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"Viel erreicht, viel zu tun"

Die SPD ist ganz und gar anders geworden in ihrer 150-jährigen Geschichte, sagt der ehemalige Parteichef Franz Müntefering. Vor allem die globalisierte Welt stelle die Sozialdemokraten vor neue Herausforderungen.

Franz Müntefering im Gespräch mit Mario Dobovisek | 23.05.2013
    Mario Dobovisek: Heute vor 150 Jahren wurde er gegründet, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, sozusagen die erste Arbeiterpartei Deutschlands. Ihr Gründer war Ferdinand Lassalle, der nur ein Jahr später starb und einen Trümmerhaufen zurückließ. Streit und Spaltung dominierten die Anfangsjahre, doch die Partei rappelte sich auf, bis aus ihr allmählich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands erwuchs, die SPD. Heute wird gefeiert, in Leipzig, dem Gründungsort. Beim Festakt dabei werden sein die Aktiven und die Granden der Partei, die Kanzlerin kommt, der Bundespräsident auch und Frankreichs Staatspräsident hält eine der Festreden. Einen der sozialdemokratischen Protagonisten der vergangenen Jahre begrüße ich am Telefon: Er war Fraktionsvorsitzender der SPD, Bundesminister, Parteichef. Guten Morgen, Franz Müntefering!

    Franz Müntefering: Ja ich grüße Sie – guten Morgen!

    Dobovisek: Wenn Sie sich Ihre SPD heute ansehen, Herr Müntefering, was ist dann noch übrig von der einstigen Arbeiterbewegung?

    Müntefering: Sie ist ganz und gar anders geworden, weil die Zeiten anders sind, aber genauso wichtig, genauso große Probleme. Strich drunter! Heißt: Viel erreicht, viel zu tun!

    Dobovisek: Wie viel zu tun bleibt denn noch?

    Müntefering: Eine andere Welt, ein anderer Kapitalismus, ein Finanzkapitalismus, eine globalisierte Welt, eine Welt mit viel größerem Tempo, aber auch eine Welt mit großer Ungerechtigkeit, mit sittenwidrig niedrigen und sittenwidrig hohen Löhnen auch in Deutschland. Also da ist viel zu tun.

    Dobovisek: SPD-Chef Sigmar Gabriel wirkt immer ein bisschen beleidigt, wenn nur Union und FDP als bürgerliche Parteien gesehen werden.

    O-Ton Sigmar Gabriel: "Wenn jetzt heute die CDU und die FDP sagen, sie sind die bürgerliche Koalition, was sind wir denn eigentlich, und wer hat die erste bürgerliche Demokratie mit seiner Freiheit und seinem Leben verteidigt? – Sozialdemokraten!"

    Dobovisek: Herr Müntefering, was ist denn heute bürgerlich?

    Müntefering: Der Parteivorsitzende hat recht, überhaupt keine Frage. Bürger, denke ich, ist derjenige, der sich zur Demokratie bekennt, der auch Republikaner ist, und da sind die Sozialdemokraten das natürlich auch. Aber wir sind immer auch Genossinnen und Genossen geblieben, wie wir das liebevoll untereinander nennen, und immer welche, die nicht die Welt, so wie sie ist, akzeptieren, sondern die es besser machen wollen. Für mich sind die Konservativen die, die sich abfinden, und die Sozis wollten immer, dass es besser wird. Wenn die Philosophen uns gesagt haben, geht nicht besser, haben wir gesagt, ist uns egal, wir wollen es trotzdem, und wir haben Demokratie entscheidend mit geschaffen und Sozialstaat auch.

    Dobovisek: Mit Peer Steinbrück als Kanzlerkandidaten wirkt die SPD nicht bloß bürgerlich, sondern in weiten Teilen eben auch konservativ. So empfinden es zumindest die Parteilinken. Ist Steinbrück weiterhin der richtige für die einstige Arbeiterpartei?

    Müntefering: Da bin ich ganz sicher. Der Peer Steinbrück ist einer, der zu Werten steht, der auch den Blick nach vorne hat. Aber das Konservative, was in uns auch ist – das ist ja auch gar nicht bestritten -, das sind die konservativen Werte: die Freiheit ganz vornan, so wie Willy Brandt es gesagt hat, "wenn ihr mich fragt, was das Wichtigste ist, neben dem Frieden die Freiheit", aber eben auch soziale Gerechtigkeit und Solidarität. Wir wippen nicht von einem Bein aufs andere, wir ändern nicht unsere Werte, sondern die Werte bleiben, aber die Strukturen verändern sich und jede Zeit, Willy Brandt, braucht ihre eigene Antwort.

