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Von DDR-Dopingopfern war keine Rede

Am 31. August 1990 wurde der deutsch-deutsche Einigungsvertrag unterschrieben und danach von den Parlamenten abgesegnet. Auch der Fahrplan der Sportvereinigung war damit zementiert: Die Fachverbände schlossen sich einzeln zusammen.

Von Jens Weinreich | 29.08.2010
    Im knapp tausend Seiten dicken Vertragswerk waren dem Sport in Kapitel acht, Teilbereich "Kultur, Bildung und Wissenschaft”, nur wenige Punkte gewidmet:

    Erstens: Die DDR-Sportstrukturen sollen auf Selbstverwaltung umgestellt werden. "Die öffentlichen Hände fördern den Sport ideell und materiell nach der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes”, hieß es.

    Zweitens: Der Spitzensport im Beitrittsgebiet wird, "soweit er sich bewährt hat”, weiter gefördert. In diesem Rahmen wurden drei Institutionen im vereinten Deutschland übernommen: Das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) in Leipzig, heute Institut für angewandte Trainingswissenschaften (IAT). Die Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte (FES) in Ost-Berlin und das Dopingkontrolllabor in Kreischa bei Dresden. Sie wurden seither mit dreistelligen Millionensummen gefördert.

    Drittens wollte der Bund für eine Übergangszeit bis Ende 1992 den Behindertensport unterstützen.

    Dem Sport blieb gar nichts anderes übrig, als auf den fahrenden Zug aufzuspringen, hat Willi Daume damals gesagt, der NOK-Präsident West. Der Gestaltungsspielraum war begrenzt. Aus den Sport-Paragrafen des Einigungsvertrages spricht eindeutig der Hochleistungsgedanke.

    DDR-Sportministerin Cordula Schubert:

    "”Das zeigt auch der Einigungsvertrag, dass hier der Leistungssport auch in der DDR nach den Regeln und Grundsätzen der Bundesrepublik gefördert werden muss, dass hier Übergangslösungen geschaffen werden und dass man hier in der DDR, auf dem Gebiet der Jetzt-Noch-DDR, auf allen Fällen den Sportlern und Trainern eine Zukunft bieten muss. Denn es wird uns sicher keiner in der Zukunft abnehmen, wenn bei künftigen Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen die Mannschaft von Gesamtdeutschland wesentlich weniger Medaillen gewinnt und wesentlich weniger erfolgreich ist, als jetzt das Gebiet der DDR alleine.”"

    Über Medaillen wurde viel geredet. Cordula Schubert, Ministerin für ein halbes Jahr, hat das schon in den ersten Gesprächen mit West-Politikern und West-Sportfunktionären erfahren müssen.

    Bei der Leichtathletik-EM in Split, parallel zum Abschluss des Einigungsvertrages, deklassierte die DDR-Auswahl ein letztes Mal die Konkurrenz. Und DLV-Sportwart Manfred Steinbach, der mit seinem Präsidenten Helmut Meyer sich längst die Dienste vieler Fachdopingtrainer gesichert hatte, erklärte:

    ""Das kann an den einzelnen unserer Mannschaft nicht spurlos vorbei gehen, wenn die DDR hier mit solchem zum Teil Niveau-Unterschied gewinnt. Da zahlt sich eben eine jahrelange hochmotivierte, hochgeförderte sportliche Arbeit aus, die mit ein bisschen Anstrengung und die Zähnezusammenbeißen hier nicht wegzumachen ist.”"

    Also kaufte man ein, auf Teufel komm raus. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, einer der Architekten des Einigungsvertrages, meldete öffentlich ein wenig Widerspruch an - Schäuble:

    "”Also ich habe einmal als noch relativ junger Abgeordneter einen Innenminister erlebt, der im Sportausschuss des Bundestages angetreten ist mit der Erklärung, wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht genauso viel Medaillen wie die DDR holen können. Daraufhin hab ich gesagt: Herr Minister, schön wär's. Aber ich glaube nicht. Ich glaube nicht. Unser System ist anders, und mir gefällt dann unser System trotzdem besser. Dass wir erfolgreicher sein können in vielen Sportarten als wir heute sind, das wünsche ich mir schon, und so viel wie möglich, da stimmen wir völlig überein. Aber in unserem freiheitlichen System. Nach den bewährten Strukturen unseres freiheitlichen Systems. Denn das macht den Sport erst schöner. Die Medaillen, die Erfolge sind ja nur die eine Seite von Sport, auch von Leistungssport. Das Faszinosum der freiwilligen Leistung, auch der freien Organisation darf nicht verloren gehen, wird auch nicht verloren gehen. Und nun wollen wir doch mal sehen, was aus der Symbiose beider wird. Da kann etwas Besseres, vielleicht sogar etwas ganz Neues werden.”"

    Etwas ganz Neues? Schäubles Aussagen aus dem Spätsommer 1990 stehen in all ihren Widersprüchen und Heucheleien quasi bis heute für die gesamtdeutsche Sportpolitik - für all die Brüche, Skandale, Lügen und hausgemachten Probleme des Sports und seiner Verbände in den vergangenen zwanzig Jahren. Was Schäuble - damals wie heute Sportminister - in Sonntagsreden verkündete, deckte sich nicht unbedingt mit den Anordnungen, die seine Ministerialen empfangen hatten und umsetzten.

    Denn auch weil die Sportorganisationen der Bundesrepublik - NOK, DSB und der gemeinsame Bundesausschuss Leistungssport - scharf waren auf die Medaillen, wurden belastete Institutionen wie die Doping-Hexenküche FKS in den Einigungsvertrag übernommen. Der westdeutsche Sport sicherte sich das Doping-Knowhow der DDR. Politik und Sportfunktionäre waren, vielleicht nicht alle Verantwortlichen persönlich, doch bestens informiert über die Abgründe des ostdeutschen Systems. Dafür gibt es zahlreiche Belege.

    Die Medaillenproduzenten mit ihren Doping-Geheimarbeiten am FKS, nun IAT, wechselten nur den Auftraggeber. Einige Dopingforscher blieben in Lohn und Brot. "Aus politischen Zwängen wurde ökonomischer Druck”, notierte "Der Spiegel" seinerzeit.

    Präzise betrachtet war es sogar so: Der Einigungsvertrag sicherte Institutionen, deren Arbeit und langjährige Mitarbeiter später, Ende der neunziger Jahre, im Zusammenhang mit den Kinder-Dopingprozessen von der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität durchleuchtet wurde.

    Von Opfern des DDR-Sportsystems war im Einigungsvertrag keine Rede. Man darf diese Widersprüche wohl als real existierende deutsch-deutsche Sportpolitik bezeichnen.