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"Viele Leute wollen lieber die Lüge hören"

Nach dem Überraschungscoup von Bundeskanzler Gerhard Schröder, über die Vertrauensfrage Neuwahlen herbeizuführen, liegt es nahe, über Begriffe wie Vertrauen und Misstrauen nachzudenken. Manchmal sei die Wahrheit das Unbequemste in der Politik, sagte der Publizist Rainer Erlinger. Viele Leute wollten aber lieber die Lüge hören als die unschöne Wahrheit.

    Rainer-B. Schossig: Die Lage ist ziemlich verzwickt: Der Bundeskanzler jongliert derzeit taktisch zwischen Vertrauen und Misstrauen. Er will die Vertrauensfrage verlieren, um so den Weg zur Auflösung des Parlamentes freizumachen, was ja die Verfassung eigentlich nur durch ein so genanntes konstruktives Misstrauensvotum erlaubt. Der Überraschungscoup Schröders, durch virtuelles Misstrauen Neuwahlen herbeizuführen, ist Anlass für uns, ein wenig über die Begriffe Vertrauen und Misstrauen nachzudenken, und zwar mit dem Mediziner und Juristen Rainer Erlinger, der beschäftigt sich in seiner gern gelesenen Kolumne "Die Gewissensfrage" im SZ-Magazin vorwiegend mit moralischen Lebensfragen. Frage an Rainer Erlinger: Welchen Tipp würden Sie geben, wenn jemand zu Ihnen käme mit der Frage, ob es gerechtfertig sei, durch eine Vertrauensfrage sich das Misstrauen aussprechen zu lassen?

    Rainer Erlinger: Da würden jetzt verschiedenen Seelen in meiner Brust sich rühren. Da ist auf der einen Seite natürlich der Jurist, der hin und her wägt und sich überlegt, ob denn das Ganze alles verfassungsgemäß ist oder nicht. Aber der soll hier mal ein bisschen schweigen und dann denke ich: Ist es denn richtig, eine Möglichkeit zu finden, in einer schwierigen politischen Situation eine Veränderung herbeizuführen, die alle sich wünschen? Und ich denke, dass es durchaus eine überlegenswerte Möglichkeit ist. Wenn man jetzt mal vom Gesetzeswortlaut, vom Verfassungswortlaut weggeht, dann hätte ich vom Gewissen her und von der persönlichen Überzeugung her da gar nicht so viele Bedenken.

    Schossig: Frage dann also an den Moralisten und den historisch gebildeten Rainer Erlinger: Dieser altehrwürdige Begriff des Vertrauens, der geht ja sehr weit zurück in die Geschichte. Auf die Fidelitas seiner Fürsten stützte sich der König und wo deren Vertrauen dann bröckelte, da war es dann mit seiner Macht relativ schlecht bestellt. Wie viel von diesem alten Vertrauensbegriff, glauben Sie, ist heute noch in den Köpfen der Menschen lebendig?

    Erlinger: Ich glaube relativ viel. Also eine Sache, die sicherlich ein bisschen zu wenig beachtet wird, ist die Überlegung, dass ja das Vertrauen eigentlich schon eine Unsicherheit voraussetzt. Denn wenn ich etwas gewiss weiß, dann brauche ich kein Vertrauen mehr. Zum Vertrauen gehört die Denkmöglichkeit, dass es auch anders läuft.

    Schossig: Also ist es der Glaube, der dann nicht fehlen darf.

    Erlinger: Genau, das ist ein Punkt, der immer ein bisschen übersehen wird: Ich kann vertrauen nur in Dinge, bei denen ich nicht genau weiß, wie es läuft. Ich vertraue eben darauf, es gibt nicht diese absolute Sicherheit. Und wenn man jetzt an die politische Situation geht, dann ist es ja zweierlei. Da ist einmal das Vertrauen in die Person und einmal das Vertrauen in dessen Möglichkeiten, etwas zu tun. Jetzt kann der Abgeordnete sagen, ich vertraue zwar in die Person des derzeitigen Bundeskanzlers, weil ich dessen Partei angehöre und den auch wieder wählen würde. Er ist der Mann, dem ich das am ehesten zutraue. Ich sehe aber, dass er vielleicht in der gegenwärtigen Position und Situation so nicht die Möglichkeiten hat, das, was er eigentlich könnte, durchzusetzen. Man hat da zweierlei Dinge: das Vertrauen in die Person und in dessen Möglichkeiten.

