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"Gulaschdemokratie"?

Seit der Veröffentlichung eines Tonbandprotokolls mit Äußerungen des Regierungschefs Ferenc Gyurcsany über seine Wahllügen, kocht der Volkszorn in Ungarn. Immer noch gehen Tausende auf die Straße und fordern den Rücktritt des Ministerpräsidenten. Ungarn steckt in einer schweren Krise, das wissen die Politiker längst. Nun haben sich mehrere Intellektuelle zu Wort gemeldet.

Von Anat-Katharina Kalman | 15.10.2006
    Aus einer Reportage des ORF vom 30.10.1956:

    Stimmengewirr und begeisterte Rufe ... ein Reporter spricht neben der Menge: "Nagy erscheint, winkt mit dem Hut, tritt jetzt an das Mikrofon."

    "Ich spreche wieder zu Euch, ungarische Brüder, mit warmer inniger Liebe. Der revolutionäre Kampf, dessen ihr Helden ward, hat gesiegt. "
    Budapest am 30. Oktober 1956. Ministerpräsident Imre Nagy kündigt vor dem Budapester Parlament den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt an. Und er weiß: Hinter ihm stehen die sozialistischen Intellektuellen des Landes. Der Petöfi-Kreis und die vom marxistischen Philosophen Georg Lukacs gegründeten Budapester Schule. Sie wollten einen demokratischen Marxismus, was hieß: Vielfältige Eigentumsformen, aber keinen Profit orientierten Kapitalismus, Freiheit in Bildung und Kultur und Schaffung basisdemokratischer Strukturen mit Volksentscheiden. Doch mit dem Einmarsch der Sowjets kamen diese Reformprogramme nicht zum Zuge.

    " Nach der Wende 1990 haben wir dann eine links-demokratische Partei gegründet. Den SZDSZ. Ich war einer der Mitbegründer gewesen. Und andere Intellektuelle aus der Budapester Schule gehörten damals dazu. Doch wir sind wieder ausgetreten. Denn diese Partei ist keine linke Partei mehr. Vor allem ihre Wirtschaftspolitik ist neokonservativ. Zurzeit gibt es in Ungarn überhaupt keine Partei, von der eine links orientierte Politik zu erwarten wäre, "

    erklärt Gaspar Tamas, einer der führenden Budapester Linksintellektuellen, die heute beklagen, dass die gesamte Osterweiterung nicht mehr als eine "Reform der Wirtschaftslenkung" war, an der vor allem die internationalen Firmen gut verdienten. Während bereits dreißig Prozent der Ungarn unterhalb der Armutsgrenze leben. Ungarn braucht eine neue Linksbewegung - fordern sie und verweisen auf den 1971 verstorbenen ungarischen Philosophen Georg Lukacs. Laszlo Sziklai, der Direktor des Budapester Lukacs-Archivs hierzu:

    " Lukacs sagte, dass es im 2o. Jahrhundert nicht gelang, einen demokratischen Marxismus durchzusetzen. Und dass das 21. Jahrhundert eben darum vor den gleichen Probleme stehen wird. Was stimmt. Es gibt heute keine Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft mehr. Man spricht zwar dauernd von Freiheit, akzeptiert aber ein Wirtschaftssystem, das eben diese Freiheit einschränkt, weil es den Menschen verweigert, was frei macht - nämlich Arbeit und anständige Bezahlung."

    Einfach eine neue Linkspartei zu gründen, bringt jedoch nicht viel. Die kommunistischen Ideologien haben in Mittelosteuropa eine viel zu dicke Blutspur hinterlassen. Trotzdem wollen die ungarischen Linksintellektuellen mehr, als nur punktuelle, bunt alternative und eventartige Demonstrationen gegen soziale Ungerechtigkeit, Weltbank und den G-7 Gipfel. Eine neue Linke kann nur als ernst zu nehmende "intellektuelle Bewegung" wieder entstehen - meint Gaspar Tamas. Und zwar europaweit.

    Nur ein Radikalismus, der auf einem durchdachten Modell basiert und eine intellektuelle Ehre hat, kann langfristig auch etwas bewirken. Medien, Kultur und Wissenschaft müssen darum wieder zum Podium für Ideen werden, die die Bürger als vernünftig denkende Wesen ansprechen und mobilisieren.

    Tamas: "Es gibt einen Konsens zwischen den Medien und der Politik und der besagt: Das Volk ist dumm. Darum bloß nicht nachdenken. Nur Fakten, Stargeschichten, Seifenopern und tragische Einzelschicksale - aber bitte keine Konzepte - Huch, wie akademisch und theoretisch. Doch genau das bräuchten wir - Konzepte und Theorien. Rosa Luxemburg konnte 1911 in der Leipziger Volkszeitung eine hundertseitige Analyse in Fortsetzung schreiben. Das ist heute undenkbar. "

    Noch vor einer Partei wird Gaspar Tamas eine Radiostation im Internet gründen. Dort können Appelle weitergegeben, gezielte Proteste und Solidaritätsaktionen gestartet werden. Und es soll auch wieder hör- und sehbar "gedacht" werden. Schon in diesem Herbst veranstaltet er unter dem Motto: "Befreit Marx vom Marxismus und Bolschewismus" in ungarischen Universitäten und Betrieben wieder Vortrags -und Diskussionsabende, wo er sozialistische Gesellschaftsmodelle und Strategien zu ihrer Durchsetzung vorstellt. Der Kampf hat begonnen - meint Gaspar Tamas:

    "Und wir möchten mehr, als nur ein paar alte sozialdemokratische Prinzipien aufwärmen. Es geht uns darum, zum Kapitalismus als solchen eine Alternativökonomie zu entwickeln. Denn so, wie der Kapitalismus jetzt funktioniert, wird er in zehn bis zwanzig Jahren in sich zusammen brechen. Und bis dahin muss es etwas anderes geben."