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Von Keyserlings "Landpartie"
Der Chronist der letzten Atemzüge

Eduard von Keyserling gilt nicht nur als "Dichter der schweifenden Sehnsucht", sondern auch als der wohl meist wiederentdeckte Schriftsteller in deutscher Sprache. Besonders für Neueinsteiger in seine Werke öffnet der Erzählband "Landpartie" eine Tür zu einer wahren Schatzkammer.

Von Peter Henning | 06.11.2018
    Porträt des Schriftstellers Eduard von Keyserling - Schloss Paddern in Kurland 14.5.1855. Gemälde von Lovis Corinth (1858- 1925) Neue Pinakothek München
    Ein Porträt des Schriftstellers Eduard von Keyserling von Lovis Corinth (dpa / picture alliance )
    Der Weimarer Dichter Wulf Kirsten bezeichnete Eduard von Keyserling einmal treffend als "Chronist der letzten Atemzüge". Denn tatsächlich machte der so Bezeichnete wiederholt jene besonderen Momente zum Gegenstand seines Erzählens, in denen ein isoliert betrachtetes Menschenleben an sein Ende kommt - und seine Geschöpfe unwiderruflich ihre letzten Atemzüge tun. Angeführt seien beispielhaft dafür bereits die ersten, den 740 Seiten starken Band "Landpartie" eröffnenden Kurz-Erzählungen "Nur zwei Tränen", "Mit vierzehn Tagen Kündigung" oder "Das Sterben. Ein Sommerbild". Darin vermag Keyserling es auf wenigen Seiten gekonnt, im subtilen, gleichsam sprachlich lakonischen Bannen individueller Verlöschens-Momente rückblickend ganze Leben zu umreißen. In dem Stück "Das Sterben. Ein Sommerbild" klingt das - auf das Engste gegen einander gedrängt - so:
    "Sterben – gut. Das versteht sich von selbst. Man legt sich auf sein Bett und stirbt; das ist in der Ordnung: aber auf den Tod warten, müßig sein, husten bei jedem zehnten Schritt nach Luft schnappen, wozu ist das gut? Das fiel der alten Lise sehr schwer. Während die anderen die Frühjahrsarbeit besorgten, musste sie zu Hause bleiben, als ginge sie all das nichts mehr an. Da lag die alte Liese auf ihrem Bett in der niederen Bauernstube, das Kopftuch tief in die Stirn gezogen, die Arme gerade am Körper anliegend.
    Die Alte richtete sich auf. "Draußen muss es wärmer sein" sagte sie sich. "Es ist ja auch gleichgültig, wo man liegt. Ich habe oft genug unter der Eiche geschlafen. Das Aufstehen war schwer. Auf einen Stock gestützt, kroch die Alte stöhnend zur Tür. Vor der Tür blieb sie stehen und keuchte, dabei schloss sie die Augen. Es schwindelte ihr, denn das Licht tat ihr weh. Aber sie erholte sich wieder und ging weiter - am Schweinestall - an den Salatbeeten vorüber - jetzt war sie auf dem Felde; da standen die Korngarben schon vor ihr. Die Halme waren heiß von der Sonne und dufteten stark: die Alte streckte sich nach ihnen aus. – und rang nach Luft: "Der Tod, der Tod" stöhnte sie."
    Lakonischer Minimalismus
    So findet die alte Lise wenig später dort ihr Ende, wo ihr gesamtes Leben im Rhythmus der Jahreszeiten ablief und verging: auf dem Feld, wo sie einst ihre Bestimmung als Arbeiterin fand.
    "Als die Leute von der Arbeit heimkamen, fanden sie die Alte tot auf einer Korngarbe liegen: "Hat die hier heraus müssen, um zu sterben", meinte der Bauer und lachte gerührt. Die Arbeiter hoben die Leiche auf, um sie fort zu tragen. Die rechte Hand der Toten, die flach auf ihrem Beine ruhte, glitt dabei herab, und eine Heuschrecke sprang unter ihr hervor. "Seht doch" sagte einer der Knechte, "was die Alte noch im Sterben erwischt hat!"
    Meisterhaft löste Eduard von Keyserling schon in dieser bereits 1885 geschriebenen Erzählung vorausgreifend ein, was der für seinen lakonischen Minimalismus berühmt gewordene amerikanische Kurzgeschichtenautor Raymond Carver Mitte der Neunzehnhundert- Siebzigerjahre mit Blick auf die sogenannte "Kleine Form" als deren Grundwesenszug so beschrieb: "In einer Kurzgeschichte zählt jedes Wort!"