    Schossig: Auch Willy Brand musste ja 1972 die Vertrauensfrage stellen, um eine damalige politische Patt-Situation zu beseitigen. Er hatte dann großes Glück. Es kam dann ja diese Wahl, wo er vom Wähler belohnt wurde. Vielleicht ist es ja so, dass, mogeln, politisch aber auch privat, immer wieder belohnt wird?

    Erlinger: Das ist sicher etwas, das muss man ganz offen zugeben, dass derjenige, der ein bisschen munkelt, munkeln ist ja nichts anderes als eine schöne Umschreibung des Wortes "lügen"...

    Schossig: "corriger la fortune" sagt man auch.

    Erlinger: Ja, genau, im Endeffekt meint man damit ja ein Lügen. Dieses Lügen ist sicherlich manchmal in der Einzelsituation angenehm. Es ist manchmal in der Einzelsituation hilfreich, und es kann einem tatsächlich helfen, sich das Wohlwollen und die Zuneigung der anderen zu erschwindeln, um hier den passenden Ausdruck zu verwenden. Manchmal ist ja die Wahrheit das Unbequemste, und viele Leute wollen lieber die Lüge oder das Schöne hören, als die unschöne Wahrheit. Deswegen glaube ich, dass dieses Munkeln durchaus dazu dienen kann und helfen kann und wirklich zu dem Erfolg frühen kann, sich die Zuneigung zu erschwindeln.

    Schossig: Ja, munkeln ist natürlich etwas, was sich auf "im Dunkeln" reimt. Nun soll ja eigentlich die Demokratie eine transparente, offene sein. Muss denn ein solches Taktieren nicht doch Auswirkungen auf das Verständnis von Politik haben, also nicht nur das Verständnis der agierenden, der Politiker, sondern auch der Institution, also bestenfalls dann zu Lageweile, Sarkasmus, schlimmstenfalls eben zu Wut, Protest, Misstrauen in die demokratischen Institutionen führen?

    Erlinger: Ich glaube nicht und ich glaube, sie haben dazu - und dass ist jetzt eine persönliche Meinung von mir, das müsste man jetzt versuchen, empirisch zu belegen, aber ich glaube es nicht, denn Sie haben den entscheidenden Punkt gebracht mit dem Dunkeln und das, was jetzt hier geplant ist, ist ja genau das Gegenteil: Es wird ganz offen gearbeitet. Man könnte vielleicht sogar sagen, zu offen im Vorfeld das Ganze besprochen. Und bevor man noch mal mit dem Bundespräsidenten gesprochen hat, wird es schon wieder in die Presse gegeben, diese Vorwürfe, die jetzt laufen. Aber das Entscheidende dabei ist, es ist ein sehr, sehr offenes und transparentes Verfahren und ich glaube nicht, dass irgendjemand in der Bevölkerung das Gefühlt hat, durch dieses Verfahren benachteiligt zu werden, oder dass ein Misstrauen zurückbleibt, weil eben hier im Gegenteil die Bevölkerung oder viele Bürger das Gefühl haben, "ja hier wird alles offen gelegt". Hier wird vielleicht ein bisschen geschoben. Ich glaube, dass das Problem weniger das Misstrauen wäre, sondern, dass so eine leichte Erschütterung höchstens entstehen könnte, in die Unveränderbarkeit der Verfassungsbestimmungen oder der Gesetze.

    Schossig: Genau, was da passiert, ist das nicht sogar etwas mehr? Ich möchte da noch einmal drauf beharren: Ist das nicht ein doppeltes Spiel? Ist es nicht eine Art Spiel mit gezinkten Karten? So eine Art Taschenspielertrick? Wenn ich im Alltag bemerke, dass da jemand mit mir mit gezinkten Karten spielt, dann verliere ich doch schnell die Lust, weiterzuspielen. Ist die Demokratie nicht auch so ein Spiel, das nur dann funktioniert, wenn man deren Spielregeln einhält?

    Erlinger: Das stimmt sicherlich. Da gibt es einen sehr schönen Spruch von einem Münchner juristischen Methodenlehrer, der immer sagt, "In dem Moment, in dem man die Verfahrensbestimmungen als bloße Formalie abtut, ist die Demokratie in Gefahr", weil die Verfahrensbestimmungen einfach dazu dienen, zum einen Minderheiten zu schützen und zum anderen wirklich das Prozedere nicht der jeweiligen Tagesbeliebigkeit anheim zu stellen. Da gebe ich Ihnen vollkommen Recht. Ich glaube aber, dass die Problematik hier eher die ist: Gegenüber wem würde man denn hier "mit gezinkten Karten spielen"? Nicht gegenüber der Bevölkerung, die sieht ja alles offen. Das Problem bei gezinkten Karten ist ja, dass der Gegenüber das nicht bemerkt. Eigentlich spielt man gegenüber der abstrakten Idee der Verfassung. Und kann man jetzt davon ausgehen, wenn man sagt, die ist jetzt jemand, dem wir etwas offen legen müssen oder so? Da kommen wir in eine sehr theoretische Sache. Die Ebene der Überlegung müsste sein: Wir müssen die Spielregeln achten, damit uns das Spiel nicht insgesamt kaputt geht - aber nicht im Sinne von Offenheit oder gezinkt oder etwas in dieser Art.

