafür, dass Demokratie und Menschenrechte keine christlichen Veranstaltungen sein müssen? Darüber habe ich gesprochen mit dem Theologen Karl-Josef Kuschel von der Universität Tübingen, der den Dialog zwischen den Religionen erforscht. Als erstes habe ich ihn gefragt, ob er Bedenken hat gegen den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union.
Kuschel: Ich habe politische Bedenken, ich habe kulturelle Bedenken, ich habe - wie viele andere - Sorgen vor Überforderung, vor Problemen, die wir noch nicht mental und geistig bewältigt haben. Ich bin nicht so blauäugig zu meinen, ein möglicher Beitritt der Türkei werfe keine Probleme auf. Viele Menschen haben da große Sorgen, aber die Frage ist, wie ich mit diesen Sorgen umgehe, ob ich die Sorgen in Argumente verwandele, ob ich die Zeit nutze, um die Menschen hier bei uns zu überzeugen und auch der Türkei die nötige Chance gebe, die inneren Reformen einzuleiten. Also Sorgen zu haben ist das eine, aber die Arbeit an den Sorgen ist das andere.
Schillmöller: Es werden gerne die Argumente ins Felde geführt, die Türkei sei groß, arm und muslimisch. Sind das gute Gründe gegen einen Beitritt?
Kuschel: Das ist ja emotional dahergesagt. Mit solchen Schlagworten kommen wir ja nicht weiter, groß, arm und muslimisch. Natürlich verbergen sich hinter diesen Stichworten reale Probleme. Ich sage es noch einmal: Die politische Klasse hier bei uns, einschließlich der Kirchenführer, müssen Aufklärungsarbeit leisten, müssen Argumente liefern, müssen die Menschen mitnehmen und überzeugen. Aber das kann man nur, wenn man eine Vision hat. Eine Vision von einer sich immer mehr vernetzenden zusammenwachsenden Welt. Diese Vision kann auch die Türkei tragen und kann auch möglicherweise dazu führen, bei uns Veränderungen in Gang zu bringen, aber auch in der Türkei Veränderungsprozesse noch weiter zu beschleunigen, hin zu einer Europakompatibilität der Türkei.
Schillmöller: Sie sprechen von Visionen. Was würde ein EU-Beitritt denn im besten Fall bewirken, dass die Türkei so etwas wie ein Leuchtturm im Orient wird?
Kuschel: Auch das ist ja ein Klischee, das ist eine überzogene positive Erwartung. Nein, aber selbstverständlich blickt die gesamte islamische Welt auf das, was in der Türkei geschieht und zwar nicht erst jetzt, sondern seit ungefähr 100 Jahren, seit der Republik durch Atatürk, also seit der Ablösung des osmanischen Reiches. Die Türkei hat ja schon eine gewaltige geschichtliche Zäsur verarbeitet, verdaut, hat die westlichen Traditionen übernommen, etwa im Rechtssystem, hat die arabische Schrift abgeschafft und durch die lateinische Schrift ersetzt. Die Türkei ist schon in der Wahrnehmung vieler Muslime ein Land, das die Herausforderungen der Moderne angenommen hat und insofern ist natürlich alles von allergrößter Bedeutung, was in der Türkei gelingt. Sollte es in der Türkei gelingen, sollte auch da wieder ein Islamismus oder gar Fundamentalismus theokratischer Richtung à la Iran an die Macht kommen, hätte das in der Tat verheerende Konsequenzen auch für Europa.
Schillmöller: Aber die Gefahr ist doch eher gering, denn gemeinhin sagt man doch, dass der Islam in der Türkei gemäßigter ist als der hiesige.
