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'Vom Oslo-Abkommen konnte man nichts erwarten'

Heinlein: Trotz der Terroranschläge wächst in den USA und in Europa der Unmut über die starre Haltung Scharons. Aus Israel selbst dagegen gibt es nur wenige kritische Stimmen, die hierzulande Gehör finden. Zu den konsequenten Befürwortern einer friedlichen Verständigung mit den Palästinensern gehört seit Jahren die israelische Menschenrechtsanwältin Felicia Langer. 1990 erhielt sie für ihr Engagement den alternativen Nobelpreis, ehe sie aus Protest gegen die israelische Politik ihr Heimatland verließ, um nach Deutschland zu kommen. Guten Morgen, Frau Langer.

    Langer: Guten Morgen. Ich habe das Land nicht wegen der israelischen Politik verlassen, sondern ich konnte im Rahmen der Justiz überhaupt nicht mehr agieren, und das war der Grund, weshalb ich das Land verlassen habe. Ich habe mein Büro als Rechtsanwältin aus Protest geschlossen.

    Heinlein: Haben Sie denn seinerzeit, vor zehn Jahren, eine derartige Entwicklung erwartet, wie wir sie gegenwärtig erleben?

    Langer: Ich war schon seit Jahren eine unbeliebte Kassandra, und ich habe vieles erwartet. Vom Oslo-Abkommen konnte man leider nichts erwarten, weil die wichtigsten Fragen ausgeklammert wurden. Wir, die Israelis, haben die ganze Zeit das Land besiedelt, und die Siedlungen sind völkerrechtswidrig. Wir haben das Land beschlagnahmt, wir haben das Wasser genommen, wir haben die Palästinenser erniedrigt, und das Fass war voll. Aber jetzt trauere ich um die Opfer von Haifa. Mit Krieg kann man den Terror nicht bekämpfen, weil Krieg auch Terror ist. Und die gegenwärtige Politik von Scharon ist eine Katastrophe, nicht nur für die Palästinenser, sondern auch für uns.

    Heinlein: 40 Jahre lang lebten Sie in Israel. Viele Höhen und Tiefen haben Sie zwischen 1950 und 1990 im Nahostkonflikt erlebt. Können Sie denn Vergleiche mit Entwicklungen aus der Vergangenheit ziehen? Etwa während und nach dem Sechstagekrieg 1967.

    Langer: Die Wahrheit ist, dass wir die Gebiete besetzt halten. Die Besetzung ist ein Ausdruck von Gewalt, und wir handeln für den Frieden. Man muss die Besetzung beenden. Man muss diese Möglichkeit für zwei Staaten, für zwei Völker schaffen. Wir haben die Gebiete in sechs Tagen erobert. Wir halten sie 35 Jahre lang, trotz UNO-Resolutionen, und wir können sie in sechs Tage räumen, und dann ist am siebten Tag Ruhe. So könnten wir dem Terror den Nährboden entziehen. Mit dem was wir jetzt tun - und das ist schon seit Jahren so -, pflastern wir den Weg für den Terror. Ich verurteile den Terror scharf, aber diese Verurteilungen und Kriege sind nur ein Ritual. Man muss die Ursachen bekämpfen. Terror ist ein Symptom der Krankheit, nicht die Krankheit selbst.

    Heinlein: Gibt es denn vor dem Hintergrund des palästinensischen Terrors, den Sie bedauern, aus Ihrer Sicht eine politische oder auch eine moralische Rechtfertigung für das Vorgehen der israelischen Regierung Scharon?

    Langer: Überhaupt nicht. Ich habe mit Scharon zusammen Jura studiert. Er weiß genau, dass er Kriegsverbrechen begeht, weil das, was gegen die Zivilbevölkerung passiert, diese Kollektivstrafen, diese Massaker, unmöglich ist. Ich bin stolz darauf, dass unsere Friedensbewegung demonstriert, dass einige Menschen demonstrieren. Die Menschenrechtsorganisation beklagen, dass jetzt nochmals Folter und Massenverhaftungen eingesetzt werden. Man verweigert den Menschen die medizinische Versorgung. Das ist so schrecklich für mich als Jüdin, Israelin und Überlebende vom Holocaust, wenn ich höre, dass Palästinenser in Massengräbern begraben sind, weil man die Wege zum Friedhof blockiert. Das sind Dinge, die sich später rächen. Deshalb muss die Lösung jetzt schon kommen. Deshalb ist die Einmischung von Europa so wichtig. Powell und die USA haben sich zwar für einen Rückzug Israels ausgesprochen, aber sie haben uns Zeit gelassen, damit wir noch ein bisschen töten können. Glauben Sie mir, jeder tote Palästinenser ist eine Gefahr für uns.

