Langenbroich in der Eifel, das Haus von Heinrich Böll. Erste Station im langen Exil des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn. Im Februar 1974 wurde er in Moskau verhaftet und wegen "Landesverrats" zwangsweise in die Bundesrepublik ausgeflogen.
"Sie verstehen, ich bin sehr müde, und ich bin besorgt wegen meiner Familie. Ich muss telefonieren nach Moskau. Noch heute am Morgen ich war im Gefängnis."
Ein halbes Jahr zuvor war Solschenizyns Vertraute Jelisaweta Woronjanskaja verhaftet worden. Als sie entlassen wurde, beging sie Selbstmord. Nach einem mehrtägigen KGB-Verhör hatte sie gestanden, wo das Manuskript von Solschenizyns unveröffentlichtem Hauptwerk "Der Archipel Gulag" versteckt war.
"Nun, da das Manuskript in die Hände des Staatssicherheitsdienstes gefallen ist, bleibt mir keine andere Wahl, als es unverzüglich zu veröffentlichen."
Haft wegen abfälliger Bemerkungen über Stalin
In Paris, wo sich ein weiteres, außer Landes geschmuggeltes Exemplar befand, erschien der erste Teil Ende 1973 auf Russisch. Weltweit folgten Übersetzungen. "Archipel" stand als Metapher für das Inselreich stalinistischer Straflager, "Gulag" war das Kürzel für "glawnoje upravlenie lagerej", "Hauptverwaltung der Lager", ein Schreckenswort für gravierende Menschenrechtsverletzungen, Terror und Verfolgung. "Versuch einer künstlerischen Bewältigung" nannte Solschenizyn seine Monumentalgeschichte der Stalinzeit, in der er das kaum vorstellbare Ausmaß an Verhaftungen, Deportationen und die Ausrottung von Millionen Sowjetbürgern schilderte.
"In diesem Buch gibt es weder erfundene Personen noch erfundene Ereignisse."
Alexander Issajewitsch Solschenizyn wurde am 11. Dezember 1918 in Kislowodsk im Nordkaukasus geboren. Er studierte Physik und Mathematik, Philosophie und Literatur. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde er 1941 zur Roten Armee eingezogen. Nachdem der sowjetische Abschirmdienst "Smersch" einige Feldpostbriefe abgefangen hatte, in denen sich Solschenizyn abfällig über Stalin äußerte, wurde er im Februar 1945 festgenommen und zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt.
"Zusätzliches Material für die ‚Anklage’ lieferten Entwürfe für Erzählungen und Überlegungen, die man in meiner Kartentasche fand."
Ein eigensinniger Moralist und Mahner
Nach seiner Entlassung 1953 musste er noch drei Jahre in der Verbannung in Kasachstan verbringen. In dieser Zeit wurde er wegen eines schweren Krebsleidens behandelt. "Krebsstation" hieß der Roman, den er über seine Krankheit schrieb, auch dies später ein Welterfolg.
Als 1962 seine Erzählung "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" über den Alltag eines Lagerhäftlings in der liberalen Literaturzeitschrift Novyj Mir (Neue Welt) erschien, löste das eine Sensation in der Sowjetunion aus. Parteichef Nikita Chruschtschow hatte die Veröffentlichung ausdrücklich gebilligt. Andere Werke blieben verboten.
1970 wurde Solschenizyn mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Der Preisverleihung in Stockholm blieb er fern, da er befürchtete, nicht wieder in seine Heimat zurückkehren zu dürfen. Die Nobelpreisrede, eine glühende Abrechnung mit dem Sowjetsystem, hielt er erst nach seiner Ausbürgerung.
"Seit jenem Jahr, da ich nicht hierher fahren konnte, lernte ich, fast alles, was ich denke, offen in meinem Land zu sagen ..."
Im US-Staat Vermont, wohin der tief religiöse Schriftsteller nach zwei Jahren Aufenthalts in der Schweiz mit seiner Familie zog, in ein stilles, waldreiches, abgesperrtes Domizil, arbeitete er an einer mehrbändigen Geschichte der russischen Revolution. Nach seiner Rehabilitierung kehrte er 1994 nach Russland zurück.
Zeitlebens blieb er unbequem und kritisierte Ost und West. Er war ebenso gegen Gorbatschow und die Perestrojka wie gegen den Einsatz der NATO in Jugoslawien. Seine Rolle eines eigensinnigen Moralisten und Mahners war deshalb bis zu seinem Tod 2008 nicht unumstritten. Doch Solschenizyns Lebensleistung, die Aufklärung stalinistischer Verbrechen, verdient nach wie vor höchsten Respekt.