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Vertreibung der Deutschen aus dem Osten

    Liminski: Lange Zeit war die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten ein unangenehmes, fast verpöntes Thema. Man stelle es meist zu Unrecht in die nationalistische Ecke. Das hatte gewiss politische, aber auch kollektiv-psychologische Gründe, Stichwort Schuldfrage. Aber diese Zeit scheint spätestens seit Anfang der Woche vorbei zu sein, denn jetzt befasst sich auch der Schriftsteller Günter Grass mit dem Thema, und zwar in einer neuen Novelle, die den Untergang des Flüchtlingsschiffs Wilhelm Gustlow aufgreift. Mindestens 9.000 Menschen verloren 1945 nach einem sowjetischen Torpedotreffer ihr Leben in den eiskalten Fluten der Ostsee. Ist die Vertreibung nun wieder ein Thema, vielleicht sogar ein politisch relevantes? Am Telefon begrüße ich dazu Frau Erika Steinbach. Sie ist die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, also sozusagen die Vorsitzende von rund zwei Millionen Wählern. Frau Steinbach, Günther Grass greift das Schicksal der Wilhelm Gustlow auf, die deutsche Titanic, wie der Spiegel diese Woche titelt. Wird damit dieses Kapitel der deutschen Geschichte aus der Schmuddelecke geholt, oder - anders ausgedrückt - wird es politisch korrekt, Vertriebener zu sein oder zu einer Landsmannschaft aus dem Osten zu gehören?

    Steinbach: Günter Grass hat ein Thema aufgenommen, das ihn ganz offensichtlich schon längere Zeit beschäftigt hat, denn er hat ja vor anderthalb Jahren in einer Diskussion auch schon die Thematik in einer Art und Weise angesprochen, die man von ihm bis dahin noch nicht gewohnt war. Man muss jetzt sagen, dass das Thema Vertreibung der Deutschen direkt nach dem Kriege parteiübergreifend aufgefasst und begleitet wurde. Es wurde immer als ein Verbrechen gegen das Völkerrecht angesehen. Das hat sich mit der Ostpolitik sehr verändert, und das Klima hat sich - allerdings schon seit einigen Jahren - über den Bereich der Unionsparteien hinaus wieder geöffnet. Das können Sie sehen. Im vorigen Jahr gab es ja sowohl im ZDF die fünfteilige Serie von Guido Knopp zum Thema Vertreibung als auch im Februar - glaube ich - von der ARD eine dreiteilige Reihe, und beide Serien hatten ja einen enormen Publikumszuspruch. Nur, dass Günther Grass jetzt eine Tür durchschreitet, die schon in einem erheblichen Maße geöffnet war.

    Liminski: Warum glauben Sie, dass Grass jetzt durch diese Tür geht? Unterstellen Sie ihm dabei auch politische Motive?

    Steinbach: Ich unterstelle den Menschen zunächst einmal immer das Allerbeste. Allerdings muss man sagen, Günther Grass ist kein unpolitischer Mann. Er war nie ein unpolitischer Schriftsteller. Inwieweit da bei ihm Politik eine Rolle spielt, vermag ich nicht zu beurteilen.

    Liminski: Zwei Millionen Mitglieder in den einzelnen Vertriebenenverbänden, das ist doch eine ansehnliche politische Hausmacht. Sie selber sind Abgeordnete der CDU. Wie würden Sie die Vertriebenen politisch einordnen?

