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Von der Schweiz lernen, heißt direkte Demokratie lernen

Nicht erst seit Stuttgart 21 drohen Großprojekte an Wutbürgern zu scheitern. Künftig will die Politik die Bürger schon vorab ins Boot holen und die Bauvorhaben damit beschleunigen. Wissenschaftler aus Deutschland und der Schweiz diksutierten bei einer Tagung der Universität Konstanz die Chancen der Bürgerbeteiligung.

Von Peter Leusch | 05.04.2012
    Sebastian Haunss, Politologe, Universität Konstanz: "Man soll die Bürger nicht nur als Problem wahrnehmen, sondern als Potenzial, die sich aktiv am Prozess beteiligen können."

    Adrian Vatter, Professor für Politik, Universität Bern: "Möglichst früher Einbezug der Bürger und Bürgerinnen, damit sie sich informieren können. Das ist sehr wichtig."


    Christian Büttner von der Bürgeraktion Mehr Demokratie e.V.: "Eine Forderung wäre zum Beispiel in Deutschland die Bürgerbeteiligung auf Bundesebene einzuführen, wir haben als eines der wenigen Länder in Europa keine Volksabstimmung auf Bundesebene."

    Sarah Händel, Mehr Demokratie e. V.: "Wenn die Politiker wissen, dass der Bürger ein ernsthafter politischer Akteur werden kann, der Entscheidungsmacht an sich ziehen kann, dass sie dann anders mit dem Bürger umgehen und mit aller Energie Kompromisse finden, weil im Hintergrund diese Drohung Volks- oder Bürgerentscheid stehen kann."

    Vier von vielen Stimmen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft, die auf stärkere Bürgerbeteiligung in Deutschland drängen. Stuttgart 21 ist im Hinterkopf - welche Konsequenzen soll man ziehen, was kann man anders machen? Schon 2007 gab es ein Bürgerbegehren, das man aus formalen Gründen nicht zuließ, frühe Einsprüche und Proteste wurden abgebügelt. Das Schlichtungsverfahren mit Heiner Geißler kam spät. Schließlich hat eine Volksabstimmung den Konflikt, zwar nicht aus der Welt geschafft, aber doch entschärft. So richtet sich nicht zufällig der Blick in die Schweiz, wo es auf allen Ebenen - in den Kommunen, den Kantonen und auf Bundesebene - Bürgerentscheide gibt. Sie entspannen das politische Klima, lautet das Fazit der Forschung von Markus Freitag, der an der Universität Bern Politik lehrt.

    "Für die Schweizer Kantone haben wir exakt dieses Ergebnis herausbekommen, dass also ein Mehr an direkter Demokratie in den Schweizer Kantonen dazu führt, dass die Menschen angeben, sie würden sich weniger an Demonstrationen beteiligen."

    Das Stimmrecht der Schweizer nicht nur bei politischen Wahlen, sondern bei auch strittigen Sachfragen und Projekten nimmt Druck aus dem Kessel. Die Forscher sprechen von einer Ventilfunktion. Aber es ist weit mehr. Denn die Schweizer können sich auch auf Bundesebene mit Bürgeranträgen, sogenannten Volksinitiativen, aktiv in die Planung einbringen. Und das Abstimmungsergebnis am Ende des Prozesses trägt eine breite Basis, erklärt Katharina Holzinger, Professorin für Internationale Politik und Konfliktforschung an der Universität Konstanz.

    "Wenn solche Entscheidungen getroffen werden, sind sie sehr gut legitimiert, weil jeder die Möglichkeit hatte, zur Wahl zu gehen, mit abzustimmen, wir sind das Volk – die Volkssouveränität findet ihre Verwirklichung."

    Kann die Schweiz hier ein Vorbild für Deutschland sein? Brauchen wir mehr direkte und weniger repräsentative Demokratie in der Bundesrepublik, wo das Grundgesetz nach den schlechten Erfahrungen der Weimarer Republik dem Volk außerhalb der Wahlen nur begrenzte Entscheidungsmacht überlassen hat?

