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Von Mut und Menschlichkeit

Mit seiner Studie berührt Arno Lustiger eine zentrale Frage der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus: die nach den Handlungsspielräumen. Obschon die Hilfe für Juden spätestens ab Oktober 1941 unter Strafe stand, ließen sich Zehntausende nicht davon abhalten, "Rettungswiderstand" zu leisten.

Von Niels Beintker | 30.01.2012
    Es braucht nicht nur Fantasie für eine solche Aktion. Es braucht auch viel Mut. Die drei Männer aus der Führungsebene des Amtes Ausland/Abwehr der deutschen Wehrmacht ließen sich dennoch nicht beirren. Hans von Dohnanyi, Wilhelm Keitel und Hans Oster entwarfen im Frühjahr 1942 einen Plan mit dem Titel "Unternehmen Sieben". Zwei jüdische Rechtsanwälte hatten die ranghohen Militärbeamten um Hilfe gebeten. Sie suchten nach Wegen, Deutschland zu verlassen und damit dem sicheren Tod zu entkommen. Arno Lustiger, 87 Jahre alt und Überlebender der Lager Buchenwald und Auschwitz, hat die Episode dokumentiert. Sie ist eines von vielen Beispielen für ein Verhalten, das Lustiger als Rettungswiderstand beschreibt.

    "Der Plan hatte den Code-Namen "Sieben", weil es ursprünglich sieben Personen waren. Aber inzwischen – durch Familienangehörige – wurden es mehr. Und sie haben einen sehr genauen und komplizierten Plan, sie zu retten, ausgetüftelt, indem sie diese Menschen als Spione für die Abwehr deklariert haben. Sie sollten als Spione im Ausland für die Deutschen, für die deutsche Abwehr spionieren. Und die Menschen sind tatsächlich – haben Deutschland verlassen können, wurden dadurch gerettet."

    Um ihren Plan in die Tat umzusetzen, mussten Dohnanyi, Keitel und Oster auch Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich in Kenntnis setzen. Beide waren mit dem Einsatz jüdischer V-Leute im Ausland einverstanden, baten aber, den formalen Dienstweg einzuhalten. Anders formuliert: Sie ahnten nicht, was die drei Nachrichtendienstmänner eigentlich mit ihrer Aktion bewirken wollten. Arbeiter, Beamte, Diplomaten, Geistliche und Adelige – Menschen aus allen sozialen Schichten und Berufsgruppen bewiesen Courage, versteckten Juden oder verhalfen ihnen zur Flucht. Auch die Berliner Prostituierte Hedwig Porschütz gehörte zu diesem Rettungswiderstand. Sie war im Umkreis einer Helfergruppe um den blinden Bürstenmacher Otto Weidt tätig, unter anderem schickte sie Pakete nach Theresienstadt.

    "Als Prostituierte war sie stetig gefährdet – dafür drohte das Konzentrationslager. Deshalb war sie bei Otto Weidt als Stenotypistin eingestellt, auf dem Papier. Das hat sie einigermaßen geschützt vor den Nachstellungen der Sittenpolizei. Sie hat mit Lebensmittelkarten, die sie erworben hat oder von ihren Klienten bekommen hat, die Pakete – auch die Menschen, die sie in ihrer eigenen kleinen Wohnung beherbergt hat oder versteckt hat, auch die musste sie ernähren. Es ist unglaublich, was sie geleistet hat."

    Ein Fall wie der von Hedwig Porschütz steht aber auch beispielhaft für das Schicksal vieler Judenretter nach dem Untergang des Dritten Reiches. Sie gerieten oft in Vergessenheit, und das, obwohl gerettete Juden wiederholt auf die Taten der couragierten Helfer hingewiesen haben. Arno Lustiger schreibt, dass Hedwig Porschütz nach einer Hausdurchsuchung im Sommer 1944 verhaftet und zu 18 Monaten Zuchthaus verurteilt wurde. Zehn Jahre nach dem Krieg stellte sie einen Antrag auf Entschädigung wegen Widerstandes gegen das NS-Regime. Er wurde abgelehnt, die Berlinerin starb 1977 völlig verarmt und ohne jede Anerkennung. Diese erfolgte erst Jahre nach ihrem Tod, heute erinnert eine Gedenktafel in Berlin an die "Stille Heldin". Arno Lustiger vermutet, dass die späte Auseinandersetzung mit den Lebensgeschichten der Judenretter mentalitätsgeschichtliche Ursachen hat.