    Dobovisek: Warum heißt dann die Antwort Peer Steinbrück, wenn ein großer Teil der Partei, der linke Flügel, nicht so ganz mit ihm einverstanden war?

    Müntefering: Ich glaube, das sehen Sie falsch. Er ist gewählt, vor allem deutlich gewählt, er hat die breite Unterstützung in der Partei auch. Man muss sich dann immer entscheiden, das ist in jeder Partei so. Eine Partei besteht ja nicht aus Menschen, die alle einer Meinung sind, sondern die haben eine gemeinsame Himmelsrichtung und dann muss man sich zusammenraufen und auch Kompromisse schließen. Aber das ist natürlich bei Spitzenkandidaten immer so, dass es da unterschiedliche Mehrheiten gibt. Aber bei Peer Steinbrück ganz eindeutig die Zustimmung, und so wird auch der Wahlkampf sein.

    Dobovisek: Die Agenda 2010, sie brüskierte vor gut zehn Jahren die Gewerkschaften und den linken Flügel der SPD, den wir gerade angesprochen haben. Die Arbeitsmarktreformen von Gerhard Schröder rissen damals tiefe Wunden in die Arbeiterseelen der Partei. Sie waren damals SPD-Chef, Herr Müntefering. Sind die Wunden inzwischen geheilt?

    Müntefering: Bei denen, die wollen, schon. Ich stehe unverändert dazu, dass es nötig war, Dinge zu tun, und dass wir im Ansatz richtig gelegen haben damals.

    Dobovisek: Im Ansatz richtig gelegen?

    Müntefering: Im Ansatz richtig gelegen haben damals.

    Dobovisek: Wo waren die Fehler?

    Müntefering: Das sind immer Dinge, die in der Umsetzung passieren, die nicht so gut sind, wie man sich das wünschen möchte. Aber dass wir die Dinge getan haben, dass wir die Strukturen verändert haben, das hilft unserem Land bis heute und damals hat nicht irgendwer dagegen gestimmt, sondern die SPD-Bundestagsfraktion hat fast komplett, mit ganz, ganz wenigen Ausnahmen, dieses mit beschlossen und mit getragen. Das war unser gemeinsamer Wille.

    Dobovisek: Bis heute diskutieren wir aber auch weiter über Minijobs, Leiharbeit und die schleppend einziehenden Mindestlöhne. War die Agenda, noch mal zusammenfassend gefragt, damals in der damaligen Form ein Fehler?

    Müntefering: Nein, sie war richtig. Das, was den Mindestlohn angeht, 2002, 2003 wussten wir genau: Den Mindestlohn, den muss es geben, sonst kann das ganze System nicht funktionieren. Aber da war noch keineswegs eine Einigkeit, weil auch große Gewerkschaften noch gefragt haben, ja wie verhält sich das denn zur Tarifautonomie. Ich habe 2004 als Parteivorsitzender eine Kommission eingesetzt zu dem Thema, und dann waren wir uns seit 2004 einig: Wir wollen Mindestlohn, flächendeckend, gesetzlich. Aber es gab nie eine Mehrheit dafür, die im Bundestag und im Bundesrat dafür hätte sorgen können. Das haben andere aufgehalten, nicht wir.

    Dobovisek: Seit einigen Jahren können wir eine Tendenz hin zu den politischen Extremen und Einzelpositionen beobachten. Werden wir Zeuge des allmählichen Sterbens der großen Volksparteien?

    Müntefering: Nein, das glaube ich nicht. Ganz im Gegenteil! Ich meine zu sehen, dass die Lust der Leute auf Exzentriker an den Rändern doch eher kleiner geworden ist. Ich prophezeie, dass es eine Konzentration geben wird auf die Volksparteien in der Mitte, in den Mitten, und dass sich da die Dinge für die nächsten Jahre entscheiden. Es wird immer ein paar am Rande geben, aber es gibt eine neue Konzentration auf die Volksparteien.

    Dobovisek: Welche Chance geben Sie dem eurokritischen Kurs der Alternative für Deutschland?

    Müntefering: Keine – Gott sei Dank.

    Dobovisek: Kurze Antwort, prägnant, Herr Müntefering. Und wenn doch viele diesen Kurs teilen?