Kuschel: Ja, der Staats-Islam. Es gibt auch dort islamistische Gruppen, es gibt politische Bewegungen, die sehr viel stärker noch den Islam im politischen Vorfeld sehen wollen, sozusagen als die politische Führungsmacht. Aber das ist noch nicht entschieden. Dieser große Kulturkampf ist in der Türkei noch nicht entschieden, er ist mitten im Gange. Wir Europäer sollten alles tun, um die Kräfte zu stärken, die einen europaverträglichen Islam, der mit unseren politischen Idealen, auch westlichen Idealen, vereinbar ist, zu bestärken und nicht ständig Ängste schüren, die natürlich umgekehrt auch negative Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung der Türkei haben.
Schillmöller: Diese Ängste werden auch gerne geschürt mit dem Verweis auf eine vermeintliche christliche Tradition in Europa, eine europäische Identität, die durch irgendeine christliche Geschichte geprägt sein soll. Wie christlich ist denn dieser europäische Club eigentlich?
Kuschel: Da kann man in der Tat sehr unterschiedliche Dinge wahrnehmen. Den Vertretern christlicher Parteien ist es noch nicht einmal gelungen, den Gottesbezug in die europäische Verfassung hineinzubringen. Auch in Europa ist ja längst ein Kulturkampf zwischen den Säkularisten oder Laizisten und den mehr kirchlich-religiös gebundenen Kräften am Werk. Zweifellos ist es nicht zu bestreiten, dass Europa geprägt ist durch die Wertordnung des Christentums, und dass auch unsere politische Geschichte - Verfassung, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Gewaltenteilung - nicht ohne den Einfluss des Christentums zustande gekommen ist und sicher ist es schwierig in einem Land, wo dieser Einfluss nicht da war, diese Entwicklung noch zu verstärken und zu beschleunigen. Aber das heißt ja nicht, dass ein für allemal das fest steht, was christliche Identität bedeutet. Das Christentum hat gewaltige Wandlungen durchgemacht und der Begriff "christliche Identität" ist geschichtlich zu verstehen - nicht etwa statisch - und sicher nicht als Waffe zu gebrauchen im Kampf zur Abwehr der Türkei.
Schillmöller: Das heißt also die Türkei müsste beitreten können, weil Europa nicht nur auf christlichen Werten, sondern auf anderen politischen, auf Werten wie Demokratie und Menschenrechten beruht.
Kuschel: Unter anderem. Aber ich sage auch ganz offensiv gerade als Theologe: Sie sollte beitreten können gerade auch aus christlicher Überzeugung. Denn es sollten ja Christen sein, die dafür sorgen, dass Völker integriert werden, dass Nationengrenzen überschritten werden, dass der interreligiöse und interkulturelle Dialog in Gang kommt. Gerade weil ich Christ bin, möchte ich eine stärkere Vernetzung und Einbeziehung der anderen, der sogenannten Fremden et cetera. Gerade aus meiner christlichen Identität will ich dafür arbeiten, dass die Ängste bei uns abgebaut werden, und dass auch Bürger der Türkei im größeren Europa willkommen sind.
Schillmöller: Nun hat aber gerade von katholischer Seite Kardinal Lehmann jüngst Skepsis verkündet. Er hat gesagt: "Es gibt nicht so recht eine Wechselseitigkeit im Verhältnis zwischen Christentum und Islam." Was bringt es also, wenn Christen tolerant sind, wenn der Islam von seiner Seite aus eben nicht so tolerant ist. In Saudi-Arabien Christ zu sein, ist nicht gerade einfach.
