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Vollmer: Ehemalige Heimkinder leiden oft unter einem Gefühl von unglaublicher Ohnmacht

Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer, Vorsitzende des Runden Tisches zur Aufarbeitung des Schicksals von Heimkindern in den 50er und 60er Jahren, hält eine Entschädigung der Betroffenen für möglich. Allerdings müssten dafür neue gesetzliche Regelungen getroffen werde. Vollmer zeigte sich von den Einzelschicksalen erschüttert. In der unmittelbaren Nachkriegszeit habe eine erstaunliche Gefühllosigkeit gegenüber dem Schicksal gerade von Kindern geherrscht.

Antje Vollmer im Gespräch mit Friedbert Meurer | 17.02.2009
    Friedbert Meurer: Vor gut vier Jahren haben im Taunus bei Wiesbaden ehemalige Heimkinder einen eigenen Verein gegründet. Es ist kein üblicher Verein, in dem man sich jährlich treffen will, um an selige alte Zeiten zu erinnern. Noch Jahrzehnte nach ihrem Heimaufenthalt leiden die einstigen Zöglinge an den Folgen ihrer Misshandlungen. Wer im Internet auf der Homepage des Vereins ehemaliger Heimkindereinmal ein bisschen nachliest, der sieht dort Erfahrungsberichte, die einem den Atem rauben. Das war im demokratischen Teil Deutschlands möglich bis Anfang der 70er Jahre.
    Der Runde Tisch zum Schicksal der Heimkinder, der heute seine Aufgabe aufnimmt, wird geleitet von Antje Vollmer, der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin (Bündnis 90/Die Grünen). Guten Morgen, Frau Vollmer!

    Antje Vollmer: Guten Morgen.

    Meurer: Als Sie sich vorbereitet haben für diesen Runden Tisch, welche Schicksale haben Sie denn besonders berührt oder erschüttert?

    Vollmer: Eigentlich vom ersten Tag an, wo der Petitionsausschuss mich gefragt hatte – und zwar einstimmig -, dass ich das leiten sollte, sind bei mir schon sehr viele Fälle von früheren Heimzöglingen eingetroffen, die dann ihr Schicksal erzählt haben, und das ist ganz, ganz unterschiedlich, aber meistens getragen von einem Gefühl von unglaublicher Ohnmacht und Ausgeliefertsein, auch der Frage, warum haben meine Eltern mich manchmal freiwillig da reingeschickt, und dem Gefühl, dass man darüber das ganze Leben lang nicht reden durfte. Das war, glaube ich, ganz besonders. Man hat das als ein Stigma verstanden.

    Meurer: Inwiefern wurden Sie da reingeschickt? Was meinen Sie damit?

    Vollmer: Wenn man in die Zeit damals reintaucht, das ist ja eine äußerst harte Zeit gewesen gegenüber dem Schicksal von einzelnen und wie mir scheint auch insbesondere von den Schwachen und da besonders den Kindern, und nicht wenige dieser Heimerziehungen sind mit Zustimmung der Eltern passiert. Es gab dann auch Vormundschaftsgerichte, es gab freie Wohlfahrtspflege, die das angeregt haben, aber in nicht wenigen Fällen haben die Eltern zugestimmt, weil sie überfordert waren, weil sie anderes in ihrem Leben vorhatten. Man muss sehen, es war die unmittelbare Nachkriegszeit und da gab es eine erstaunliche Gefühllosigkeit gegenüber dem Schicksal gerade von Kindern.

    Meurer: Nun hat es ja gerade in den 60er Jahren, frühen 70er Jahren eine sogenannte Heimkampagne gegeben. Das war ein wichtiges Thema für die 68er und für die APO. Haben Sie damals mitbekommen, dass es eine solche Quälerei und Demütigung in den Heimen gibt?

    Vollmer: Ja. Man hat ja viel über 68 geschimpft, gerade im letzten Jahr, aber ich glaube, das bleibt ein Ruhmesblatt dieser 68er-Bewegung. Die hieß ja "Antiautoritäre Bewegung" und da war Erziehung, und zwar in der ganzen Breite, in den Schulen, in den Elternhäusern, aber eben auch in den Heimen tatsächlich ein großes Thema. Und zwar ging es damals noch nicht so sehr um die Opferfrage, sondern es ging einfach um Freiheit, sich dieses alles nicht mehr so gefallen zu lassen, und das war ein Teil dieses sehr harten Generationenkonfliktes.

    Meurer: Fast alle Heime waren damals in kirchlicher Trägerschaft. Warum ist es gerade unter der Obhut der Kirchen zu solchen Übergriffen gekommen?