    Es gibt auch kritische Stimmen, sie warnen davor, dass in Systemen der direkten Demokratie die Mehrheit uneingeschränkt über die Minderheit triumphieren kann, wohingegen eine repräsentative Demokratie besser die Interessen aller und des Ganzen zu wahren vermag. Dieser Einwand sei durchaus berechtigt, sagt Adrian Vatter, Politikprofessor an der Universität Bern. Er stützt seine Aussagen auf Untersuchungen in der Schweiz.

    "Es gibt Minderheiten, die tatsächlich benachteiligt werden, durch direktdemokratische Entscheide, das sind insbesondere diejenigen, die über keine Stimm- und Wahlrechte verfügen, das heißt das sind die Ausländer, Asylbewerber, Muslime in der Schweiz, die in der Regel auch Ausländer sind, die sind wirklich stark benachteiligt, viele insbesondere eigene Sprachminderheiten jedoch, die sind nicht negativ betroffen."

    Aufgrund einer Volksinitiative kam es 2009 zu einer Volksabstimmung, die künftig den Bau von Minaretten in der Schweiz verboten hat. In einer repräsentativen Demokratie wäre es vermutlich gar nicht zu diesem Verbotsantrag gekommen.

    "In der Schweiz ist es wirklich ein Problem, weil wir keine Verfassungsgerichtsbarkeit haben, in Deutschland sehe ich hier überhaupt keine Probleme, denn der Rechtsschutz, die Verfassungsgarantie von Minderheitenrechten, ist in Deutschland weitaus stärker ausgebaut als in der Schweiz, und deswegen hätte ich diesbezüglich für Deutschland überhaupt keine Bedenken, direkte Demokratie einzuführen."

    Ein anders gelagertes Argument gegen das Instrument der Volksabstimmung auf Bundesebene gibt Katharina Holzinger zu bedenken:

    "Die Bürger sind manchmal, was politische Prozesse angeht, sehr konservativ, ein Beispiel in dem Bereich wäre Europa - die europäische Einigung ist ein gewisses Projekt der politischen Eliten, es ist nicht unbedingt ein Projekt des Volkes. Wir haben in einer ganzen Reihe von europäischen Ländern Volksabstimmungen zu den Europäischen Verträgen, die gehen tendenziell in jüngerer Zeit negativ aus, auch die Schweizer wollen sich nicht so gern anschließen an Europa und das hat mit Volksabstimmungen zu tun, und in Deutschland können wir sehr skeptisch sein, ob wir positive Voten bekommen würden."

    Instrumente der direkten Demokratie können eine politische Bremse sein. Gleichwohl wird sich Deutschland weiter in Richtung einer stärkeren Bürgerbeteiligung entwickeln, so die Prognose der Politikwissenschaftler: Bürger mischen sich schon länger ein, am längsten und heftigsten im Streit um die Atomenergie, seit den 90er-Jahren auch an vielen anderen Punkten, wo es um Fluglärm, Müllverbrennungsanlagen, Autobahnen und andere Großprojekte geht. Instrumente der direkten Demokratie könnten dazu beitragen, dass die mitunter auch gewalttätigen Demonstrationen und Protesten abnehmen, und statt dessen friedliche Formen der Konfliktbewältigung an Bedeutung gewinnen. Politikwissenschaftler Markus Freitag:

    "Ich denke aber auch, dass dann nicht sofort jegliche Demonstrationen, wenn man das beabsichtigen möchte, eingedämmt werden könnten. Selbst wenn man die direkte Demokratie jetzt entschieden weiter vorantreibt, sprich: man würde die Unterschriftenquoren herabsetzen, man würde eine längere Sammelfrist beantragen, die auch die Unterschriftensammlung außerhalb von Amtstuben zulässt, selbst dann braucht es Zeit, bis diese direktdemokratischen Mitspracherechte in den Köpfen der Bürger angekommen sind, und so etwas wie einen Wandel der politischen Mitsprachekultur bewirken, das wird nicht von heute auf morgen gehen. Aber es wäre erstmal ein politisches Zeichen, das gesetzt werden könnte."