Der politische Essay spielte in den Sozial- und Geschichtswissenschaften immer eine besondere, wenn auch lange vernachlässigte Rolle: Wer sich an dieses Genre wagt, macht sich leicht angreifbar. Er befreit sich intellektuell vom Korsett der Chroniken und Fakten und erlaubt sich subjektive Einschätzungen. So schreibt Volker Perthes, sein Essay sei der Versuch, die gegenwärtigen Entwicklungen im Nahen Osten gedanklich neu zu fassen.
Das ist ein überzeugender Ansatz. Und zwar umso mehr, als die scheinbar faktische Objektivierung des Geschehens im Nahen Osten besonders schnell an ihre Grenzen stößt: Jeder Akteur, jede Ethnie, jede Interessengruppe stützt sich auf eigene Narrative und reklamiert die Wahrheit für sich. Dazwischen liegen all jene Sprengsätze, die die Konflikte immer wieder befeuern. Perthes entgeht diesen Fallstricken, indem er sich auf die grundsätzlichen Entwicklungen seit Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings 2011 konzentriert und sie so zusammenfasst:
"Bis 2011 war der Nahe und Mittlere Osten überwiegend als eine politisch stagnierende Nachbarregion wahrgenommen worden, in der Wandel, wenn überhaupt, sehr langsam vonstattengehen würde; seit 2011 dann für einige Zeit als eine Region im Aufbruch (...). Heute (...) beobachten wir den Rückfall in autoritäre Herrschaftsmuster, gleichzeitig aber auch die Auflösung existierender Ordnungen, den Aufstieg neuer Akteure sowie neue oder sehr alte Polarisierungen entlang konfessioneller und ethnischer Trennlinien."
Perthes spricht von einer Zeitenwende im Nahen Osten - und meint damit jene Zäsur, die mit den Aufständen in Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien begann und mittlerweile in den Terror des Islamistischen Staates mündete. Der Nahe Osten ist in Aufruhr: Ägypten ist in das bekannte autoritäre Herrschaftsmuster zurückgefallen. Der Irak, Syrien, Libyen versinken im Bürgerkrieg. Längst überspringen die Konflikte staatliche Grenzen. Die alte Ordnung des Sykes-Picot-Abkommens, das die Region nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches neu gliederte: Dieses Gefüge bricht auseinander - und niemand weiß, was damit geschehen soll. Volker Perthes sagt es so:
"Wir haben eine Auflösung von Ordnung, nicht eine Schaffung von neuer Ordnung. Und viele von denen, die die alte Ordnung falsch fanden, und in nationalistischen oder auch islamistischen Bewegungen dagegen gekämpft haben in dieser Region, stellen heute fest, dass die Alternative dazu keine bessere Ordnung ist, sondern überhaupt keine Ordnung."
Verändert haben sich indes auch die gesellschaftlichen Verhältnisse: Die Staaten bestehen nicht mehr allein aus politischen Führungen nebst etablierten Eliten. Die Bevölkerung hat - wie in Ägypten oder Tunesien - eine Stimme gefunden oder wird es - wie in Saudi-Arabien oder auch im Iran - unweigerlich tun. Verkrustete Strukturen sind aufgebrochen.
"Was wir sehen ist, dass das, was man den alten contract sociale, den alten Gesellschaftsvertrag nennen könnte, aufgelöst hat. Das war ein Gesellschaftsvertrag, der beruhte darauf, dass Autoritarismus akzeptiert wurde, solange die autoritären Staaten Wachstum und Entwicklung generieren konnten. Dieser Gesellschaftsvertrag hält nicht mehr. Die nachwachsende Generation hat weniger Chancen, obwohl sie besser ausgebildet ist, als die Generation der Eltern. Und dieser Gesellschaftsvertrag ist aufgebrochen."