    Steinbach: Die Vertriebenen sind für die Bundesrepublik Deutschland - für viele erstaunlicherweise - niemals zu einem Sprengsatz geworden, sondern sie waren von Anfang an ein konstruktives Element. Wenn man sich vorstellt, dass damals 12,5 Millionen Menschen sowohl in die alte Bundesrepublik als auch in die DDR hineinkamen - 2,5 Millionen haben darüber hinaus ihr Leben verloren -, das hätte ja ein emotionaler Sprengsatz über Jahrzehnte hinweg sein können. Aber da die Vertriebenen selber mit sich sehr schnell im Reinen waren. Wir wollen keine Gewalt, wir wollen die Vokabeln Rache und Vergeltung in unserem Sprachschatz nicht haben, sondern wir arbeiten auf ein versöhntes Europa hin. Das hat auch mit das wirtschaftliche Wunder in der Bundesrepublik bewirkt. Wir sagten, wir wollen anpacken, wir wollen einfach mit aufbauen, uns wieder ein Dach über den Kopf schaffen. Es hat auch die Position Deutschlands und sicherlich auch die der DDR innerhalb des Ostblocks wirtschaftlich jeweils in die erste Reihe hineingebracht.

    Liminski: Ist denn die Vertreibung ein Thema für den Wahlkampf oder nur für die Geschichte?

    Steinbach: Wir werden als Verband allen Parteien Wahlprüfsteine vorlegen, weil wir fest davon überzeugt sind, dass das ein Thema mit brennender Aktualität ist. Die europäische Osterweiterung hat ja Kriterien angelegt, die erfüllt sein müssen, wenn Staaten Mitglied in der Europäischen Union werden wollen - das war 1993 in Kopenhagen. Und dort ist ausdrücklich festgeschrieben, dass Menschenrechte und Minderheitenrechte umgesetzt sein müssen. Wir stellen fest, dass das in der Tschechischen Republik bis heute nicht der Fall ist, dass es auch in Polen noch Vertreibungsgesetze gibt, die nicht außer Kraft sind, und dass es das in Slowenien auch noch gibt, so dass wir den Parteien schon zur Aufgabe die Fragestellung vorlegen, wie gehen sie damit um? Wir erwarten, dass sich diese Staaten vor dem Eintritt in die Europäische Union von solchen menschenrechtfeindlichen Gesetzen trennen. Das erscheint uns unabdingbar, aber darüber hinaus haben wir noch viele andere Punkte, die wir den Parteien zur Beantwortung vorlegen werden.

    Liminski: Der wohl größte Sohn von Königsberg - heute Kaliningrad -, Immanuel Kant, hat einmal gesagt: ursprünglich habe niemand mehr Recht an einem Ort der Welt zu sein als ein Anderer. Der französische Präsident Mitterand sagte es krasser: Nationalismus bedeutet Krieg, formulierte er vor dem Europaparlament. Im freizügigen Europa der EU kann sich jeder dort niederlassen, wo er genügend Mittel hat, um zu leben. Verbinden Sie mit der neuen Aktualität des Vertreibungsthemas auch Rechtsansprüche?

    Steinbach: Rechtsanspruche nur in dem Sinne, dass wir erwarten, dass menschenrechtfeindliche Gesetze aufgehoben werden, und dass das seinerzeit eine Verletzung des Völkerrechts und der Menschenrechte nach den Normen der Vereinten Nationen gewesen ist, dass auf irgendeine Art und Weise eine Heilung dieses Unrechts möglich gemacht wird. Es gibt andere Staaten, die das getan haben. Ungarn hat ein Entschädigungsgesetz verabschiedet, das vom Wert der Entschädigung her eher symbolischen Charakter hat, aber es hat einen Heilungsprozess zwischen den vertriebenen Deutschen aus Ungarn und dem ungarischen Staat ganz schnell in Gang gesetzt, und in diesem Jahr werden wir am Tag der Heimat den ungarischen Präsidenten Mádl als Festredner haben. Das macht deutlich, wie positiv die Beziehungen inzwischen sind.

    Liminski: Also keine Rechtsansprüche?

    Steinbach: Das ist schon ein Rechtsanspruch. Ich kleide das allerdings in die Vokabel Heilung, um den Nachbarvölkern den Weg offen zu lassen, wie sie das umsetzen möchten.

    Liminski: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio