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"Vögel" und "Orestie" am Schauspiel Stuttgart
Familiensaga und Nahostkonflikt zum Auftakt der neuen Intendanz

Auftakt der Schauspiel-Intendanz von Burkhard C. Kosminski in Stuttgart. Zuvor war er zwölf Jahre Schauspieldirektor am Nationaltheater Mannheim, dem wichtigsten Theater für Uraufführungen in Deutschland. Gut möglich, dass er auch Stuttgart auf diese Linie bringen wird.

Von Christian Gampert | 18.11.2018
    Eine Szene aus Robert Ickes Inszenierung von "Orestie" am Schauspiel Stuttgart, November 2018
    Eine Szene aus Robert Ickes "Orestie" am Schauspiel Stuttgart (Schauspiel Stuttgart / Matthias Horn)
    Sind wir alle eine große Familie? In Stuttgart wird man mit zwei Familiensagas so heftig und ausdauernd in Beschlag genommen, dass man erschöpft aus dem großen Purgatorium herauskommt. Das erste, das man lernt: Familie kostet Zeit. Siebeneinhalb Stunden dauern die beiden Aufführungen zusammen. Das zweite: Familie ist Kontrolle. Sogar die Pausenzeiten werden bei Robert Icke mit der Stoppuhr gemessen. Drittens: Familie ist, in Zeiten der Migration, ein großes Chaos, ein babylonisches Sprachengewirr. In vier verschiedenen Zungen wird in Wajdi Mouawads Stück unter dem Titel: "Vögel" durcheinandergeredet. Bei Robert Icke in der "Orestie" wiederum ist zwar alles auf Deutsch, aus dem ursprünglichen Englisch übersetzt von Ulrike Syha, aber der Bearbeiter Icke bleibt vor der antikischen Wucht des Aischylos eher sprachlos und findet lautet modische Floskeln, um den Stoff in eine schein-emanzipierte Gegenwart zu holen. Der mörderische Familienkonflikt wird bei ihm zwar wortreich beredet, es tut aber gar nicht weh.
    Liebesgeschichte mit Nahost-Konflikt

    Wajdi Mouawad weitet in "Vögel" eine nette kleine Liebesgeschichte zum Nahostdrama. Wie in Eric Segals "Love Story" lernen sich Eitan und Wahida in einer Bibliothek in New York kennen, und so frischgewaschen und jugendlich kommt das auch in Burkhard Kosminskis Inszenierung daher. Dann aber will Eitan die neue Liebe seinen Eltern in Berlin vorstellen, und die sind nun gar nicht begeistert: Wahida ist eine amerikanisierte Palästinenserin. Eitan dagegen kommt aus einer jüdischen Psychotherapeuten-Familie: seine ostdeutsche Mutter wurde noch kommunistisch erzogen. Sein Vater ist als Kind aus Israel nach Berlin migriert.
    Dieser komplizierte Aufbau ist offensichtlich am Reißbrett entworfen, und das ist auch die Crux des Stücks: schwierig sind nicht die plakativen Charaktere, schwierig ist die Situation, in der sie leben. Problem-Bebilderungs-Theater. Auch die Hoffnung, dass aus der Mehrsprachigkeit eine ganz eigene Poesie entstehen möge, erfüllt sich nur zum Teil. Viel zu oft reden die Figuren wie im Schaufenster und viel zu monologisch aneinander vorbei, ihre generelle Heimatlosigkeit spiegelt sich in den vielen Sprachen.
    Natürlich ist das alles schwer zu spielen. Aber die Figuren bleiben gefangen in einem vorgegebenen ideologischen Korsett: Eitan ist Biogenetiker, Wahida Kulturwissenschaftlerin. Was bestimmt die Identität: die Chromosomen oder doch eher die Sozialisation? Das ist hier die Frage. Etwas salopper formuliert: Ist das jüdische und palästinensische Leid erblich, oder kann es überwunden werden, politisch und vielleicht sogar durch Sex? Erwartungsgemäß begeben sich die Liebenden auf die Suche nach ihrer Identität ins gelobte Land. Dort wird sie von einem israelischen Soldaten verhört und vergewaltigt, er wird Opfer eines Anschlags auf der Allenby-Bridge. Die besorgten Eltern reisen dem Paar nach, Eitans Vater, gespielt von dem hier etwas unterforderten Itay Tiran, steigert sich in einen anti-arabischen Furor hinein. Und Eitans Großmutter, Evgenia Dodina vom Gesher-Theater, hütet ein Familiengeheimnis. Eitans fanatischer jüdischer Vater ist eigentlich ein arabisches Findelkind aus dem Sechstagekrieg.
    Agamemnon als Politmanager

    Das hört sich alles sehr kolportagehaft an, eröffnet aber auch intime Einblicke in den Nahostkonflikt und durch die vielen israelischen Schauspieler auf der Bühne fühlt man sich manchmal ein bißchen wie in Tel Aviv. Viel brutaler, von Anfang an, ist Robert Ickes Orestie, die er um die Iphigenie-Episode erweitert. Agamemnon ist bei dem finsteren, supervirilen Obermacho Matthias Leja nicht nur Heerführer, sondern auch Präsident und Politmanager und, selbstredend, liebender Familienvater am Abendbrottisch. Töchterlein Iphigenie, die für die günstigen Winde geopfert werden muss, wird wie in Amerika per Tablettengabe hingerichtet, nachdem allerlei Politchargen den Vorrang der Gemeinschaft vor egoistischen Einzelinteressen, also dem Lebensrecht der Iphigenie, beschworen haben. Alles wird im Fernsehen übertragen, auch die Rückkehr des siegreichen Agamemnon aus Troja, der nun gemeinsam mit Gattin Michelle, Hillary, Melania - nein: Klytemnestra ans Mikrophon tritt. Oder sie mit ihm.
    Die Klytemnestra der großartigen Sylvana Krappatsch ist das Zentrum dieser im Ganzen nicht sehr überzeugenden Inszenierung. Sie ist die einzige wirklich moderne Figur, die anderen behaupten das nur. Sie hat das strategische Denken einer angeblich oder vergeblich Emanzipierten, aber sie hat auch die antike Wut. Während Gatte Agamemnon mit der schwermütigen Beutefrau Kassandra aus dem Krieg heimkehrt, hat sie schon längst einen leider eher faden Liebhaber, Äghist, der Agamemnon aufs Haar gleicht. Sie kämpft zunächst für ihre Kinder. Aber der Rächer Orest sitzt den ganzen Abend lang bei einer Psychoanalytikerin und versucht sich zu erinnern. Am Schluss steht Orest seltsamerweise vor dem Bundesverfassungsgericht.
    Lernen durch Leiden? Fragt Robert Ickes Orestie. Die Aussichten stehen eher schlecht. Aber die Internationalisierung des Theaters schreitet voran, zumindest in Stuttgart.