Sonntag, 19. Mai 2024

Archiv


Vom Tabu zum Kostenfaktor

Die Zahl der Krankmeldungen sinkt seit Jahren - mit einer Ausnahme: Immer mehr Menschen müssen wegen psychischer Erkrankungen krankgeschrieben werden. Daran ist nicht in erster Linie die Arbeit Schuld. Was Unternehmen konkret tun können, um die seelische Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu schützen, darum ging es auf einem Kongress in Berlin.

Von Marieke Degen | 23.11.2010
    Uschi Ritzinger ist Managerin in einem Münchener Elektronikkonzern. Sie ist ein Tausendsassa, ständig in ganz Europa unterwegs, sie verpasst keine Betriebsfeier und ist eigentlich nie krank – eigentlich.

    "Mein erstes Beschwerden war auf einer Autofahrt, in der ich alleine im Auto unterwegs war, in der ich plötzlich Herzstechen, Druck auf der Brust, der linke Arm tut weh, Schwindel, Übelkeit, also all so Herzinfarktsymptome bekommen habe, und ich bin dann rechts rangefahren und war mir sicher, ich sterb jetzt an einem Herzinfarkt."

    Uschi Ritzinger lässt sich im Krankenhaus durchchecken. Ihr Herz ist gesund, doch die Anfälle bleiben.

    "Diese Anfälle häuften sich, insoweit als dass ich ich irgendwann nicht mehr hab Autofahren trauen, bin nicht mehr auf die Straße, habe meine Wohnung nicht mehr verlassen - immer aus großer Angst davor, ich könnte jetzt einen Herzinfarkt bekommen. Und ich hatte auch fünfzig mal am Tag das Gefühl, dass ich sterbe."

    Die vermeintlichen Herzinfarkte sind Panikattacken. Die Managerin leidet an einer Angststörung, und damit ist sie nicht alleine: Immer öfter müssen Arbeitnehmer wegen psychischer Beschwerden krankgeschrieben werden, wegen Panikattacken, Depressionen, Burnout oder Suchterkrankungen.
    Für die Unternehmen sind psychische Krankheiten zu einem wichtigen Kostenfaktor geworden. Denn durch die Fehltage ihrer Angestellten verlieren sie Millionen, sagt der Arzt Werner Kissling.

    "Abgesehen von der Fürsorgepflicht für die Mitarbeiter haben die Unternehmen ein ökonomisches Interesse, das Problem psychische Erkrankungen und Störungen zu handeln, weil die Leute dann weniger lange bei der Arbeit fehlen und früher wieder arbeiten können."

    Werner Kissling leitet das Centrum für Disease Management an der TU München. Er und sein Team bringen Firmen bei, wie man mit psychisch kranken Mitarbeitern am besten umgeht. Viele Konzerne nehmen das Thema sehr ernst und wollen helfen, sagt Kissling.

    "Also zum einen kann ich meine Führungskräfte schulen, die in die Lage versetzen, dass sie früher eine psychische Belastung bei einem Arbeitnehmer erkennen, dann auch in der richtigen Weise und rechtzeitig ansprechen, und dann gemeinsam mit dem Mitarbeiter zu einer Lösung kommen, die dem Unternehmen dient, aber auch dem betroffenen Mitarbeiter."

    Außerdem sei es wichtig, die Stressfaktoren in der eigenen Firma zu bekämpfen. Manche Chefs setzen ihre Mitarbeiter zu sehr unter Druck. Sie müssen ihren Führungsstil dann radikal ändern. Aber auch die Angestellten sind gefordert. Sie dürfen die Warnsignale ihres Körpers nicht einfach ignorieren.

    "Dass wenn man Ohrgeräusche bekommt oder andere Stresssymptome, dass man sagt, holla, jetzt habe ich vielleicht zu viel gearbeitet, trete ich ein bisschen kürzer."

    Die Betroffenen sollten auch den Mut finden, sich ihrem Chef anzuvertrauen.

    "Nicht jeder entscheidet sich dafür, aber eigentlich alle, die sich dazu durchgerungen haben, haben es nicht bereut. Weil ihnen dann der Vorgesetzte die Arbeit entsprechend ihrer Belastbarkeit einteilen kann und das Unternehmen einfach mehr Rücksicht auf ihre Erkrankung nehmen kann."

    Uschi Ritzinger ist es damals schwer gefallen, zu akzeptieren, dass ausgerechnet sie psychisch erkrankt ist. Aber hat sie eine Therapie gemacht. Fünf Wochen war sie krank geschrieben. Dann kam sie zurück in die Firma. Ihre Vorgesetzten und Kollegen haben sie immer unterstützt.

    "Ich hab Mitarbeiter dazubekommen, ich habe einfach dadurch, dass mein Abreitseinsatz auch selbstbestimmt wahr, weniger Termine angenommen und die dafür ausführlicher und besser wahrgenommen."


    Aber auch in Uschi Ritzingers Privatleben hat sich einiges geändert. Heute muss sie nicht mehr bei jeder Betriebsfeier dabei sein. Stattdessen macht sie Yoga. Wenn ihr das einer vor 15 Jahren gesagt hätte, sagt sie, hätte sie ihn ausgelacht.