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Vincent Almendros: "Ins Schwarze"
Die Geheimnisse einer Familie

Der Südfranzose Vincent Almendros führt mit ausgefeiltem Stil und subkutaner Spannung die Untiefen einer französischen Familie vor. Mord oder Dorfklatsch, Erfindung oder Erinnerung - der Autor treibt ein äußerst raffiniertes Spiel mit Realität und Fiktion.

Von Cornelius Wüllenkemper | 17.05.2019
Zu sehen ist Vincent Almendros und das Cover seines Romans "Ins Schwarze"
Einer der raffiniertesten Stilisten der französischen Gegenwartsliteratur: Vincent Almendros (Autorenfoto: Marie Vuillet/ Cover: Wagenbach Verlag)
Es ist ein äußerst kurzer Roman, den Vincent Almendros in langer Arbeit geschrieben hat. Mehr als zwei Drittel des ursprünglichen Textes seien Kürzungen zum Opfer gefallen, so Almendros. Der Südfranzose arbeitet heute als Lehrer in Paris und gilt als einer der raffiniertesten Stilisten der französischen Gegenwartsliteratur:
"Ich selbst bin nicht unbedingt ein fleißiger Leser, ich möchte bei der Lektüre nicht gelangweilt werden. Genauso möchte ich meine Leser nicht langweilen. Und das vermeide ich, indem ich meinen Text immer weiter kürze. Ich glaube, beim Kürzen setzt ein Effekt ein wie beim Phantomschmerz, bei dem jemand Schmerzen im Arm spürt, obwohl man ihn amputiert hat. Ähnlich funktioniert das bei Wörtern, die man aus einem Text streicht – sie wirken weiter. Das verstehe ich unter der Dichte des Textes."
Immer wieder Unentdecktes
Tatsächlich haben die gerade einmal 116 Seiten des Buchs so viel in sich, dass der Text auch bei wiederholter Lektüre immer wieder Unentdecktes hervorbringt. Auf der Handlungsoberfläche wird der zweitägige Besuch des Ich-Erzählers Laurent Malèvre in seiner Heimat, einem kleinen Dorf in der französischen Provinz, beschrieben. Laurents Cousine will heiraten, er selbst reist mit seiner Begleitung Claire an.
"Bisher war ich ein Mann ohne Geschichte gewesen. Vielleicht, weil ich in einem abgelegenen Dorf geboren wurde, mitten im Nichts. Das nämlich war Saint-Fourneau, ein elendes Kaff. Dorthin zurückzukehren war mir immer schwierig vorgekommen. Dazu muss man wissen, dass meine Mutter noch dort lebte"...
... heißt es in den ersten Zeilen, in denen Laurent, dieser "Mann ohne Geschichte", sich bereits als äußerst wortkarg erweist. Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Wer ist dieser Laurent und weshalb meidet er sein Heimatdorf seit dem Tod seines Vaters? Und wieso stellt er seine Freundin Claire seiner Familie als "Constance" vor? Unklarheiten sind ein Wesensmerkmal dieses Romans. Vincent Almendros:
"Ich erkläre nicht gern, bei mir steht die Beschreibung im Vordergrund. Ich bin davon überzeugt, dass das viel mehr dem realen, alltäglichen Leben entspricht. Man nimmt Dinge wahr, hat Eindrücke und Empfindungen, aber letztlich kann man sich vieles nicht erklären. Wenn ich hier mit Ihnen sitze, dann weiß ich nicht, woher Sie kommen, ich kenne Ihren Hintergrund nicht. Aber ich kann feststellen, wie Sie sich kleiden und sich verhalten. Und genau das interessiert mich auch in der Literatur, eben weil das echte Leben so funktioniert."
Beschreiben statt erklären
Beschreiben statt erklären, dieses Prinzip brachte Vincent Almendros' literarischen Vorgängern vom "Nouveau Roman" bereits vor fast siebzig Jahren große Anerkennung ein, aber auch den Vorwurf, literarischem Formalismus zu frönen. Vincent Almendros' Geschichte über einen merkwürdig schweigsamen Heimatbesuch ist hingegen sehr gut lesbar - er schreibt in kurzen, scheinbar glasklaren Sätzen, die den Eindruck erwecken, man beobachte die Szenerie durch eine Kameralinse. Mit wenigen Worten und äußerst anschaulich führt er seinen Lesern etwa das Herkunftsmilieu seines Ich-Erzählers vor.
