Heinlein: Also endgültig der Abschied von der Illusion der blühenden Landschaften überall im Osten?
von Dohnanyi: Blühende Landschaften überall? Es gibt auch nicht überall blühende Landschaften im Westen. Wir haben ja im Osten inzwischen sehr, sehr viel Entwicklung vor Augen. Es ist gar kein Zweifel, dass die Landschaften, die Dörfer, die Städte, die Straßen, die Schienen, die Bahnhöfe und so weiter, das ist ja ungeheuer verbessert worden. Was uns fehlt sind Arbeitsplätze, da müssen wir rangehen und dazu brauchen wir Tatkraft, keine ständige Diskussion über Worte. Wissen Sie, als wir damals unseren Bericht vorgelegt haben, beziehungsweise als er der Presse zugespielt wurde, da wurde eine riesige Debatte über "Sonderwirtschaftszone" geführt. Das ist Quatsch so eine Debatte. Wenn man besondere wirtschaftliche Maßnahmen treffen will in einer Region, ob man das dann "Sonderwirtschaftszone" nennt oder "Sonderwirtschaftsbereich", das ist doch kein Unterschied.
Heinlein: Aber ein Bundespräsident muss damit rechnen, dass seine Worte auf die Goldwaage gelegt werden. War es denn politisch klug von Horst Köhler ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt mit dieser Bemerkung Öl ins Feuer zu gießen?
von Dohnanyi: Was der Bundespräsident beabsichtigt und tut, dass muss er selber wissen und es steht mir auf jeden Fall nicht zu, mich darüber zu äußern, ob es klug oder nicht klug ist.
Heinlein: Fehlt es an Fingerspitzengefühl?
von Dohnanyi: Nein, das würde ich nicht sagen. Ich würde sagen woran es fehlt in Deutschland, ist wirklich ein Versuch einer sich nicht an Worten ständig festmachenden Debatte. Es ist völlig in Ordnung, wenn der Bundespräsident sagt, es wird weiterhin unterschiedliche – er hat ja nicht gesagt, die Unterschiede müssen wir jetzt festschreiben, sondern er hat gesagt, wir werden uns mit unterschiedlichen Lebensmöglichkeiten in den verschiedenen Teilen Deutschlands abfinden müssen.
Heinlein: Aber Worte erzielen ja auch Wirkung. Eine Umfrage in dieser Woche: Jeder Fünfte will die Mauer wieder haben.
von Dohnanyi: Das ist doch wirklich Unsinn. Wenn Sie die Leute so fragen, dann geben sie trotzige Antworten. Jeder von uns sagt doch mal zu jemandem anderem, was er ihn alles könne, und keiner würde es trotzdem tun. Ich bin in all diesen Dingen einfach für mehr Vernunft, für mehr Klarheit und solche Fragen wie, wir wollen die Mauer wieder aufbauen, die halte ich also für sehr unsinnig. Außerdem wenn sie es dann wirklich machen würden, dann würden diejenigen, die jetzt gerade demonstrieren, damit das Hartz-IV-Gesetz verändert oder beseitigt werden soll, die würden dahingehen und die Mauer wieder einreißen. Also das halte ich alles für an der Oberfläche diskutiert. Ich mag diese Oberflächendiskussionen in Deutschland nicht mehr. Wir müssen uns endlich auf die Fragen konzentrieren, die wir zu tun haben. Wir brauchen im Osten eine ehrliche Lagebeschreibung, wir brauchen die Konzentration der Finanzen auf die Wirtschaft und nicht auf die Straßen, wir brauchen eine bessere Abstimmung zwischen Bund und Ländern, damit wir eine gemeinsame Strategie fahren können und wir brauchen auch eine straffere Führung des Aufbau Ost. Den Abbau von Bürokratie, den der Bundespräsident gefordert hat, den halte ich auch für unbedingt richtig. Das sind die Dinge, über die wir diskutieren sollten und nicht über Worte, die irgendwo in einem Interview stehen.
Heinlein: Gehört zu dieser Ehrlichkeit, zu dieser Klarheit, die Sie fordern auch, dass man den Menschen im Osten sagt, das Ausbluten einiger Regionen muss bewusst in Kauf genommen werden, weil es kein Geld mehr für Subventionen gibt? Denn das hat der Bundespräsident ja auch klar und deutlich gesagt.
von Dohnanyi: Das Geld ist ja beschränkt durch diesen sogenannten "Solidarpakt II", der bis 2019 geht und immerhin noch mal 156 Milliarden Euro enthält. Dazu kommen alle anderen Transferzahlungen und die werden auch so bleiben. Nein, ich glaube nicht, dass man die Fläche ausbluten muss. Man muss sie anbinden an die Zentren. Wir haben das auch im Westen. Es gibt große Strecken im Emsland, da finden Sie kein Volkswagenwerk. Aber da gibt es Straßen – und die hat man im Osten heute auch – die führen zu Arbeitsplätzen an anderer Stelle. Das gilt auch für Rheinland-Pfalz zum Beispiel, in einem großen Umfang für die Westpfalz und das gilt auch für Teile von Niederbayern und so weiter. Was wir machen müssen ist, uns auf Wachstumskerne konzentrieren. Aber schon das Wort "Ausbluten" finde ich nicht gut. Denn das ist nicht der Sinn der Geschichte.
