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"Vollmer-Erlass ist nicht das Zentralproblem gewesen"

Die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Krista Sager, hat erklärt, die Ausweitung der Schleuser-Kriminalität sei nicht in erster Linie auf den Volmer-Erlass zurückzuführen. Sie verwies zugleich darauf, dass sich unter Rot-Grün keineswegs eine Multi-Kulti-Ideologie bei der Visa-Vergabe durchgesetzt habe.

Moderation: Jürgen Liminski |
    Jürgen Liminski: Als Amt der Ahnungslosen bezeichnet eine Sonntagszeitung das Außenministerium, weil offenbar niemand wusste, wie der so genannte Vollmer-Erlass zu Stande kam und was er anrichtete. Kann das Fernsehen mit seiner Live-Übertragung da ein Mehr an Aufklärung bringen und welche Konsequenzen muss der Außenminister aus der Affäre ziehen? Denn wenn auch er nichts gewusst hat, muss er sich wohl vorhalten lassen, sein Amt arbeite schlecht oder sei schlecht geführt. Zu diesen und anderen Fragen sind wir nun verbunden mit der Parteikollegin Fischers und Fraktionschefin der Grünen im Bundestag Krista Sager. Guten Morgen Frau Sager!

    Krista Sager: Guten Morgen.

    Liminski: Frau Sager, der öffentliche Auftritt von Außenminister Fischer heute in der Arena des Untersuchungsausschusses hat sozusagen den Charakter eines Halbfinales bekommen, nachdem am vergangenen Donnerstag Ludger Vollmer im Viertelfinale am selben Ort bestehen konnte. Das Finale wäre dann die Wahl am 22. Mai in Nordrhein-Westfalen. Sehen Sie auch einen Zusammenhang zwischen der Visa-Affäre und dem Abschneiden der Grünen an Rhein und Ruhr?

    Sager: Erstens sind das ja schöne Sprachbilder, aber es ist ja weder eine Sportveranstaltung noch eine Zirkusveranstaltung. Ich gehe davon aus, dass die Wahl in Nordrhein-Westfalen in erster Linie von nordrhein-westfälischen Themen bestimmt wird und auch sozusagen von den dortigen Akteuren in erster Linie bestritten werden muss. Natürlich wirkt die Visa-Affäre schon seit Anfang des Jahres auch immer in die Landeswahlkämpfe mit hinein. Das haben wir ja erlebt. Aber entscheidend werden am Ende sein die Nordrhein-Westfalen-Themen.

    Liminski: Geht es denn bei der Visa-Affäre noch um die Inhalte, oder nur noch um die Form, also die Darstellung vor der Fernsehöffentlichkeit?

    Sager: Das hängt ja sehr stark vom Betrachter ab. Ich glaube, dass es gut wäre, sich auf die Inhalte zu konzentrieren. Man muss aber sehen, dass es in dieser ganzen Angelegenheit ja auch nichts wirklich Neues mehr gibt. Die Fakten liegen in der Vergangenheit. Die Fakten liegen wesentlich auf dem Tisch. Es gibt auch eine gewisse Ermüdung, nur die letzte Wendung immer noch nachvollziehen zu wollen. Deswegen habe ich schon festgestellt, dass auch in den Medien es jetzt zunehmend zu einer Performance-Beobachtung wird: Wie wird er drauf sein, wie wird er gucken, wie wird er reden? Das ist nicht unbedingt Sinn einer solchen Angelegenheit, aber das ist in einer Mediengesellschaft auch nicht zu verhindern.

    Liminski: Als Minister wird Fischer aber auch für Fehler im Auswärtigen Amt die Verantwortung übernehmen müssen. Was heißt das heute eigentlich noch, die Verantwortung übernehmen in der Politik?

    Sager: Er hat ja ganz klar gesagt, dass er als Minister natürlich verantwortlich ist. Das ist auch nichts Neues. Das ist auch nichts, was erst heute von ihm gesagt werden wird. Das ist immer eine Abwägungsangelegenheit. Das Entscheidende ist, dass man auf die Fehler, die festgestellt wurden, reagiert hat. Das ist in der Vergangenheit geschehen. Da hat er zugegeben, dass das möglicherweise nicht so schnell wie geschehen ist, wie es hätte passieren sollen. Es ist aber auch klar: es ist stufenweise und schrittweise auf die jeweiligen Erkenntnisse reagiert worden und die wesentlichen Probleme sind abgestellt worden. Ob das heute irgendwie noch weitere Konsequenzen haben sollte, das ist eine Abwägungsgeschichte. Im Grunde hat die Mehrheit der Bevölkerung schon gesagt OK, das ist nicht gut gelaufen, aber das, was dieser Minister sonst zu Stande bringt und zu Stande gebracht hat, das steht dafür, dass er im Amt bleiben soll.

    Liminski: Sollen weitere Köpfe rollen unterhalb Fischers?

    Sager: Das ist ja letztendlich etwas, was die Mitglieder des Untersuchungsausschusses bewerten müssen. Bisher hat es diese Forderung ja nicht gegeben.

    Liminski: Die Grünen, Frau Sager, sind angetreten, alte Strukturen aufzubrechen, den Weg zur multikulturellen Gesellschaft zu ebnen. War der Erlass im Kern richtig, also im Zweifel Einreisefreiheit? Ihr Parteikollege Vollmer steht ja zum Inhalt dieses Erlasses. Er hält ihn nach wie vor für richtig, wie er am vergangenen Donnerstag zu Protokoll gab.

    Sager: Also es hat sich ja längst herausgestellt, dass für das, was von Schleusernetzwerken organisiert worden ist, offensichtlich andere Erlasse als der Vollmer-Erlass viel maßstabsetzender gewesen sind. Ich glaube das wird sich auch in der heutigen Befragung noch mal zeigen. Außerdem hat sich ja auch in der Befragung in der letzten Woche gezeigt, dass der Vollmer-Erlass offensichtlich in seiner Kurzfassung auch falsch dargestellt worden ist und dass dieser Satz "im Zweifel für die Reisefreiheit" eben nicht der Kernsatz ist und auch nicht bedeutet, lass sie mal alle rein kommen, sondern dass das nur ein Abwägungshinweis ist für den Fall, dass man zum Beispiel bei einer Familienzusammenführung letzte Zweifel hat an der Rückkehrbereitschaft. Insofern bin ich der Meinung, dass der Vollmer-Erlass nicht das Zentralproblem gewesen ist, und ich glaube das wird sich in der Befragung heute auch noch mal bestätigen.

    Liminski: Was ist denn das Zentralproblem?

    Sager: Das Zentralproblem ist offensichtlich, dass in anderen Erlassen Instrumente, Instrumente, die nicht neu gewesen sind, die es auch heute noch in anderen Ländern gibt, die es auch im Schengen-Zusammenhang gibt, in einen Kontext gestellt worden sind auch durch deutsche andere Erlasse, wo dann Schleusernetzwerke diese Instrumente sich zum Teil angeeignet haben und zum Teil unterlaufen haben und ausgenutzt haben.

    Liminski: Die Visa-Affäre hat auch mit Ideologie zu tun. Jedenfalls wird sie von Teilen der Öffentlichkeit und nicht nur vom politischen Gegner so gesehen. Nun läuft sie parallel zu einer anderen Ideologiedebatte, der Kritik am ökonomistischen Denken oder einem ausufernden Kapitalismus. Halten Sie die Kapitalismuskritik von SPD-Chef Müntefering für berechtigt oder auch nur für ein Mobilisierungsmanöver mit Blick auf NRW?

    Sager: Also erstens bin ich der Meinung, dass sich in den Befragungen in der letzten Woche im Visa-Untersuchungsausschuss ziemlich klar gezeigt hat, dass es zwar gravierende Fehler gegeben hat, aber dass es nicht einfach so war, dass hier Multi-Kulti-Ideologie durchgeschlagen hat. Das haben eigentlich die Beamten auch deutlich gemacht, die glaube ich keine Multi-Kulti-Beamten waren. Auf der anderen Seite Kapitalismuskritik. Sicher gibt es hier auch Momente von Wahlkampf und Überspitzung, aber das Problem, was dem zu Grunde liegt und was Müntefering aus meiner Sicht dann auch richtig angesprochen hat, ist ja nicht einfach, dass man jetzt zurückkehrt zu dem Antikapitalismus des 19. Jahrhunderts, sondern wir haben neue Entwicklungen im Kapitalismus und die Frage ist ja nicht, wie man nun antikapitalistisch reagiert, sondern wie man die soziale und ökologische Marktwirtschaft als soziale und ökologische Marktwirtschaft und Marktwirtschaft, die auf Werten basiert, erhalten kann unter den Bedingungen der Globalisierung. Das heißt es geht darum, wie können wir Globalisierung gestalten und wie können wir dafür Sorge tragen, dass es Marktwirtschaft gibt, aber die sozial und ökologisch in ein Wertesystem eingebunden ist.

    Liminski: Müntefering will nun eine Arbeitsgruppe einsetzen, die die heiß gewordene Debatte in die kühlen Martern von Gesetzestexten einfließen lassen soll. Sehen Sie Handlungsbedarf für Gesetze, oder reichen Appelle?

    Sager: Appelle reichen sicher nicht, aber es wird sicher auch nicht so sein, dass man die Konsequenzen einfach in nationalstaatliche Gesetzgebung ummünzen kann, weil vieles, was als Konsequenz aus dieser Analyse zu ziehen ist, wird sich nur auf der internationalen Ebene regeln lassen. Vor allen Dingen haben wir hier die Chance, auch die Dinge auf der europäischen Ebene in einen Rahmen zu bringen. Deswegen halte ich das für völlig verfehlt, dass es jetzt antieuropäische Tendenzen gibt aus diesen Globalisierungsängsten heraus. Tatsache ist, dass gerade Europa die Handlungsdefizite der nationalstaatlichen Ebene ein Stück weit kompensieren kann. Umso wichtiger ist es zum Beispiel, dass jetzt auch die Abstimmung um die europäische Erfassung tatsächlich ein Erfolg wird, damit wir auf der europäischen Ebene handlungsfähiger werden.

    Liminski: Also guter Fischer, böse Manager. Können wir unser Gespräch etwa so verkürzt zusammenfassen?

    Sager: Nein, sicher nicht.

    Liminski: Das war die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Krista Sager. Besten Dank für das Gespräch, Frau Sager!