    Keyserling, am 14. Mai 1855 als zehntes von zwölf Kindern in Tels-Paddern bei Hasenpoth, im ehemaligen, bis 1917 als solches bestehenden Kaiserreich Russland geboren, darf also als ein Mit-Begründer und früher Meister der impressionistischen Kurz-Erzählung gelten. Denn entstanden seine ersten Romane wie etwa "Fräulein Rosa Herz. Eine Katzengeschichte" oder "Die dritte Stiege" noch im Geist des Naturalismus, so bedeuteten seine ab 1903 geschaffenen Erzählungen eine Hinwendung zum Impressionismus. Dabei sind all seine, nun erstmals gesammelt vorliegenden Erzählungen durchweht von einem Hauch schmerzhafter Vergänglichkeit. Das Meiste wird aus einer melancholischen Rückschau rekapituliert, und selbst Minimstes erscheint wie durch eine Lupe gesehen und beschrieben. Was die Texte aber vor allein eint, ist ein durchweg fühlbares schmetterlingsflügelhaft-nervöses Vibrieren, das geschickt unter der spannungsreichen Oberfläche der Beschreibungen gehalten wird; gleichwohl aber pocht es als steter Puls im Innern der geschilderten Ereignisse, sodass der Eindruck entsteht, als habe dem Dichter dereinst ein elektrischer Dauerimpuls beim Schreiben die Feder geführt. Daraus vor allem resultiert die besondere epische Spannung der Keyserling’schen Prosa. In seinem Nachwort beschreibt Florian Illies dieses besondere Erzählelement so:
    "Es geht alles ganz gesittet zu in Eduard von Keyserlings Prosa, ruhig und fast feierlich. Aber in der Sprache laufen die Gefühle heiß, in der Schilderungen der Natur zittern die Sehnsüchte. Doch wie erklärt sich diese ungeheuer verdichtete Sinnlichkeit? Wieso wirken die Wiesen bei ihm sonniger als irgendwo sonst, die Schatten dunkler, die Himmel höher? Weil er nichts mehr sah. Und also alles vor seinem inneren Auge heraufbeschwören musste. Die sinnliche Anschaulichkeit seiner Sprache, die zuvor schon hoch gewesen sein muss, erlebte nach der Erblindung noch einmal eine Intensivierung in der Wiedergabe der Farbigkeit, der Gerüche, der Töne."
    Erblindung durch Syphilis
    Führt man sich also vor Augen, unter welch erschwerenden Bedingungen ein Großteil der hier versammelten Texte entstanden ist,- nämlich im Zustand fast völliger, infolge einer Syphilis-Erkrankung erlittenen Erblindung,- so erschließt sich einem umso mehr jene besondere "Ekstase", die Alfred Polgar bei allem "Zarten", das er auch darin fand, dereinst in Keyserlings Texten für sich ausmachte. Wo bloß noch eine alles gleichmachende Finsternis regiert, da ist Imagination gefragt - gepaart mit Mut mit einer besonderen stilistischen Könnerschaft. Keyserling verfügte augenscheinlich über beides.
    Man hat diesen gesellschaftlichen Außenseiter, der als 23-Jähriger nach Wien ging um dort Philosophie und Kunstgeschichte zu studieren, mal einen "Dichter der überzüchteten Hochkultur" genannt. Andere adelsskeptische Stimmen bezeichneten ihn als "Herold alt-aristokratischer Gedächtnispflege"; wirklich gerecht aber wurde man diesem Grafen, der scheinbar zeit-entrückte, impressionistische Stillleben schuf, mit beidem nicht. Mag sein, dass seine plastischen Schilderungen der baltischen und ost-elbischen Adelswelt diesen Eindruck erzeugten; erwähnt seien in diesem Zusammenhang die Stücke "Schwüle Tage" oder "Am Südhang", in welchen Keyserling in der Beschreibungen sexueller Umtriebe seiner Adligen mit niederen Ständen zu erzählerischer Hochform aufläuft. Ungeachtet dessen aber ist hier vor allem und zum x-ten Mal – losgelöst von seinem eigenen gesellschaftlichen Herkommen – ein literarischer Hochkaräter anzuzeigen. Ein Schriftsteller, über dessen mal wie hingetupft erscheinenden, dann wieder mit festem Pinselstrich geschaffenen Sprachgemälden der zweiflerische Ausruf thront: "Wenn man nur wüsste, worauf man wartet?" Denn erscheinen die meisten der in seinen Erzählungen Auftretenden nicht - genau betrachtet - als glücklos Wartende auf ein vergangenes Leben, das nicht wieder kommt? Und sind sie nicht vielfach Gefangene ihrer sozialen Verhältnisse, von deren imaginierten Ausbruchversuchen wir hier lesen?