Heinlein: Der Unterschied ist, dass im Emsland – Sie haben es angesprochen – oder in Ostfriesland genauso viel verdient wird wie in Hamburg. In Mecklenburg-Vorpommern, einige Kilometer weiter, sieht das ganz anders aus.
von Dohnanyi: Das ist doch einfach nicht richtig. Vergleichen Sie mal die Einkommen in München mit den Einkommen im Emsland oder die Einkommen in Hamburg mit den Einkommen im Emsland, das stimmt nicht. Was allerdings richtig ist, ist dass im Emsland manches billiger und preiswerter ist, zum Beispiel die Mieten. Da haben wir natürlich auch Unterschiede. Die Mieten im Osten sind heute wesentlich günstiger als die im Westen, deswegen kann man auch nicht das Einkommen auf Euro und Cent miteinander vergleichen, weil wenn Sie für die Miete nur die Hälfte zahlen müssen, dann haben Sie natürlich ein günstigeres Einkommen, auch wenn Sie nominal, also in Zahlen ausgedrückt, geringer verdienen.
Heinlein: Also die Menschen im Osten sollen nicht jammern, weil bei Ihnen alles billiger ist?
von Dohnanyi: Nein, wissen Sie, wir sollen im Osten, wie im Westen uns mit den Wirklichkeiten auseinandersetzen. Ich bin dafür, dass wir endlich anfangen – und das ist auch eine Aufforderung an die Bundesregierung – den Aufbau Ost in den Mittelpunkt unserer Aufgaben zu stellen und den Menschen im Osten klar zu machen, dass sie eine Chance haben, wenn wir gemeinsam – Westen und Osten – das konzentriert vorantreiben und nicht immer über Dinge reden, wie über die Frage, ob die Mauer wieder aufgebaut werden soll oder der Bundespräsident hat gar nicht von gleichen Lebensverhältnissen gesprochen, weil die gar nicht mehr im Grundgesetz stehen. Mir passt das nicht mehr. Ich finde wir sind hier in eine oberflächliche Mediendebatte in Deutschland geraten, die überall guckt, ob irgendwo einer über einen kleinen Faden von nicht zulässigen Worten stolpern kann, anstatt uns auf die Sache zu konzentrieren.
Heinlein: Auch wenn Sie wollen, dass man sich auf die Inhalte konzentriert: Wie groß ist die Gefahr, dass diese Worte vom ersten Mann des Staates, von Horst Köhler in dieser ohnehin aufgeheizten Debatte – Sie haben es selber gesagt – zum Anlass genommen werden, vom rechten oder vom linken Rand für eine Spaltung, um weiter Stimmung zu machen gegen die Politik in Berlin?
von Dohnanyi: Ich bin immer der Auffassung gewesen, dass man sich nicht danach richten sollte, ob einem die Worte im Munde umgedreht oder ob die Worte missbraucht werden können oder ob man Beifall von der falschen Seite bekommt. Man muss sagen, was richtig ist, und dann muss man versuchen zu tun, was richtig ist. Und wenn wir uns das endlich angewöhnen und aufhören würden mit dieser auch in diesem Bereich politischen Korrektheit zu reden, sondern hinzugucken und zu sagen, im Osten ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie im Westen und das muss weg. Wie bringen wir das weg? Das bringen wir nicht weg, indem wir darüber streiten, ob das Gleiche gleichwertig oder wie auch immer die Lebensverhältnisse sind, sondern indem wir sagen: Die Haarspalterei ist nicht das, was dem Osten hilft, sondern Ehrlichkeit der Lagebeschreibung, Konzentration der Finanzen auf die Wirtschaftsförderung und auf die Forschung. Nicht Straßen, sondern Betriebe aufbauen, eine bessere Abstimmung zwischen Bund und Ländern zustande bringen, auch wenn die Länder-Ministerpräsidenten da vielleicht protestieren, das muss der Bund eben durchsetzten, und eine straffere Führung im Bunde über den Aufbau Ost in Ordnung bringen. Dann denke ich, kriegt der Osten auch wieder mehr Mut, und wenn wir mehr Mut in Deutschland haben und weniger Angst, dann werden wir auch plötzlich sehen, dass wir ganz erfolgreich sind.
Heinlein: Das war der SPD-Politiker Klaus von von Dohnanyi, vielen Dank für das Gespräch.