Freitag, 19. April 2024

Archiv

Vom Unrecht zum Recht
Die schwierige Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen

Transitional Justice bedeutet Übergangsjustiz. Zunächst wurde die von schweren Menschenrechtsverletzungen geprägte Vergangenheit eines Staates lediglich national gesellschaftlich und rechtlich aufgearbeitet. Mittlerweile ist daraus längst ein internationales normatives Gerippe entstanden, das auch bei den Vereinten Nationen etabliert ist.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 11.02.2016
    Einer der ersten Fälle, in denen das mittlerweile gängige Konzept der Übergangsjustiz angewandt wurde, war Argentinien. In den 80er-Jahren stürzte die dortige Militärjunta, nachdem sie den Krieg um die Falklandinseln gegen Großbritannien verloren hatte. Rainer Huhle vom Nürnberger Menschenrechtszentrum erzählt, dass das Land anschließend erfolgreich, wenn auch sehr wechselhafte Phasen von Transitional Justice durchlief.
    "Zum Beispiel in Argentinien gab es eine sehr erfolgreiche erste Phase, wo zumindest die obersten Militärs angeklagt und auch verurteilt worden sind. Dann gab es eine Phase, wo das nahezu vollständig wieder rückgängig gemacht worden ist. Und dann gab es eine dritte Phase, wo jetzt sehr viel mehr Prozesse stattfinden, wo aber auch mehr Anstrengungen zur Wahrheitsfindung und zur Wiedergutmachung gefunden wurden."
    Das Menü von Transitional Justice, wie Anja Mihr es ausdrückt, beinhaltet viele verschiedene Elemente, die nicht für jedes Land, das eine Diktatur oder einen Krieg hinter sich hat, gleichermaßen passen. Für die promovierte Politikwissenschaftlerin und Menschenrechtsexpertin, die seit vielen Jahren zu diesem Thema forscht, gibt es keine perfekte Formel: "Wenn Sie aus einem Land kommen, das vier fünf Jahre Bürgerkrieg hat, wo keine Institutionen und staatliche Strukturen komplett zusammen gefallen sind, dann werden Sie in der ersten frühen Transitionsphase andere Transitional-Justice-Mechanismen anwenden, als wenn Sie aus einem Land kommen, das eine kommunistische Diktatur hatte, wie Ostdeutschland, oder Polen oder die Tschechoslowakei damals, die funktionierende staatliche Strukturen hatte, wenn auch korrupt, vielleicht nicht effizient. (...) Dann werden sie da andere Mechanismen anwenden als jetzt zum Beispiel in Syrien, wenn dann der Krieg da vorbei ist und sie müssen das aufbauen."
    Aufarbeitung als gesellschaftliche Aufgabe
    Allerdings gibt es eine Art Gebrauchsanweisung. Vor ungefähr zehn Jahren haben die Vereinten Nationen das Konzept der Transitional Justice in eine so genannte Toolbox for Rule of law, einen Werkzeugkasten für Rechtsstaatlichkeit übertragen. Welche Mittel und Methoden dieser Kasten zur Verfügung stellt, erzählt Rainer Huhle, Mitglied im UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen:
    "Das ist zum einen das Element der Gerechtigkeit, Justice, was in aller Regel auch sich übersetzt als Bestrafung von Schuldigen, von Tätern. Das Zweite ist aber dann auch die Wahrheitsfindung, da fallen dann zum Beispiel, aber nicht nur, die Wahrheitskommissionen rein. Dann ein drittes Element ist auch wieder ein sehr umfassendes, vielgestaltiges: Das ist die Wiedergutmachung, da kann materielle Entschädigung, aber auch Wiederherstellung des guten Rufs, Wiedereingliederung in die Gesellschaft und ähnliches drunter fallen. Und das letzte, noch am wenigsten ausgestaltete Element sind die Garantien gegen die Wiederholung dieser Verbrechen durch den Staat."
    Die Idee dahinter ist, dass nicht dem Justizsystem eines Landes allein die Aufgabe zufällt, die gewalttätige, undemokratische Vergangenheit zu überwinden. Die unterschiedlichen Elemente von Transitional Justice sollen gemeinsam greifen, andere gesellschaftliche Akteure eingebunden werden – nicht zuletzt die Bevölkerung. Zum Beispiel durch eine Erinnerungskultur, in der Gedenkstätten zur Bildung beitragen.