    Schossig: Schummeln - Sie habe es gesagt - hängt mit Lügen zusammen. Lügen in Zeiten des Friedens untergraben ja bekanntlich das Vertrauen oder schaffen eben Misstrauen. Das ist, glaube ich, klar. Ihr im letzten Jahr erschienenes Buch hat ja den schönen Titel "Lügen haben rote Ohren". Müsste man nicht eher sagen, "Lügner haben rote Ohren"? Es gibt ja allerdings auch Leute, die Lügen, ohne rot zu werden, und das tun ja Politiker.

    Erlinger: Ja, das ist so ein Gemeinplatz, aber ich fürchte, ein Gemeinplatz, der ziemlich zutreffend ist. Das Lügen gehört da wahrscheinlich sogar zum Handwerk und "Lügner haben rote Ohren" - also da müsste man, glaube ich eher sagen: "Lügner sollten rote Ohren bekommen", damit man sie erkennt.

    Schossig: So wie Pinocchio mit der Nase.

    Erlinger: Genau, das wäre ein ziemlich gutes Mittel. Aber ansonsten ist die Idee schon, dass die Lüge selbst wirklich mit der Farbe Rot zu assoziieren ist, oder nicht eher mit der Farbe Blau, mit der kalten Überlegung? Das wäre noch mal etwas, was man bedenken sollte. Aber wie gesagt, ich sehe hier das Problem weniger in der Frage der Lüge, sondern fast mehr in der Frage: Wie sehr müssen wir uns an die Spielregeln halten?

    Schossig: Glauben Sie, dass solche Diskussionen und auch natürlich die über Spielregeln, wie sie zurzeit um die Vertrauensfrage geführt werden, sehr offen, wie Sie gesagt haben, doch Einfluss darauf haben, was wir, die Bürger uns unter solchen Begriffen, die ja wie gesagt, sehr alt sind und auch gewachsen und auch gefüllt sind mit Moral, mit Abendland, darunter vorstellen. Könnte es nicht sogar sein, dass Moral und politischer Anstand doch Schaden nehmen, im Kleinen, auch durch derartige Machtspiele?

    Erlinger: Ich glaube, die öffentliche Moral in dem Sinne des Zusammenlebens nicht so sehr. Ich glaube, es kann sein, dass tatsächlich das Vertrauen in die Unabänderlichkeit der Gesetze ein bisschen erschüttert wird, dass man sich selbst auch dann die Bestimmungen des täglichen Lebens auch ein bisschen zurechtbiegen kann und merkt, dass man es dann eben so macht, wie es eben passt.

    Schossig: Steuerklärung.

    Erlinger: Ja, das wäre natürlich schon die ganz schlimme, wenn man sagt, "Ich meine, da wäre es doch lieber so, ach ich zahl eh viel zu viel" und solche Dinge. Ich glaube, man muss auch sich ein bisschen überlegen, ob denn für die Bestimmungen, wie sie jetzt bei uns gilt, und wie dieser Artikel 68 Grundgesetz, der also diese Vertrauensfrage regelt, ob denn da diese Worte Vertrauen, oder in Artikel 67 dieses Misstrauen, als dieses Abwählen des Kanzlers, überhaupt noch richtig sind oder von Anfang richtig sind, oder von Anfang an richtig waren. Die sind ja historisch einfach reingekommen durch die Übernahme aus der Weimarer Reichverfassung, wo tatsächlich der Bundeskanzler sich das Vertrauen erst mal holen musste. Bei uns wird er vom Bundestag gewählt, also er hat es primär und ob denn da diese Begriffe wirklich in der ursprünglichen Wortbedeutung und in der Bedeutung, die Sie bei uns im täglichen Leben haben, da hätte ich auch so meine Zweifel. Ich glaube, die werden da schon sehr technisch einfach herangezogen.

    Schossig: Die Vertrauensfrage und das Misstrauensvotum als Joker im Machtspiel. Das war der Publizist Rainer Erlinger mit Betrachtungen über das Schummeln in Politik und Alltag.