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Virginie Despentes: „Das Leben des Vernon Subutex 3“
Jesus an den Turntables

Virginie Despentes' auch bei uns gefeierte Roman-Trilogie "Das Leben des Vernon Subutex" kommt zum Abschluss: Im dritten Teil wandelt sich der große Gesellschaftsroman in rasender Geschwindigkeit von einer utopischen zur apokalyptischen Vision.

Von Antje Deistler | 28.09.2018
Die Schriftstellerin Virginie Despentes und ihr Roman "Das Leben des Vernon Subutex 3"
Der letzte Teil von Virginie Despentes' Trilogie "Das Leben des Vernon Subutex" ist auf Deutsch erschienen. (Buchcover Kiepenheuer & Witsch, Autorenportrait: imago/Agencia EFE)
Wie bespricht man den dritten Teil einer Trilogie, ohne zu viel über die ersten beiden Teile preiszugeben? Diesen Beitrag hören schließlich auch Menschen, die Teil 1 und Teil 2 von "Das Leben des Vernon Subutex" noch nicht gelesen haben, dies aber möglicherweise noch tun werden. Was ich Ihnen übrigens unbedingt empfehlen möchte, denn Virginie Despentes Serie um den pleite gegangenen ehemaligen Plattenverkäufer Vernon Subutex und seinen extrem heterogenen Freundeskreis ist das böseste und beste Gesellschaftsporträt, das man derzeit in die Hände bekommen kann. Titelheld Vernon Subutex trägt den Namen einer Ersatzdroge für Heroin, weil für alle Gestalten, die ihre Buchreihe bevölkern, die Zeiten von Sex and Drugs and Rock’n’Roll endgültig zu Ende sind, wie Virginie Despentes in einem Interview sagte:
"Man nimmt Subutex statt Heroin, das ist ein wenig die These meiner Buchcharaktere. Alles fühlt sich ein bisschen an wie eine Ersatzdroge - heutzutage."
Was bisher geschah
Trotzdem kann Vernon Subutex süchtig machen. Aber eher wie eine dieser brillant erzählten Fernsehserien, die einen zum tagelangen Bingewatching verführen. Hier also das dazugehörige "Was bisher geschah". Am Ende von Buch 1 landet der couchsurfende Vernon Subutex nach einer Odyssee nicht nur über die Sofa-, sondern auch durch die Seelenlandschaften seiner Jugendfreundinnen und –freunde als Obdachloser auf der Straße. Auf dieser Reise ans untere Ende der sozialen Leiter hat man vielen zornigen, desillusionierten oder einfach resignierten Protagonisten zugehört. Koksenden Börsenmaklern ebenso wie am Rand der Armut lebenden Journalistinnen oder frustrierten Freiberuflern, die im Rassismus Trost finden. Ein vielstimmiger Chor der französischen Wutbürger war das, jedes Solo authentisch und lebendig, wenn auch im seltensten Fall sympathisch.
"Wenn man über 40 ist, gleicht die ganze Welt einer bombardierten Stadt."
In der Fortsetzung wandelte sich der Absteiger- zu einem Aussteigerroman mit Thrillerelementen. Ist Vernons Rockstarfreund Alex Bleach tatsächlich freiwillig aus dem Leben geschieden? Und ist Bleachs Freundin, der Pornostar Vodka Satana, wirklich an Drogen gestorben? Eine ganze Reihe von wohlmeinenden und weniger wohlmeinenden Figuren hat sich auf die Suche nach dem verschwundenen Subutex gemacht, der etwas zu wissen scheint. Als sie ihn finden, scharen sie sich um ihn wie um einen Guru, was Vernon mit der ihn mittlerweile auszeichnenden stoischen Gleichgültigkeit hinnimmt. Zwei junge Frauen aus seinem Gefolge aber nehmen Rache an dem Mann, den sie als Mörder identifiziert haben.
Utopie und Apokalypse
An dieser Stelle muss wirklich etwas verraten werden, es tut mir Leid, aber sonst kommen wir hier nicht weiter. Also Achtung, Spoiler: Aïcha, die streng religiöse Tochter der toten Vodka Satana, und ihre Freundin Céleste überfallen den Filmproduzenten Laurent Dopalet und tätowieren ihm die Worte "Mörder" und "Vergewaltiger" flächendeckend auf den Rücken. Die beiden kennen offenbar ihre Lisbeth Salander aus Stieg Larssons weltberühmter "Millenium" Trilogie. Aber anders als die feministische Ikone aus Schweden werden die Französinnen aus diesem Rachefeldzug nicht als Siegerinnen hervorgehen. Wobei wir in Teil 3 angekommen wären, der sich mit zwei Worten zusammenfassen lässt: Utopie und Apokalypse.