    Eduard von Keyserling, Verfasser des berühmten, erstmals 1911 publizierten Romans "Wellen", war der Dichter der mal mehr, mal weniger gekonnt domestizierten Sehnsucht. In seinen Stellvertreterfiguren, die sich zuhauf in seinen Texten finden, beschwört er dieses schweifende Grundgefühl selbst im nur Skizzenhaften wiederholt fühlbar herauf. Und es gehört ebenso zur traurigen Legende dieses Schriftstellers, dass er sich trotz aller Zustimmung, die ihm über die Zeiten jeweils zuteil wurde, nie bleibend am Markt und im Bewusstsein der sich wandelnden Leserschaft etablieren konnte. Auch die vorliegende Sammlung, so muss vermutet werden, wird an diesem beklagenswerten Umstand nichts ändern. So wird der Name Eduard von Keyserling auch weiterhin als zwar faszinierende, aber nicht dauerhaft festzumachende Größe durch die Zeiten irrlichtern. Nicht zuletzt auch die hier erstmals gesammelt vorliegenden, von Horst Launinger chronologisch geordneten und kommentierten Erzählungen sind aus einem Zustand des Zweifels und einer ihren Schöpfer nicht selten beklommen machenden Ungewissheit heraus entstanden; einem Grundgefühl, dass ihn offenbar bis zuletzt nicht losgelassen hat.
    "Keyserling versteht einen Sommernachmittag so zu beschreiben, dass man während seines Glühens und Verdämmerns das Gefühl des ganzen Lebens hat."
    Als wäre es ein sonnenbeschienener See
    Dies schrieb dereinst Hermann Hesse mit Blick auf Keyserlings farb-und stimmungsreiche Prosa. Denn tatsächlich ist hier das vielgestaltige, emotional hoch aufgeladene Kurzprosa-Gesamtwerk eines impressionistischen Meisters zu besichtigen. Und wer erstmals Bekanntschaft mit Keyserlings Erzählungen macht, sollte – so empfiehlt Florian Illies es in seiner Nachbemerkung richtig - "hineinspringen in diese Prosa, als wäre es ein sonnenbeschienener See an einem Spätsommertag."
    Man hat diesen von baltischem Adel abstammenden Schriftsteller vielfach mit Fontane verglichen. Tatsächlich aber liegen dreieinhalb Jahrzehnte zwischen beiden Autoren. Und während der poetische Realist und einstige Journalist und Theaterkritiker Fontane sich in seinen Thematiken breiter aufstellte und die Mark Brandenburg und das Leben im Preußen seiner Zeit besang, schrieb Keyserling im Grunde bis zuletzt an der einen immer gleichen, im Ton exquisiter Melancholie beschworenen Geschichte: jener übergreifenden Fama, die vom ewig prekären Verhältnis zwischen Liebe und Tod erzählt – und den damit verbundenen, oft schicksalhaften Wechselwirkungen.
    Ausgemachten Keyserling-Kennern bietet der vorliegende Band bis auf fünf hier erstmals in Buchform zugänglich gemachten Texte nichts Neues. Neu-Einsteigern in dessen Werk aber öffnet sich damit die Tür zu einer wahren Schatzkammer. Darin begegnen wir einem nach Dauer hungernden Beschwörer der Liebe und des Todes – und einem großen Furchtlosen, der in seiner zeitlosen Modernität wie kaum ein Zweiter das "Erzählen vom Ende" beherrschte.
    Eduard von Keyserling: "Landpartie" Gesammelte Erzählungen.
    Herausgegeben und kommentiert von Horst Lauinger. Nachwort von Florian Illies.
    Manesse Verlag, München 2018.
    740 Seiten. Geb. 28 Euro.