    "Die Menschen, die Wegschauer oder Zuschauer waren, die versucht haben, ein normales Leben zu führen, sich angepasst haben, denen war im Unterbewusstsein oft – wahrscheinlich – nicht angenehm zu erfahren, dass es Menschen gegeben hat, die den Mut gefunden haben, andere Menschen zu retten. Und die hielten ihnen einen Spiegel vor, in dem sie aufzeigten, durch ihre Taten, dass es Spielräume auch im totalitären Regime gegeben hat – und im Unterbewusstsein war ihnen das sehr unangenehm. Daraus erkläre ich mir die Weigerung, das zur Kenntnis zu nehmen."

    Mit seiner Dokumentation eröffnet Arno Lustiger ein neues Forschungsfeld. Er kann sich auf etliche Detailstudien über die Geschichte von Judenrettern in Deutschland und Europa stützen – und ermöglicht damit einen ersten zusammenfassenden und allgemeinen Blick auf die Hilfe für verfolgte Juden. Sein für ein breites Publikum geschriebenes Buch ist in drei große Abschnitte gegliedert und beschreibt Rettungsaktionen im Dritten Reich, in den besetzten Ländern und in den mit Deutschland alliierten Staaten. Die Entfesselung der Gewalt im Zweiten Weltkrieg wirkte sich auch auf den Charakter der Hilfsmaßnahmen aus. In Ost- und Mitteleuropa engagierten sich vielfach jüdische Partisanen für die Rettung ihres Volkes, etwa mit der Errichtung von Familiencamps in abgelegenen Wäldern. In Westeuropa waren die verfolgten Juden dagegen vielfach auf die noch weitgehend intakte Zivilgesellschaft angewiesen. Im niederländischen Niewlande etwa überredeten zwei christliche Bauern die ganze Dorfgemeinschaft, Juden Quartier und Schutz zu gewähren. Da es in diesem Ort keine Juden gab, fuhren die beiden nach Amsterdam.

    "Und dann kamen sie mit den Menschen ins Gespräch und erklärten, sie sind bereit, sie zu retten, entweder die Familien oder, wenn die nicht einverstanden waren, die Kinder. Sie haben auf sehr gefährlichem Wege die Kinder und die zu rettenden Personen in ihr Dorf gebracht, und jede Familie hat diese Menschen aufgenommen. Sie haben alle überlebt. Einen Bestand der Denunziation gab es nicht in diesem Dort. Alle haben die Aktion unterstützt."

    Viele andere bewegende Fälle hat Arno Lustiger in seinem Buch über den Rettungswiderstand dokumentiert, knapp und pointiert, manchmal auch mit der Unterstützung von Gastautoren. Diese große Studie berührt eine zentrale Frage bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus: die nach den Alternativen und Handlungsspielräumen. Die Hilfe für verfolgte Juden stand spätestens nach einem Gestapo-Erlass vom Oktober 1941 unter Strafe und wurde mit Gefängnishaft geahndet. Trotzdem haben sich Zehntausende Menschen in Deutschland und Europa nicht davon abhalten lassen, ihre Mitmenschen in der Not zu unterstützen. Für Berlin, so wird geschätzt, konnten von 7.000 versteckten Juden 1.500 den Terror der Nazis überleben. Weil es Menschen gab, die, nach einem Wort des Historikers Fritz Stern, "aktiven Anstand" bewiesen. Ihr Verhalten erfährt nun die Würdigung eines Überlebenden.

    Arno Lustiger
    Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit.
    Wallstein Verlag, 462 Seiten, 29,90 Euro
    ISBN: 978-3-835-30990-6