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"Von Wiederaufbau ist nicht viel zu erkennen"

Ein halbes Jahr nach dem Erdbeben auf Haiti, bei dem bis zu 300.000 Menschen starben, zieht Heinz Oelers von der Hilfsorganisation Misereor eine ernüchternde Bilanz. Die notwendigen Bedingungen für den Wiederaufbau vor Ort fehlten.

Heinz Oelers im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Jasper Barenberg: Auf den Tag ein halbes Jahr ist es inzwischen her, dass in Haiti die Erde bebte, geschätzt bis zu 300.000 Menschen unter sich begrub und die Infrastruktur des Landes zu großen Teilen zerstörte. Inzwischen hat die Regenzeit begonnen, außerdem steht die Hurrikan-Saison vor der Tür, doch vom Wiederaufbau ist noch wenig zu sehen. Hunderttausende haben sich in Zeltstädten eingerichtet und kämpfen täglich ums Überleben. Kein gutes Zeichen auch, dass die UN-Mission in Haiti ihren Oberbefehlshaber abberufen hat, sie hat kein Vertrauen mehr in den Offizier aus Kanada. Der Traum von einem Neustart scheint ausgeträumt.

    Wir wollen das Thema in den nächsten Minuten noch weiter vertiefen. Am Telefon begrüße ich Heinz Oelers, bei der katholischen Hilfsorganisation Misereor verantwortlich für die Hilfsmaßnahmen in Haiti. Einen schönen guten Morgen!

    Heinz Oelers: Guten Morgen, Herr Barenberg.

    Barenberg: Herr Oelers, der Wiederaufbau in Haiti, er kommt nur sehr schleppend in Gang, wenn überhaupt. Ist das auch Ihr Eindruck, der Eindruck von Misereor?

    Oelers: Ja, das ist so. Wenn man durch die Stadt fährt, die hauptsächlich betroffen ist, Port-au-Prince, dann ist zwar der Schutt beiseite geräumt, die Straßen sind frei, der Verkehr läuft wie in alten Zeiten, die Menschen sind auf den Straßen, man ist unterwegs, aber von Wiederaufbau ist nicht viel zu erkennen.

    Barenberg: Es seien noch nicht einmal provisorische Lebensverhältnisse wiederhergestellt, sagen Beobachter vor Ort. Was sind die Gründe aus Ihrer Sicht?

    Oelers: Es gibt für meine Begriffe erst mal zwei Gründe, die vielleicht im Vordergrund stehen. Einmal war der haitianische Staat schon vor dem Erdbeben nicht in der Lage, die notwendigsten Lebensbereiche so zu regeln, wie man das von staatlichen Institutionen erwarten kann. Haiti kann man zu den sogenannten failed states rechnen, also Staaten, die wirklich nicht funktionsfähig sind, und diese mangelnde Funktionsfähigkeit führt natürlich auch dazu, dass gerade in solchen Krisensituationen es schwer ist, überhaupt notwendige Bedingungen für Wiederaufbau zu schaffen. Das ist der eine Punkt.

    Der andere Punkt ist, dass wenn Wiederaufbau und gerade auch von privater Initiative, von den Menschen selber geleistet wird – und das ist sicherlich ein ganz maßgeblicher Faktor; Städte wie Haiti sind ja nicht von den Regierungen oder von der Stadt gebaut worden, sondern sie sind durch die Tätigkeit der Menschen selber entstanden -, auch diese Eigeninitiativen sind im Grunde genommen sehr stark dadurch blockiert, dass der Staat nicht in der Lage ist, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen.

    Barenberg: Präsident René Préval sieht sich ja auch jetzt wachsender Kritik aus den Reihen der Opposition und von den Straßen gewissermaßen ausgesetzt. Es gibt immer wieder Proteste, es soll im November Präsidentschaftswahlen geben. Haben Sie Anzeichen dafür, dass die Regierung ein bisschen Tritt fasst, nachdem ja auch große Teile der Infrastruktur zerstört worden sind? Wird sich etwas ändern an diesen Problemen?

    Oelers: Die Änderung der Probleme wird kurzfristig, glaube ich, nicht wirklich zu erwarten sein. Es wird aber auch davon abhängen, inwiefern sich die internationale Gebergemeinschaft dort einbringt. Da sind ja auch strukturell bestimmte Voraussetzungen geschaffen worden, indem man eine Einrichtung geschaffen hat, die von zwei Köpfen besetzt ist – das ist einmal von der haitianischen Regierung und auf der anderen Seite im Auftrag der internationalen Gebergemeinschaft ist das Bill Clinton -, und diese Institution, in der sowohl haitianische Beamte sitzen als eben auch Vertreter aus den ausländischen Hilfsorganisationen, die wird maßgeblich in der gesamten Planung und Durchführung eine Rolle spielen. Was dort in Zukunft passieren wird, wird eben sehr stark davon abhängen, was diese Institution zu leisten vermag.

    Barenberg: Nun beklagt eben jener frühere US-Präsident Bill Clinton, Sie haben ihn genannt, dass die internationale Gemeinschaft ihre Zusagen nicht einhält, was Hilfe angeht. 5,3 Milliarden Dollar seien zugesagt, aber nur ein Bruchteil sei bisher angekommen. Gibt es dort auch ein Problem auf diesem Gebiet?

    Oelers: Ja. Woran das im einzelnen liegt, weiß ich auch nicht. Dazu bin ich wahrscheinlich zu schlecht informiert und kenne die Details zu wenig. Aber es liegt natürlich zum Teil eben auch an ganz konkreten und operativen Problemen. Ich kann das jetzt nur ein bisschen aus meiner Warte darstellen. Wir versuchen, Dinge auch ins Land zu bringen, was wir vor Ort beispielsweise nicht beschaffen können, und bisher ist eigentlich nur noch der Weg über die Dominikanische Republik gangbar, weil Transporte, die etwa direkt in Port-au-Prince ankommen, also dort den Hafen anlaufen, da muss man drei, vier Monate warten, bis man die Dinge aus dem Zoll herausholt. Das sieht für private Institutionen wie Misereor anders aus als für staatliche, die natürlich noch mal andere Kanäle nutzen können. Da dürften die Verfahren sicherlich schneller ablaufen als es in unserem Fall der Fall ist. Aber es sind solche einfache logistischen Probleme, die dann auch dazu führen, dass einfach Verzögerungen da sind, und wenn die Umsetzungskapazitäten vor Ort in Port-au-Prince nicht ausreichend installiert sind – und da spielen eben staatliche Behörden eine große Rolle -, dann haben natürlich auch Gelder auf internationaler Ebene Schwierigkeiten, absolviert zu werden.

    Barenberg: Was kann denn eine Organisation wie Misereor in dieser Situation überhaupt erreichen, welche Ziele kann sie sich stecken?

    Oelers: Wir haben im Grunde genommen im Moment zwei Schwerpunkte. Der eine ist eine Fortführung der Arbeit im Bereich von Agrarökologie. Da geht es sehr stark um Ernährungssicherung, kombiniert mit Ressourcenschutz, also Stichwort Folgen von Orkanen, von Überschwemmungen, und standortgerechter Landbau, sodass im Grunde genommen solche negativen Entwicklungen, Überschwemmungen durch Regengüsse, halt eben nicht diese Auswirkungen haben, wie man das sonst kennt.

    Der andere Punkt ist, dass wir uns beim Wiederaufbau sehr stark konzentriert haben zurzeit auf die ländlichen Regionen, in denen man etwas machen kann. Das sind die ländlichen Regionen im unmittelbaren Umfeld von Port-au-Prince, die auch sehr stark betroffen sind durch das Erdbeben, und dort konnten wir mit Wiederaufbauprogrammen beginnen. Wir können dabei zurückgreifen auf fünf Partnerorganisationen, die über ein sehr dichtes lokales Netzwerk von lokalen Organisationen verfügen, mit denen wir eben zum Teil Kurse durchführen über angepasstes Wohnen, wobei dann vorwiegend lokale Materialien genutzt werden, und eben auch versucht wird, lokale Bautraditionen aufzugreifen.

    Es geht uns jetzt nicht darum, irgendwo den Leuten nette Häuser zu schenken – da wären wir schnell am Ende -, sondern wir versuchen, durch eine intensive Ausbildung an vorhandene Initiativen anzuknüpfen. Die Menschen haben ja immer ihre Häuser selber gebaut, sie haben immer das verwendet, was sie lokal gefunden haben, und daran anknüpfend kann man natürlich einiges tun und da wirklich nicht nur einige Projektchen machen, sondern eben den Versuch zu starten, die ländliche Wohnsituation insgesamt zu stärken.

    Barenberg: Viele Hilfsorganisationen haben ja in den vergangenen Wochen und Monaten gefordert, die Bevölkerung vor Ort stärker in die Aufbaupläne mit einzubeziehen. Ist das nicht ausreichend geschehen?

    Oelers: Es gibt vereinzelte Versuche und Initiativen, aber das ist alles Stückwerk und ist nicht wirklich überzeugend. Ein systematischer Beitrag in dieser Richtung, dass man zivilgesellschaftliche Beteiligung von unten fördert und systematisch einbindet, ist für mich nicht zu erkennen. Es gibt einzelne Institutionen, zivilgesellschaftliche Gruppierungen und Nichtregierungsorganisationen, die bei bestimmten Events eingebunden sind, aber man müsste hier eigentlich einen systematischen Prozess starten und von unten dann auch versuchen, die Beteiligung der Menschen zu fördern und zu stärken und in Meinungsbildungsprozesse und Entscheidungsfindungsprozesse einzubinden, aber das sehe ich nicht.

    Barenberg: All das im Kopf, würden Sie sagen, der Traum von einem Neustart, den es ja zunächst gab, ist jetzt schon ausgeträumt?

    Oelers: Das will ich so generell nicht sagen. Ich glaube, dass die, die von außen die Situation betrachten, da vielleicht auch zu ungeduldig sind. Man muss einfach sehen, dass dieses Land riesige Probleme hat. Wenn man sieht, dass die Infrastruktur weitgehend zerstört ist und dass wir halt strukturelle politische Probleme zu bewältigen haben, dann kann man nicht davon ausgehen, dass das von jetzt auf sofort geht. Ich denke, man muss mit etwas Geduld, aber auch durchaus mit Zuversicht an die Problematik herangehen, und ich denke, wenn wir mal ein Jahr weiter sind, werden wir auf Ihre Frage vielleicht eine verlässlichere Antwort finden.

    Barenberg: Heinz Oelers, der Länderreferent Haiti bei der katholischen Hilfsorganisation Misereor. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Oelers.

    Oelers: Ja. Danke Ihnen!