    Generelle Amnestie von Tätern umstritten
    Dazu zählt aber auch Lustration, das heißt politisch belastete Mitarbeiter – wie in Deutschland frühere SED-Funktionäre oder Stasi-Spitzel – müssen sich aus dem öffentlichen Dienst verabschieden.
    Auch Amnestie- und Rehabilitierungsgesetze gehören seit zehn Jahren zu den Instrumenten einer Übergangsjustiz, ist Anja Mihr überzeugt – obwohl eine generelle Amnestie von Tätern und Rechtsstaatlichkeit sich gegenseitig eher ausschließen und in der Wissenschaft umstritten sind: "Aber man hat erkannt aufgrund der Forschung in den Ländern, in denen es einen erfolgreichen Übergang von sagen wir Diktatur, von Krieg zu Demokratie gab, man eigentlich nie ohne diese so genannten Amnestiegesetze, wir nennen das gerne hier Rehabilitierungsgesetze, ausgekommen ist. Das heißt, ob das Militärs sind oder ob das politische Eliten sind, man hat mit denen sozusagen so was wie einen Kuhhandel gemacht, indem man ihnen gesagt hat: Okay, ihr bekommt nicht lebenslange Haft, ihr bekommt vielleicht zwei, drei Jahre Haft oder ihr bekommt eine Strafe auf Bewährung. Dafür dürft ihr aber keine politischen Ämter mehr belegen."
    Die Grundlagen für Völkerstrafrecht
    Rainer Huhle, Experte für Menschenrechte insbesondere in Lateinamerika, widerspricht dieser Vorgehensweise: Besonders schwere Taten wie illegale Morde, Folter und Verschwindenlassen dürften nicht straflos bleiben. "Also diese Idee ist zwar bis heute nicht hundertprozentig völkerrechtlich ausgeschlossen, aber in vielen Bereichen eben doch. Also alles das, was man Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schwere Kriegsverbrechen nennt, sind sich heute eigentlich die Völkerrechtler, die Völkerstrafrechtler einig, dass das in vielen internationalen Vereinbarungen ausgeschlossen ist, dass die einfach unter Amnestie fallen."
    Nach wie vor sind die Anfänge von Transitional Justice umstritten. Viele Juristen und Völkerrechtler halten die Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg für ihren eigentlichen Ausgangspunkt. Damals verurteilten ein Internationaler und ein US-amerikanischer Militärgerichtshof die Haupt-NS-Kriegsverbrecher. Nürnberg sei tatsächlich ein Anfang gewesen, bestätigt Rainer Huhle. "Was dort gelegt worden ist in Nürnberg, sind die Grundlagen für Völkerstrafrecht, was man dann die Nürnberger Prinzipien genannt hat, eben dass es keine Straflosigkeit für solche Verbrechen geben darf. Dass auch höchste Verantwortliche bis hinauf zu Staatsoberhäuptern zur Rechenschaft gezogen werden können."
    Deutschland gilt als Vorzeigeland
    In der sozialwissenschaftlichen Forschung der letzten beiden Jahrzehnte hat sich die Meinung durchgesetzt, dass Transitional Justice ihren Anfang viel später in Lateinamerika nahm, insbesondere beim Aufbau demokratischer Strukturen in Südamerika. Besonderen Aufwind erlebte sie in den 90er-Jahren, als zunächst die kommunistischen Länder kollabierten und rechtsstaatliche Institutionen aufgebaut werden mussten. Hinzu kam, dass nach dem Krieg im früheren Jugoslawien und dem Völkermord in Ruanda jeweils ein Internationaler Strafgerichtshof eingesetzt wurde.
    Deutschland gilt in der internationalen Wahrnehmung dabei als Vorzeigeland – sowohl was die Aufarbeitung der NS-Zeit als auch die der SED-Diktatur betrifft. Gibt es doch in kaum einem anderen Land so viele staatliche und halbstaatliche Einrichtungen zur Aufarbeitung und so viele Opferverbände, berichtet Anja Mihr – was nicht zuletzt an der guten finanziellen Ausstattung liege.