    Heinlein: Sie haben gesagt, dass Sie Ariel Scharon seit langem kennen. Glauben Sie denn, dass Scharon bewusst eine solche Zuspitzung der Situation wollte, wie wir sie gegenwärtig jetzt erleben?

    Langer: Ich habe ihn während des Jurastudiums in Tel Aviv nicht persönlich kennen gelernt, aber ich wollte sagen, das ist seine Linie seit Beirut, seit 1982. Er wollte damals schon Arafat töten, und er hat auch jetzt klar gesagt, wir konnten ihn töten, wir haben das nicht gemacht, wir bedauern es. Diese Linie von Kriegs- und Machtpolitik ist seine Linie. Schade, dass er so eine kolossale Unterstützung von der Arbeiterpartei bekommt. Dass der Nobelpreisträger Peres ihn so unterstützt, ist schrecklich schade. Bei uns herrscht Verzweiflung. Ich glaube, die Menschen in Israel verstehen nicht, was passiert. Aber alles ist hermetisch abgeriegelt, und jemand sprengt sich in die Luft. Was für eine Situation haben wir kreiert, dass die Menschen so verzweifelt sind, dass sie nicht leben wollen? Diese Frage muss man stellen. Wir haben die Pforte zum Leben für die Palästinenser zugesperrt. Daher kommt diese schreckliche Bereitschaft zum Sterben, nicht nur von Fundamentalisten. Das muss man analysieren, und man muss die Ursachen dafür bekämpfen.

    Heinlein: Sie haben die israelische Friedensbewegung angesprochen, aber auch die Unterstützung für die Politik Scharons in der israelischen Bevölkerung. Gibt es denn nach Ihrer Auffassung eine Mehrheit Israels für eine andere Politik gegenüber den Palästinensern?

    Langer: Es kann sein, dass es im Moment noch nicht der Fall ist. Aber wenn sich die Politik der Welt ändert, wenn die Entschlossenheit da ist, wird sich das sicherlich ändern. Ich glaube, im Grunde wollen die Menschen Frieden, sie wollen leben, aber sie verstehen nicht, dass man für den Frieden einen Preis zahlen muss. Frieden ohne einen Rückzug, ohne die Räumung der Gebiete wird nicht zustande kommen können. Aber die Welt hat die ganze Zeit geschwiegen und geduldet, dass wir die UNO-Resolutionen verletzt haben. Es gibt eine UNO-Resolution 242 zur Räumung der Gebiete, die schon 35 Jahre alt ist. Entschlossenheit ist, wie gesagt, ein ganz wichtiger Punkt. Sie wissen, man spricht über verschiedene heimliche Maßnahmen, z.B. dass man die Waffen nicht mehr an Israel verkauft. Unsere Friedenskräfte haben in der Sendung Monitor in Deutschland sehr klar gesagt, wir möchten die Waffen von Deutschland nicht haben.

    Heinlein: Aktuell wird in Deutschland und Europa die Frage eines internationalen Friedenseinsatzes im Nahost diskutiert. Wie sehen Sie das als Holocaust-Überlebende? Deutsche Truppen in Israel: Ist das für Sie vorstellbar?

    Langer: Ich glaube, alles ist vorstellbar. Sicherlich muss man das näher besprechen, weil es relativ innovativ ist. Ein Hindernis wird es nicht sein, aber das Wichtigste ist, dass diese gegenwärtige Regierung eine Kriegsregierung ist, und diese Regierung wird nichts zulassen, wie Sie sehen. Für mich ist das Wichtigste, dass man sich einmischt. Die Einmischung und die Verurteilung der Taten von Israel ist ein Segen für uns. Mit Schweigen und Loben hilft man uns nicht.

    Heinlein: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio