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Vom Leben im Plattenbau

Plattenbau-Wohnungen waren in der DDR-Zeit nicht unbeliebt, boten sie doch oft einen größeren Komfort. Nach der Wende, als die ökonomische Lage der meisten Menschen in den neuen Bundesländern sich drastisch zu verändern begann, veränderten sich auch die Plattenbausiedlungen. Wie sich das Leben im Plattenbau nun entwickelte, hat der Sozialwissenschaftler Carsten Keller in einer über mehrere Jahre geführten Untersuchung herauszufinden versucht.

Von Rolf Wiggershaus | 31.10.2005
    Zu den charakteristischsten Hinterlassenschaften der realsozialistischen Gesellschaften gehören die Plattenbausiedlungen. Zur Zeit der Wende lebte in ihnen ein Viertel der ostdeutschen Bevölkerung. Im Laufe der 90er Jahre wurden sie trotz umfangreicher Maßnahmen zur baulichen Aufwertung Schauplätze sozialen Abstiegs. Inzwischen gehören sie zu den bevorzugten Objekten staatlich geförderten Rückbaus in einer Zeit schrumpfender Städte. Doch wird mit Rückbau und Abriss über die Köpfe der Betroffenen hinweg nicht bloß von den eigentlichen Problemen einer Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, abgelenkt, ja werden sie nicht unnötig verschärft? Weitgehend unberücksichtigt sind die Eindrücke und Erfahrungen, Bedürfnisse und Wünsche der Bewohner der zum Problemfall gewordenen Quartiere geblieben. Ihnen gilt die Aufmerksamkeit des Sozialwissenschaftlers Carsten Keller:

    "Seit der Wende sind zahlreiche Studien zu städtebaulichen und architektonischen Aspekten der Siedlungen entstanden. Dagegen existieren kaum Arbeiten, die sich mit der sozialen Entwicklung, dem Alltagsleben und Bewohnerperspektiven beschäftigen. Selbst wenn man die in den letzten Jahren im Rahmen des Bund-Länder-Programms 'Soziale Stadt’ entstandenen Untersuchungen zusammenzählt, übertrifft das Wissen, das über Plattenbautypen, Grundrisse, über den Leerstand oder Sanierungsformen existiert, bei weitem das über die sozialen Entwicklungen und Verhältnisse."

    Eigene Erfahrungsgrundlage des Autors ist eine empirische Untersuchung in Eisenach-Nord und in dem bei Bitterfeld gelegenen Wolfen-Nord aus den Jahren 1997, 2001 und 2003. An beiden Orten kommt Keller, gestützt auf Interviews mit Bewohnern und Experten und mit der Erfahrung mehrwöchigen Wohnens in den Siedlungen, zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der Verlaufsformen gesellschaftlicher Marginalisierung. Dargelegt werden sie vor dem Hintergrund einer gewissen realsozialistischen Blütezeit der Plattenbauten. Das egalitäre Ideal einer hohen sozialen Mischung war zwar nie Wirklichkeit, denn bei genauerem Hinsehen erwiesen sich die sozialistischen Siedlungen als Flickenteppiche mit teils gemischten, teils homogenen Zonen und einem dem Beliebtheits- und Qualitätsgrad bestimmter Wohnlagen entsprechenden sozialen Gefälle. Aber es wurde doch etwas erreicht, dessen Fehlen später von vielen als Verlust empfunden wurde:

    "Die wesentliche Errungenschaft des industriellen Siedlungsbaus bestand darin, einfache und qualifizierte Arbeitermilieus in eine sozialistische Mittelschicht integriert und respektable Milieus geschaffen zu haben, die einen Status materieller Sicherheit sowie sozialer und kultureller Einbindung genossen."

    Mit der Wende kam die abrupte Deindustrialisierung; viele Menschen zogen in den Westen; Besserverdienende nahmen die neuen Wohnangebote in subventionierten Wohnparks und Kleinhaussiedlungen wahr. Damit begannen auch die sog. 'Entmischung’ und der Abstieg der Plattenbausiedlungen. Kellers Hauptinteresse gilt den Fragen: Wie schlagen sich diese makrosozialen Trends innerhalb der Siedlungen nieder? Welche Formen sozialer Ausgrenzung lassen sich beobachten?

    "Den größten Raum nimmt … das Milieu der etablierten Älteren ein, unter denen sich viele RentnerInnen, aber auch erwerbstätige Haushalte befinden, und die in den am aufwendigsten sanierten Blöcken wohnen. Daneben haben sich kleinere Inseln von MigrantInnen, meist AussiedlerInnen, gebildet, die eher in den einfach sanierten Beständen leben. Schließlich ist ein wachsendes Milieu der Armut und Prekarität entstanden, das sich in den teil- und unsanierten Bereichen konzentriert."

    Im Milieu der Armut stehen nicht nur mehr Wohnungen leer als anderswo, hier herrscht auch die größte Fluktuation und eine sichtbare Vernachlässigung der Wohnqualität. So tritt wieder mehr oder weniger scharf auseinander, was das Integrationsmodell Plattenbausiedlung – ähnlich wie der soziale Wohnungsbau im Westen – einmal einander annähern sollte und in gewissen Grenzen auch tatsächlich annäherte. Durch Sanierungspraktiken noch verstärkt, entstehen aufs Neue Quartiere, in die die Verlierer des sozioökonomischen Wandels abgedrängt werden und die zu Orten des Ausschlusses werden oder zu werden drohen. Das stachelt wiederum einen Kampf um Respektabilität an, bei dem die staatlich lancierte Trennung zwischen unterstützungswürdigen und -unwürdigen Bedürftigen die Munition für Abgrenzungsstrategien liefert.

    Das Empirie und Theorie zusammenführende Herzstück des Buches bilden "Lebensweltliche Porträts", die anhand von Beispielen jene vier Formen ausgeprägter Benachteiligung veranschaulichen, auf die Keller bei seinen Untersuchungen stieß. Es sind Formen einer Benachteiligung in materieller, sozialer und kultureller Hinsicht. Auf den umfassenden Charakter der Benachteiligung und die damit gegebene Dynamik zielen Begriffe wie "Ausgrenzung" und "Exklusion", die traditionelle Kategorien wie "Armut" weitgehend abgelöst haben. Zu den von Keller unterschiedenen Formen der Exklusion gehört beispielsweise das "Hängen-Bleiben", das sich bei jungen Erwachsenen beobachten lässt. Die Exklusionsdynamik besteht in diesem Fall darin,

    "dass die jungen Erwachsenen durch ihre Involvierung in ein solidarisch-alternatives Cliquenleben andere Lebensziele zurückstellen und die formalen Anforderungen von Qualifizierung und Berufsintegration vernachlässigen. Während sich die Cliquen irgendwann auflösen, bleiben sie als VerliererInnen in den Siedlungen mit schlechten Zukunftsperspektiven zurück."

    Bei älteren Personen wiederum kann die Unfähigkeit zum Problem werden, nach dem Ende einer stetigen Erwerbskarriere soziale Deprivation durch improvisierende Alltagsstrategien abzumildern. Indem sie an eingeübter Disziplin und Ordnung festhalten und zu dem veränderten sozialen Milieu auf Distanz gehen, erleben sie eine Exklusionsdynamik der "Isolation und Entfremdung". Zur Fülle der aufschlussreichen Beobachtungen und Analysen übernommener und neu geprägter Begriffe gehört eine Zusammenstellung von Mechanismen der Benachteiligung, beispielsweise "institutionelle Diskriminierung":
    "Wie die Interviews mit den ExpertInnen aus den städtischen Ämtern, Wohnungsgesellschaften und sozialen Einrichtungen ergeben, besteht die wichtigste Argumentation, benachteiligte Haushalte in die Siedlungen einzuweisen, darin, dass diese dort eine ihnen entsprechende Versorgungs- und Infrastruktur vorfinden. In umgekehrter Reihenfolge dient dieses Argument dazu, Einrichtungen für benachteiligte Gruppen in den Siedlungen zu konzentrieren."

    Damit sind die Bewohner zu einem von der übrigen Stadt isolierten Objekt diskriminierender Praktiken geworden. Nach geduldiger Lektüre des Buches erweist sich der Titel als berechtigt. In der Sache beleuchtet es – ungeachtet des spröden Charakters einer akademischen Qualifikationsarbeit – die Probleme des "Lebens im Plattenbau" mit einer analytischen Intensität und Konkretheit, die es zur unverzichtbaren Grundlage für ernstgemeinte und aussichtsreiche Lösungsvorschläge macht.

    Rolf Wiggershaus war das über "Leben im Plattenbau. Zur Dynamik sozialer Ausgrenzung" von Carsten Keller. Das 224 Seiten starke Buch ist bei Campus erschienen und kostet 24.90 Euro.