    "Im Vergleich zu Argentinien, zu Sierra Leone, oder zu Sri Lanka ist das ideal gelaufen. Das heißt, man hat ja auch Opfer. Auch wenn es häufig lange dauert für Opfer, dass sie anerkannt werden, das hat aber was mit dieser Rechtssicherheit zu tun, mit den Gesetzen in Deutschland. Es dauert lange, bis sie sozusagen ihr Recht bekommen, weil sie es beweisen müssen."
    Der Wunsch nach Gerechtigkeit, der bleibt
    Kritikpunkte finden die beiden Experten dennoch. Hochrangige NS-Funktionäre blieben in der Bundesrepublik teilweise straffrei. Die Entmystifizierung der DDR sei zwar gelungen, aber der untergegangene Staat werde teilweise noch idealisiert. Und die Opfer fordern nach wie vor Gerechtigkeit – ein international zu beobachtendes Phänomen, sagt Anja Mihr: "Selbst wenn man die Opfer ideal kompensiert, Stipendien gibt, Pensionen gibt – dieser Wunsch nach Gerechtigkeit, der bleibt da und er ist fast nie zu erfüllen. Und das ist vielleicht etwas, was ein bisschen schief gelaufen ist in Deutschland in den 90er-Jahren, dass man ständig von Gerechtigkeit sprach. Aber das war nie die Absicht von Transitional Justice. Die Absicht war, Rechtssicherheit herzustellen in Ostdeutschland."
    Wann führt Transitional Justice zu Erfolg? Das sei nicht so leicht zu sagen, hebt Rainer Huhle hervor: Jede Diktatur, jeder Krieg sei anders. In Kolumbien etwa werde nach einem langen Bürgerkrieg bereits seit Jahren ein Friedensvertrag ausgehandelt – mitten in einem funktionierenden Rechtsstaat.
    Anders in Spanien: Hier schien der Übergang zur Demokratie nach der Franco-Diktatur ab Mitte der 70er-Jahre ganz ohne Transitional Justice zu gelingen. Allerdings wurde versäumt, das Franco-Regime ausreichend zu entmystifizieren, um zugleich die neue demokratische Regierung zu legitimieren, so Anja Mihr. Man dürfe nicht vergessen, "dass Spanien sehr lange Jahre, eigentlich bis in die Gegenwart, also über 40 Jahre lang, eigentlich unconsolidated pockets of democracy nennt man das in der Wissenschaft, also unkonsolidierte Bereiche hatte, zum Beispiel dass sich der ETA-Terrorismus oder der Separatismus in Spanien darauf sich bezogen hat auf die nicht-aufgearbeitete Franco-Vergangenheit. Das heißt, man kann zwar ein System stabilisieren. Ob das eine hohe Qualität ist von Demokratie, ist eine andere Frage."
    Darauf achten, dass es kein Wiederkehren gibt
    Eine kurze Phase, die ersten fünf bis zehn Jahre nach dem Ende eines Krieges oder einer Diktatur, ist entscheidend für den Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen. Auf sie folgt eine zweite Phase, die sich über mehrere Generationen ziehen kann. In ihr gibt es etwa in Deutschland 70 Jahre nach Kriegsende immer noch Auschwitz-Prozesse wie den gegen den früheren SS-Angehörigen Oskar Grüning in Lüneburg. Japan entschuldigt sich offiziell bei Südkorea für die Sexsklavinnen während des Zweiten Weltkrieges. Und die Enkel der spanischen Täter und Opfer der Franco-Zeit gehen auf die Straße und fordern eine Aufarbeitung der Vergangenheit.
    "Als gelungen bezeichnet man häufig jene Länder, auch gerade in Südamerika, durchaus Chile und Argentinien, man sieht auch Japan, Südkorea, natürlich Deutschland, auch einige osteuropäische Länder, in denen es nach zehn, 15, 20 Jahren und länger durchaus stabile Strukturen gab oder gibt, die sich auch immer wieder auf ihre Vergangenheit berufen: Wegen der Vergangenheit sollten wir dies und jenes nicht in unserer Verfassung haben oder sollten wir darauf achten, dass es kein Wiederkehren gibt."