Am Anfang dieses Buchs hat Vernon Subutex zwar fürchterliche Zahnschmerzen, aber sonst geht es ihm so gut wie lange nicht. Mit seinem eigentlich überhaupt nicht zusammenpassenden Freundeskreis aus Reichen, Armen, Rechten, Linken und Gleichgültigen lebt er ein Aussteigerleben fern von Paris. Er ist zu einer Art Jesus an den Turntables geworden, der mit seiner Jüngerschar durch Frankreich zieht und sogenannte "convergences" abhält, bei denen sich ein exklusiver Kreis geladener Gäste in Trance tanzt. Die Musik, die die gesamte Reihe durchzieht, wird hier (zumindest vorläufig) zur Erlösung. Doch den Erlöser Vernon plagen in dieser Idylle ungewohnte Ängste.
"Nie im Leben hatte er Schiss zu verlieren, was er hatte: Er dachte immer, das hänge nicht von ihm ab. Jetzt genießt er einen Komfort, der nicht materiell ist – sie schlafen in leeren Häusern, wenn es überhaupt Häuser gibt, selten mit Heizung, sie lassen sich an Quellen nieder, wenn es kein fließendes Wasser gibt, und waschen sich bei minus sieben Grad im Freien, sie essen zusammen aus einer Schüssel – und trotzdem leben sie im Luxus. Sie sind überzeugt, eine besondere Erfahrung zu teilen, eine Gabe, die das Leben ihnen nicht schuldete, ein Geschenk, etwas Magisches. Und er möchte nicht, dass das aufhört."
Die Katastrophe nimmt ihren Lauf
Man ahnt es: Das friedliche Hippieleben wird nicht lange anhalten. In Paris geschehen erst die Anschläge auf Charlie Hebdo, dann der Massenmord im Bataclan und Umgebung. Die Stadt steht unter Schock. Virginie Despentes beschreibt die Angst mit einfachen Mitteln, aber umso eindringlicher: Wenn ihre Protagonistinnen Sylvie und Pamela abends auf der Piste keine High Heels mehr tragen, sondern nur noch flache Turnschuhe, um schnell fliehen und zur Not aus Fenstern klettern zu können, hat man ein Bild von der allgegenwärtigen Panik. Parallel erben Vernon und seine Kommunarden überraschend sehr viel Geld. Neid und Mißtrauen machen sich breit. Der ausschlaggebende Schritt in Richtung Katastrophe jedoch führt über Virginie Despentes eigenes lebenslanges Trauma: Als Teenager wurde sie vergewaltigt, alle ihre Bücher behandelten das Thema Vergewaltigung oder streiften es zumindest. In ihrem Debütroman "Baise-moi" schickte Despentes zwei junge Frauen nach einer Vergewaltigung auf einen blutigen Rachefeldzug. Nun taucht ihr Lebensthema also doch noch auf in "Vernon Subutex": Céleste ist nach dem Überfall auf Dopalet zwar untergetaucht, doch der mächtige Mann findet sie und lässt sie tagelang von einer Bikergang vergewaltigen. Und dann rächt er sich auch noch an allen ihren Freunden, an Vernon Subutex’ gesamter Gefolgschaft. Das ist das apokalyptische Ende der Trilogie, das man so nicht kommen sah.
Zum Schluss wirft Despentes sogar einen Science-Fiction-haften Blick ins Jahr 2286, und der kommt einer düsteren, quasi-religiösen Prophezeiung gleich. Man kann das alles unglaubhaft und völlig abgedreht finden. Aber wie glaubhaft die Handlung ist, das ist hier nicht der Punkt. Tatsächlich filtert Virginie Despentes mit ihrem wilden Roman voller halsbrecherischer Wendungen, viel zu vielen Zufällen und fantastischen Charakteren am Ende nur eins über unsere Gegenwart heraus: die reine Wahrheit.
Virginie Despentes: "Das Leben des Vernon Subutex 3"
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 416 Seiten, 22 Euro.