Dienstag, 16. April 2024

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Volksabstimmungen
"Tyrannei der gebildeten Minderheit"

Viele Menschen fühlen sich von der Politik nicht mehr repräsentiert. Sie wünschen sich mehr direkte Demokratie - in Form von Referenden. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel hält das für eine wichtige Alternative zu Wahlen. Gleichzeitig sieht er aber auch Probleme: Nämlich dann, wenn bei geringer Wahlbeteiligung eine kleine Gruppe über die ganze Bevölkerung entscheide.

Wolfgang Merkel im Gespräch mit Britta Fecke | 27.11.2016
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    Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel (Foto: WZB / David Ausserhofer)
    Demokratie heiße Herrschaft des ganzen Volkes und nicht einer bestimmten Auswahl. Statistisch gelte die Faustregel: Je weniger Menschen wählen gingen, desto höher sei die soziale Ausgrenzung. "Mit jedem Wahlprozent weniger sehen wir, dass mehr Menschen der unteren Schichten - und ich verwende hier den soziologischen Begriff - aussteigen. Das kann nicht gut für eine Demokratie sein."
    "Großintellektuelle", die nicht wählen gingen, seien statistisch zu vernachlässigen. Es seien insbesondere die unteren Schichten, die nicht wählen gingen. In den USA gebe es noch eine Besonderheit: Dort gingen bestimmte Ethnien nicht wählen - das sei für eine multi-ethnische Gesellschaft "verheerend".
    "Menschen fühlen sich zunehmend abgehängt"
    Ihren Erfolg hätten rechtspopulistische Parteien somit nicht den untersten Schichten zu verdanken, sondern der unteren Mittelschicht, meint Merkel, "jene, die sich subjektiv bedroht fühlen und nicht repräsentiert. Das kann ökonomische Interessen betreffen, kann aber auch auf die kulturelle Identität zielen." Die untersten Schichten aber habe man verloren: "Die mobilisieren nicht mal die Rechtspopulisten." Grund für die erfolgreiche Mobilisierung der unteren Mittelschicht sei die Spaltung der Gesellschaft durch die Globalisierung. "In unseren Demokratien fühlen sich Menschen zunehmend abgehängt." Die Globalisierung habe "eindeutige Gewinner", aber auch "eindeutige Verlierer" hervorgebracht, so Merkel.
    Die etablierten Parteien würden vor allem von "gut situierten" Schichten in der Mitte des politischen Spektrums gewählt, die ökonomisch gesichert seien. Zudem gebe es kleinere Parteien, die sich auf ein bestimmtes Klientel spezialisierten, wie etwa die Grünen, die das sogenannte Prenzlauer-Berg-Klientel vertreten würden. "Das sind doppelt verdienende Akademiker-Familien, die Bessergestellten, die sich leider auch moralisch oft als überlegen präsentieren," so Merkel.
    Mehr für politische Bildung tun
    Dennoch befände sich die Demokratie nicht in einer tiefen Existenzkrise wie Anfang der 1930er-Jahre, meint Merkel. "Aber wir sehen Abnutzungserscheinungen und Unzufriedenheiten, vor allem mit dem Instrument der Wahl." Wahlen seien ein wichtiger Bestandteil der Demokratie, aber nicht alles für eine Demokratie. Es gebe auch alternative Möglichkeiten wie etwa Volksabtimmungen: "Das ist der direkte Ausdruck eines Wollens, einer Präferenz und sie müssen ernst genommen werden," so der Politikwissenschaftler. Allerdings seien Volksabstimmungen auch nicht unproblematisch: In der Schweiz etwa sei es ein "Riesenproblem", wenn beispielsweise auf kantonaler Ebene über Steuerpolitik abgestimmt werden, aber nur 30 Prozent wählen gingen. "Das ist dann eine Tyrannei der gebildeten Minderheit," sagte Merkel. "Der Ausschluss der unteren Schichten wird da noch viel deutlicher als bei uns."
    Um wieder Vertrauen in die Demokratie aufzubauen, müsse mehr für die politische Bildung getan werden. Zudem müsse die Wertschätzung der Demokratie in öffentlichen Debatten stärker hervorgehoben werden. "Wir haben zum Beispiel viele christliche Feiertage, aber keinen einzigen Feiertag, der sich auf die Demokratie bezieht." Aber auch das werde das Problem des mangelnden Vertrauens in die Demokratie nicht lösen, meint Merkel, zumindest so lange nicht, wie Ressourcen in einer Gesellschaft ungleich verteilt seien.
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