    Müntefering: Ich glaube nicht. Meine Erfahrung ist, dass man mit den Menschen natürlich diskutieren muss. Aber Europa an sich hat viele Freunde in Deutschland und viel Zustimmung, und die meisten verstehen auch, dass wir abhängig sind, auch in Deutschland mit unserem Wohlstand und mit unserer Entwicklung, von dem, was in Europa insgesamt passiert. Das muss durchgekämpft werden, das ist nicht leicht, das sind historische Entscheidungen und Entwicklungen, die wir haben. Aber auch, dass jetzt im Moment die sozialdemokratischen, die sozialistischen Parteien dabei sind, sich international neu zu organisieren, auch in Europa, ist ja ein Zeichen dafür, dass wir da weiter wollen und dass wir wissen, die globale Welt stellt andere Herausforderungen an uns, als das in vergangenen Zeiten war.

    Dobovisek: Sie sprechen an, dass SPD-Chef Sigmar Gabriel gestern Abend die Progressive Alliance gegründet hat und damit auch ein bisschen Front macht gegen die Sozialistische Internationale, gegen die bisherige internationale Organisation der Sozialdemokraten. Ist das ein kluger Schritt, diese Front zu machen?

    Müntefering: Die SE hatte eine große gute Zeit, als Willy Brandt, Kreisky und andere unterwegs waren. Aber da sind viele dazugekommen, die das ganze sehr relativiert haben. Es war dann auch ein bisschen eine Beliebigkeit. Ich habe ja auch so ein bisschen da reinriechen können in meinen Zeiten, vor allen Dingen an der Spitze der Partei, und ich verstehe, dass ein neuer Ansatz gesucht wird, ein neuer Anlass, um die Aktiven zu sammeln und vor allen Dingen auch im Hinblick auf Europa eine neue Form der Zusammenarbeit zu finden und zu suchen.

    Dobovisek: Nun sagt der jetzige Präsident der Sozialistischen Internationale, der frühere griechische Premier Papandreou, da seien Attacken, persönliche Attacken im Laufe, Rufmord und falsche Anschuldigungen. Das klingt eher nach sozialistischem Bruderkampf.

    Müntefering: Das weiß ich nicht, da bin ich so tief nicht mehr drin. Ich habe Papandreou selbst einige Male erlebt und denke voller Respekt an ihn. Das weiß ich nicht. Aber dass man sich untereinander streitet, das hat in der Tat eine hohe Tradition. Das haben wir irgendwie in unseren Genen drin. Aber Reibung erzeugt Hitze, aber auch Fortschritt, da darf man keine Angst vor haben.

    Dobovisek: Lassalle, Brandt, Gabriel, Schröder – wir haben einige Namen in unserem Gespräch schon genannt. Wer ist aus Ihrer Sicht der prägendste Kopf in der Sozialdemokratie Deutschlands?

    Müntefering: Ohne August Bebel wäre sie nicht entstanden damals. In der Anmoderation haben Sie das schon deutlich gemacht. Als Lassalle tot war, gab es großes Durcheinander. Dann 1869 die Sozialistische Arbeiterpartei, 1875 in Gotha der Einigungskongress, und August Bebel, der ja Gott sei Dank lange gelebt hat, hat ja lange Zeit dann die Partei gesammelt und geführt, und ich glaube, dass er neben Willy Brandt die beiden Köpfe sind, die am meisten für diese 150 Jahre stehen. Interessanterweise 1913 verstarb August Bebel und wurde Willy Brandt geboren und in ein paar Jahrzehnten werden wir wissen, wer im Jahr 2013 geboren ist und da die Fahne weiterträgt.

    Dobovisek: Und wer wird für das 21. Jahrhundert der SPD stehen? Haben Steinbrück und Gabriel dazu das Potenzial?

    Müntefering: Das weiß man immer erst hinterher. Als der Willy Brandt so alt war wie die, da war der auch noch nicht an der Spitze. Ich kann mich noch gut erinnern: nach zwei verlorenen Bundestagswahlen 61 und 65, da war Fritz Erler der Mann, der kommen sollte. Er verstarb aber und Willy Brandt hatte seine dritte Chance und hat sie dann grandios genutzt. Also das werden wir alles in der Entwicklung dann sehen.

    Dobovisek: 150 Jahre Sozialdemokratie in Deutschland – einer ihrer Wegbegleiter war das, der SPD-Politiker Franz Müntefering. Ich danke Ihnen, Herr Müntefering.

    Müntefering: Ich danke Ihnen auch.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.