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Vor 100 Jahren
Der Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye

Mit dem Friedensvertrag von St-Germain-en-Laye endete auch für Österreich der Erste Weltkrieg. Aus dem europäischen Großreich wurde ein Kleinstaat. Bei seinen Bürgern war der neue Staat unbeliebt. Lieber hätten die meisten sich an Deutschland angeschlossen.

Von Norbert Mappes-Niediek | 10.09.2019
    Schwarzweiß Kulisse vor der mehrere Männer in schwarzen Anzügen und Hüten laufen.
    Die siegreichen Alliierten einigten sich auf die Auflösung Österreich-Ungarns: Im Bild auch US-Präsident Woodrow Wilson und Frankreichs Premier Georges Clemenceau (Imago / United Archives International)
    "Es ist ein Raubfriede, ein Vernichtungsfriede, ein Schandfriede, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht kennt! Er bedeutet für unsere politische Freiheit und wirtschaftliche Entwicklung den Todesstoß!"
    Starke Worte fand die schrille Boulevardpresse von Wien, als am 10. September 1919 im alten Königsschloss von St-Germain-en-Laye bei Paris Österreich Frieden mit den Mächten der Entente schloss: mit Frankreich, Großbritannien, den USA, Italien und Japan.
    Wenige Wochen vorher hatte Deutschland in Versailles einen Friedensvertrag unterzeichnen müssen und sich über die "Schmach" und das "Diktat", wie es genannt wurde, empört. Die Österreicher, angeführt von ihrem sozialdemokratischen Staatskanzler Karl Renner, erwartete nun ein ganz ähnlicher Vertrag.
    Für die Verhandlungen reisten sie nach Paris, mussten aber warten, bis die Siegermächte in Versailles mit den Deutschen zu einem Abschluss gekommen waren, wie der Wiener Historiker Thomas Olechowski erzählt:
    "Man hat die österreichische Delegation elf Tage lang einfach allein gelassen. Man hat nicht verhandelt mit ihnen. Man hat ihnen einige Häuser zugewiesen in einem bestimmten Bezirk, der überwacht wurde von Polizisten, und dort sind sie herumgegangen und sind sich selber wie Gefangene vorgekommen. Und das hat natürlich noch viel mehr einfach dieses Bild erzeugt, dass es ein Diktatfrieden ist."
    Kampf um Territorium
    Der Vielvölkerstaat der Habsburger, bis dahin eine europäische Großmacht auf Augenhöhe mit dem Deutschen Reich, war schon fast ein Jahr vorher zerfallen, gleich zu Ende des Ersten Weltkriegs: Ungarn, Tschechen und Slowaken, Slowenen und Kroaten hatten ihre eigenen Staaten gegründet, Italiener, Rumänen, Polen sich ihren Nationalstaaten angeschlossen.
    "Der Rest ist Österreich", soll der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau in St-Germain gesagt haben, als die neue, fast rein deutschsprachige Republik ihre heutigen Grenzen bekam. Ein Satz, der noch heute viel zitiert wird, wenn in Österreich die vergangene Größe mit der heutigen Kleinheit verglichen wird.
    Thomas Olechowski: "Es gibt kein einziges wirkliches, quellenmäßiges Zitat dafür. Es gibt allerdings einen Ausspruch von Karl Renner - dass Renner gesagt hat, Clemenceau hätte gesagt: Österreich ist der Rest."
    Renner, der Kanzler, und seine Delegation kämpften in St-Germain um Territorium, und das nicht ohne Erfolg: So kam das Burgenland, das eigentlich zum ungarischen Teil des Reiches gehört hatte, zum neuen Österreich. Im Süden Kärntens votierte die Bevölkerung, obwohl mehrheitlich slowenisch-sprachig, in einer Volksabstimmung für Österreich.
    Abgeben musste der neue Staat - unter heftigem Protest - dagegen die deutschsprachigen Randgebiete Böhmens, später als Sudetenland bekannt, und das fast rein deutschsprachige Südtirol. Dass die Einwohner dort lieber zu Österreich gekommen wären, spielte, entgegen den Vorstellungen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, dabei keine Rolle.
    Olechowski: "Der Brenner ist einfach aus militärgeografischen Gründen unverzichtbar für Italien gewesen."
    Bei allem Verdruss über die schlechte Verhandlungsposition wurde der Friede von St-Germain aber nie zu einem solchen Trauma, wie es der Friede von Versailles für die Deutschen war. Zum einen war die Habsburger Monarchie bereits zerfallen, zum anderen blieben Österreich die Reparationen, unter denen Deutschland stöhnte, erspart. Zwar sollte auch Österreich zahlen, aber wegen seiner desolaten Wirtschaft wurden dem Land die Milliardenbeträge zunächst auf zwanzig Jahre gestundet - bis 1941.
    Olechowski: "Noch davor, 1929, wurden die Reparationen völlig erlassen, denn man hat gesehen: Da gibt es nichts zu holen."
    Anschlussverbot für Österreich nachträglich als Segen
    Die wirtschaftliche Schwäche war auch der Grund für die meisten Österreicher, Kanzler Renner eingeschlossen, nach dem verlorenen Krieg und den verlorenen slawischen und ungarischen Gebieten, nun den Anschluss an Deutschland zu suchen. Den aber verboten die Siegermächte ausdrücklich - und auch Berlin hatte es, anders als zwanzig Jahre später unter Hitler, mit dem Anschluss nicht eilig.
    In erster Linie war es darauf erpicht, das eigene Territorium gegen die Gebietsansprüche der Nachbarn zusammenzuhalten.
    Olechowski: "Die Deutschen haben viel reservierter auf den österreichischen Anschlusswunsch reagiert, weil sie von vornherein gesehen haben die Problematik: Wenn sie Österreich gewinnen, verlieren sie auf anderen Stellen noch viel mehr."
    Ein Vierteljahrhundert später, am Ende des Zweiten Weltkriegs, erwies sich das Anschlussverbot für Österreich nachträglich als Segen: Die Alliierten gaben dem Land seine Selbständigkeit zurück. Eine Teilung, wie Deutschland sie widerfuhr, blieb Österreich erspart - ein Grund mehr, mit Milde auf den Frieden von St-Germain zurückzublicken, der das Land in die unerwünschte Selbständigkeit gezwungen hatte.