"Mit seinem aufgeblähten Bauch, seiner Trainingsjacke, die er auf die Schnelle über ein an den Nähten schon abgewetztes Hemd gestreift hatte, ähnelte mein Onkel einem Fußballtrainer im Ruhestand. 'Na?' fragte er, kam auf mich zu und legte dann eine Hand auf meine Schulter. Das war weniger eine Geste der Zärtlichkeit als die Notwendigkeit, sich abzustützen. Er küsste mich auf die Wangen. Seine waren schlecht rasiert und kratzten. Er roch nach Tabak."
Missglückte Kommunikation
Schon bald erhärtet sich der Verdacht, dass sich hinter diesen lakonischen, scheinbar neutralen Sätzen eine Vielzahl von Andeutungen verbergen, die bei genauer Lektüre aufgedeckt werden müssen. Zunehmend drängt sich dabei der Eindruck auf, dass der Ich-Erzähler Laurent keineswegs objektiv ist, sondern Erinnerungen und Beobachtungen deformiert, das Eigentliche aber verschweigt. Auch Laurents Begleitung Claire findet sich in den Untiefen dieser Familie nicht zurecht. Wie war es damals, als Laurents Mutter zu seinem Onkel zog? Woran ist Laurents Vater gestorben? Und war der Tod seiner Tante ein Unfall? Hat seine Mutter wirklich versucht, ihr Kind zu vergiften? Es sind eigentlich die Fragen des Lesers, die die Romanfigur Claire an den Ich-Erzähler richtet. Mord oder bloß Dorfklatsch, Erfindung oder Erinnerung - Vincent Almendros' wichtigstes Mittel im Spiel mit Realität und Fiktion ist das Verschweigen, die missglückte Kommunikation. Nicht nur zwischen den Figuren herrscht eine kunstvoll gearbeitete Wort- und Ratlosigkeit, auch der Ich-Erzähler selbst hadert mit der eigenen Identität:
"Ich trank meinen Kaffee und fragte den Wirt, ob ich die Toilette benutzen dürfe. Er wies mit einer Geste zu einer Tür hinten im Gastraum. Ich ließ das Wasser aus dem Hahn laufen und wusch mir mit einem flachen, harten Stück Seife die Hände. Ich konnte meinem Gesicht im Spiegel nicht aus dem Weg gehen. Es war ungerührt, ausdruckslos. Es war beinah nicht meines. Ich will sagen, dass es sich in den letzten Jahren sehr verändert hatte. Manchmal musste ich mich anstrengen, um mich wiederzuerkennen."
"Die Frage der Identität beschäftigt mich seit meinem ersten Roman. Ich erzähle meine Geschichte durch das Bewusstsein des Erzählers. Und das beinhaltet eine unvollständige Kenntnis seiner selbst, Laurent irrt umher. Das entspricht meiner Auffassung von einer realistischen Darstellung. Denn auch im echten Leben lassen wir uns sehr viel mehr durch Empfindungen leiten als durch Gewissheiten."
Doppelbödiges literarisches Verwirrspiel
Den Leser regt das dazu an, sich selbst einen Reim zu machen auf die kauzigen Figuren dieser vor skurrilen Geheimnissen strotzenden Geschichte. Wie Vincent Almendros durch sprachlichen Minimalismus und den Verzicht auf spektakuläre Handlungswendungen subkutane Höchstspannung erzeugt, das ist unbedingt lesenswert. Was genau bei dieser Familie bedrohlich aus dem Ruder läuft, darüber erlangt der Leser erst im letzten Satz dieses Kurzromans Gewissheit. Bis dahin sind wir Zeugen eines packenden Verwirrspiels über eine verwahrloste Familie in der französischen Provinz. Die Herausforderung, die Wortspiele und Doppeldeutigkeiten des französischen Originals ins Deutsche zu übertragen, hat der Übersetzer Till Bardoux erfindungsreich gemeistert. "Ins Schwarze" trifft den Nerv des Publikums zweifach: als Familienthriller im schwül-sommerlichen Ambiente und als doppelbödiges literarisches Verwirrspiel.
Vincent Almendros: "Ins Schwarze"
Aus dem Französischen von Till Bardoux
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. 116 Seiten, 16 Euro.