Kuschel: Nein, es ist nicht gerade einfach und da gibt es gewaltige Unterschiede auch innerhalb der islamischen Welt. Hüten wir uns allerdings vor Pauschalurteilen, "das Christentum", "der Islam". Man muss sich jedes islamische Land ganz besonders anschauen und in vielen Ländern herrschen freiheitliche Verhältnisse, Religionsfreiheit, Religionstoleranz, in anderen Ländern - Saudi-Arabien - eben nicht. Aber gerade die Türkei ist ja ein gutes Beispiel dafür, dass es offenbar gelingt, Ideale der Moderne, von denen auch das Christentum profitiert, in die islamisch geprägte Gesellschaft hinein zu bringen. Dass wir auch Probleme mit Religionsfreiheit in der Türkei haben, ist ja bekannt. Christliche Kirchen sind in der Türkei sehr starken Restriktionen ausgesetzt und zwar seit Jahrhunderten, aber meine Schlussfolgerung daraus lautet: Ja, dann lasst uns mit der Türkei über Religionsfreiheit reden, wenn sie in die größere Europäische Gemeinschaft eintreten wollen. Veränderungsprozesse müssen von innen heraus kommen und es muss im Interesse der Türkei sein, ein besseres Bild von der Türkei zu liefern, wenn sie in Fragen der Religion toleranter und offener ist.
Schillmöller: Herr Kuschel, Sie sind zugleich Vizepräsident der Stiftung Weltethos, auf Ihrer Homepage findet man zum Beispiel grundlegende Sätze wie: Es gibt keinen Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen, beziehungsweise ohne Dialog zwischen den Religionen. Das klingt schön, wie sieht es in der Praxis aus, wie kann man so etwas umsetzen?
Kuschel: In der Praxis ist das ein mühseliger Prozess, das können Sie sich ja ungefähr vorstellen. Ich bin hier in der Grundlagenforschung auf der einen Seite tätig, aber seit vielen Jahren auch in der praktischen Dialogarbeit. Man muss immer wieder die Begegnung mit Menschen anderen Glaubens suchen. Ich bin besonders engagiert im sogenannten "Trialog" zwischen Juden, Christen und Muslimen. Das bedeutet einen hohen Einsatz, das bedeutet Überzeugungsarbeit, das bedeutet den ganz nüchternen Marsch tagtäglich durch die Mühen der Niederungen. Interreligiöser Dialog ist keine Sonntagsarbeit und interkultureller Dialog ist nichts für Sonntagsparolen, sondern es ist die ganz nüchterne Überzeugungsarbeit tagtäglich im Zusammenkommen mit Menschen.
Schillmöller: Sie sind auch Lessingexperte, Herr Kuschel, haben ein Buch geschrieben über die Aktualität der Ringparabel aus Nathan der Weise, wo es etwas verkürzt um das friedliche Nebeneinadern der Religionen geht. Ich darf zitieren: "Es eifere jeder seiner unbestochenen, von Vorurteilen freien Liebe nach, es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins an seinem Ring an den Tag zu legen komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott zu Hilfe." Ein schöner Traum, nichts weiter als eine Utopie?
Kuschel: Schon im Nathan wird das ja als Märchen bezeichnet, als schöne Geschichte. Ja, ein schöner Traum, eine schöne Utopie. Aber Menschen haben das 225 Jahre lang immer wieder ernst genommen. Diese Zeilen sind im Jahre 1779 veröffentlicht worden, als das Stück zum ersten Mal von Lessing gedruckt wurde. Seit 225 Jahren ruht diese große Vision eines Miteinanders von Menschen verschiedener Religionen unter den von Ihnen genannten Kriterien. Immer wieder haben sich Menschen davon ergreifen lassen und wo Sie da jetzt noch einmal zitiert haben muss ich sagen, ergreift mich das immer wieder neu. Ich denke, wir können stolz darauf sein, dass wir in unserer deutschen Literatur ein großes Zeugnis dafür haben, wie Juden, Christen und Muslime zusammenleben können, wenn sie sich nach den von Lessing beschriebenen Kriterien richten und die Utopie muss immer wieder in die Praxis umgesetzt werden. Was wären wir ohne diese Utopie? Wir wären reine Pragmatiker oder wir würden in Zynismus verfallen.
Schillmöller: Karl-Josef Kuschel war das, Theologe an der Universität Tübingen und Vizepräsident der Stiftung Weltethos über den Dialog zwischen den Religionen und das Für und Wider eines EU-Beitritts der Türkei.