Tatsächlich ist weit und breit niemand in Sicht, der diesem Chaos ein Ende machen könnte: Während sich die Akteure im Widerstreit der Identitäten, Konfessionen und Ideologien befinden und die Frage nach der Deutungshoheit über den Islam die Konflikte zwischen den Konfessionen weiter befeuert, hat der Westen längst die Konsequenzen gezogen. Anders als von großen Teilen der regionalen und internationalen Öffentlichkeit immer wieder behauptet, gibt es laut Perthes keinen neuen westlichen Masterplan zur Umgestaltung des Nahen Ostens. Tatsächlich ziehen sich die USA erschöpft und frustriert zurück.
"Anders als zu Beginn des 21 Jahrhunderts (...)betreiben die wichtigsten Akteure heute der Region gegenüber eher eine defensive Geopolitik: Man versucht zwar, eigene Interessen zu wahren und zu schützen sowie regionale Partner zu stärken, setzt generell aber in erster Linie auf die Abwehr von Risiken und die Eindämmung von Konflikten in der Region.(...) Auf jeden Fall geht es nicht darum, Regimewechsel zu forcieren oder Staaten der Region neu zu ordnen."
Geradezu symptomatisch für diesen Paradigmenwechsel ist der Atomdeal mit dem Iran, den Teheran und Washington unter Vermittlung Europas jüngst beschlossen haben: Der Iran verzichtet auf große Teile seines bedrohlichen Atomprogramms und ordnet sich einem strikten Kontrollsystem unter. Die USA lassen im Gegenzug ihre Ambitionen auf einen Regimewechsel in Teheran fallen und akzeptieren die politische Rolle Irans in der Region. Das löst bei den traditionellen Verbündeten Washingtons Besorgnis aus: Besonders in Israel, aber auch in Saudi-Arabien, das sich durch die Aufwertung Teherans in seiner hegemonialen Vormachtstellung am Golf bedroht sieht. In beiden - im Iran und in Saudi-Arabien - sieht Volker Perthes indes den Schlüssel zur Beendigung des syrischen Bürgerkriegs.
"Beide scheinen aber weder fähig noch willens zu sein, die Protagonisten und Stützen eines regionalen System kollektiver Sicherheit (...) zu werden, das gewaltsame Konflikte oder die weitere Erosion von Staaten und Grenzen zumindest einhegen könnte. Auch ein System stabiler Allianzen, das die Region im Gleichgewicht halten würde, ist nicht in Sicht."
Und damit ist auch offen, ob und wie sich Iran und Saudi-Arabien zusammenfinden werden, um ihren gemeinsamen Feind - den IS - auch gemeinsam zu bekämpfen. Dies der Türkei oder den westlichen Partnern zu überlassen, ist sicherlich keine realistische Option.
Was heißt das für die europäische Politik? Volker Perthes verlässt die Haltung des Essayisten und schlüpft in die vertraute Rolle des Politikberaters, wenn er konkret empfiehlt, alles zu unternehmen, um eine Entspannung zwischen Iran und Saudi-Arabien zu fördern; um den Kampf gegen den IS logistisch - und das heißt auch: mit Waffen - zu unterstützen; und um den Transformationsprozess aktiv zu begleiten: Durch Bildungsangebote etwa. Für Perthes bedeutet all das gerade nicht, auf die Zusammenarbeit mit autoritären Regimen zu verzichten.
"In jedem Fall ist es leichter, mit einem schwierigen, aber funktionierenden Partner umzugehen, als mit gescheiterten Staaten."
Volker Perthes setzt bei der Lektüre einiges Vorwissen voraus - doch sein Essay ist ertragreich und äußerst lesenswert. Der Autor zieht die Summe seiner langjährigen Auseinandersetzung mit dem Nahen Osten und macht deutlich, dass es nicht noch mehr Fakten und Einzelheiten zum Verständnis dieser schwierigen Region bedarf. Gefragt sind die richtigen Schlüsse. So könnte das Buch zu einer Art Vademecum für die weitere Begleitung des nahöstlichen Weges werden.
Volker Perthes: "Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen. Ein Essay"
Edition Suhrkamp, 144 Seiten, 14,40 Euro.
Edition Suhrkamp, 144 Seiten, 14,40 Euro.