    Vollmer: Das ist, finde ich, auch persönlich besonders tragisch. Es waren nicht alle Heime in kirchlicher Hand, aber sagen wir mal 75 bis 80 Prozent doch, und da geht die Geschichte lange zurück. Eigentlich ist es eine Frage des Pietismus gewesen der inneren Mission, Wichern, Bodelschwingh und so weiter, die gesagt haben, wir wollen uns um die Schwächsten kümmern, und dann entstehen diese Heime und sie entstehen aber nicht im Geiste des Evangeliums als Orte der Freiheit, sondern als Orte, wo sich das gesamte rigide Law and Order-Denken teilweise auswirkt. Wir sind ja nun jetzt erst am Anfang, um das alles zu überprüfen. Es hat sicher auch andere Heime gegeben, aber die Vorstellung, dass man in einem geschlossenen Raum unbeobachtet ist und dass übrigens auch häufig völlig überforderte Erzieher da waren, die ja überhaupt nicht ausgebildet wurden, da muss sich die Kirche schon besonders manche Fragen stellen. Warum hat sie dann auch ihren Erziehern nicht geholfen? Warum hat sie nicht gesagt, auf welches Ideal von Freiheit Kinder zu erziehen sind in einer demokratischen Gesellschaft? Das war ja frühe Adenauer-Zeit. Es gab solche Heime auch in der DDR. Da sagt man heute, das war ein Unrechtsstaat. Aber dass so viel Unrechtserfahrung in einer beginnenden demokratischen Gesellschaft war, da muss man viele Fragen, natürlich auch alle die, die daran freiwillig mitgewirkt haben.

    Meurer: Wie wollen Sie vor allen Dingen jetzt mit dem Runden Tisch den Opfern von damals und denen, die das Martyrium überlebt haben, helfen?

    Vollmer: Ein Runder Tisch ist ja kein Tribunal. Es geht nicht um Anklage, Verteidigung und dann Gerichtsurteil, sondern wir haben gerade deswegen alle, die damals mitgewirkt haben, also auch die Jugendämter, auch die Richter, auch die Vormundschaftsgerichte, an einem Tisch, die Kirchen, die Diakonie, die Caritas, und wir hoffen, dass alle sehr genau hinhören, sich sehr genau einen Begriff über die damalige Zeit machen und sich dann selber auch verpflichten, an einer Lösung zu arbeiten.

    Meurer: Für die Heimkinder aber ganz wichtig ist auch die Frage der Entschädigung. Wie stehen ihre Chancen dafür?

    Vollmer: Da haben wir uns erst mal auf die Formel geeinigt, nichts ist ausgeschlossen, auch keine Entschädigung, aber nichts ist zum jetzigen Zeitpunkt garantiert. Ich glaube, je tiefer wir verstehen, was damals passiert ist, umso mehr begreifen wir, dass es eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft ist, auch denen, die sich heute für ihr ganzes Leben davon geschädigt fühlen, bei zustehen mit einer ganzen Palette von Möglichkeiten.

    Meurer: Von was wird es denn abhängen, ob es eine materielle Entschädigung, eine Rente oder dergleichen gibt?

    Vollmer: Nicht zuletzt auch von gesetzlichen Regelungen. Der Petitionsausschuss hat sich ja schon drei Jahre mit dem Thema beschäftigt und festgestellt, dass keine der heute geltenden gesetzlichen Regelungen in der Lage wäre, da eine Entschädigung oder so etwas zu bilden, noch nicht mal die Opferentschädigungsrente. Also müssen wir auch da gucken, wie man im Konsens mit allen – wir haben ja auch den Bund, wir haben die Länder, wir haben die Kommunen, wir haben die Wohlfahrtsverbände dabei – vielleicht eine Lösung findet, die neu ist.

    Meurer: Die Evangelische Kirche hat ja schon gesagt, sie kann sich eine Entschädigung vorstellen. Ist das auch von der katholischen Seite denkbar?

    Vollmer: Die Evangelische Kirche hat sich auch noch nicht verpflichtet. Da müssen wir genau sein. Ich denke, das wichtigste ist, dass alle ganz offen reingehen und dass keiner sich von Anfang an in einer Blockadesituation befindet. Darum habe ich geworben und dafür versuche ich, auch Fairness nach allen Seiten zu garantieren. Zum Beispiel geht es mir auch überhaupt nicht darum, jetzt eine neue Antikirchenkampagne zu machen. Die Kirchen waren die, die sich als erste um dieses Problem gekümmert haben. Deswegen ist es auch zahlenmäßig bei ihnen so relevant geworden. Sie werden sich Fragen nach innen stellen müssen, nämlich was hat das mit dem Evangelium zu tun. Aber man darf nun auch nicht sie alleine für etwas verantwortlich machen, was letztendlich die ganze Gesellschaft damals so beschlossen hat.

    Meurer: Das war der Zeitgeist damals gewesen. Kann das umgekehrt dann bedeuten, dass man eben sagt, wieso sollen Heimzöglinge entschädigt werden? Geprügelt wurde damals auch an den Schulen beispielsweise.

    Vollmer: Jedenfalls an den Zeitgeist kommen wir heran und viele der ehemaligen Nazis waren nicht in die Heime gegangen, sondern in die Schulen. Diese Idee, mit Jugendlichen, zumal solchen, die ja selber aus unruhigen Zeiten kamen, mit aller brutalen Härte umzugehen, die ist tatsächlich ein ziemlich weitgehender gesellschaftlicher Konsens gewesen. Es erschüttert einen heute teilweise, wenn man das sieht. Das miteinander zu verknüpfen, also das besondere Schicksal von einzelnen und die mentale Haltung einer ganzen Gesellschaft und Generation damals, das ist eine der schwierigen Aufgaben. Deswegen brauchen wir auch ein bisschen Zeit.

    Meurer: Die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer leitet den Runden Tisch ab heute zum Schicksal der Heimkinder. Frau Vollmer, schönen Dank und auf Wiederhören!

    Vollmer: Auf Wiederhören!