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Vor 100 Jahren gestorben
Egon Schiele: Maler des Uneindeutigen

Mit nur 28 Jahren starb Egon Schiele im Jahr 1918 an der Spanischen Grippe - mit seinen Aktbildern provoziert er bis heute. Dabei wollte er eigentlich nur die Klischees der alten Geschlechterordnung ausblenden und die verborgenen Dimensionen des Individuums erforschen.

Von Carmela Thiele | 31.10.2018
    "Die Umarmung" von Egon Schiele (1890-1918) von 1917 aus der "Galerie du Belvedere" in Wien.
    "Die Umarmung" von Egon Schiele von 1917 (imago)
    Sein Blick ist finster und stechend. Der 22-jährige Egon Schiele porträtierte sich in seinem ersten monumentalen Gemälde "Die Eremiten" lebensgroß in einer schwarzen, unförmigen Kutte. Hinter seiner linken Schulter ragt ein zweiter Kopf hervor, bärtig, zur Seite gelegt, mit geschlossenen Augen und bekränzt mit roten Blüten. Die ineinander verschmolzenen Figuren krümmen sich in einem Nirgendwo, vor einer hellen Wand, durch die etwas Landschaftliches schimmert. Lange meinte man in der zweiten Figur Gustav Klimt zu erkennen, die zentrale Gestalt der Wiener Kunstszene nach der Jahrhundertwende und Schieles Vorbild. Verena Gamper, Leiterin des Egon Schiele Dokumentationszentrums in Wien:
    "Ich glaube, dass es sehr hilfreich ist, diese Interpretation, die so auf Gustav Klimt zugeschnitten war im Falle der Eremiten, ein bisschen zu revidieren und andere Interpretationen zuzulassen. Es gibt ja auch Interpretationen, die in der Figur hinter Egon Schiele Franz von Assisi erkennen zum Beispiel. Ich glaube, dass es genau darum geht, dass Schiele Werke gemalt hat, die in sehr hohem Maße von Ambivalenz geprägt sind. Er spricht es ja selbst auch an in seinem Brief an Karl Reininghaus. Darin spricht er von der Unbestimmtheit der Gestalten.
    "Wie die Blumen hier gemalt sind, ist mir ganz recht, (…) sonst würde der poetische Gedanke und die Vision verloren sein, ebenso wie die Unbestimmtheit der Gestalten, (…) die Körper von Überdrüssigen, Selbstmördern, aber auch Körper von Empfindungsmenschen. Sehe die beiden Gestalten gleich einer dieser Erde ähnlichen Staubwolke, die sich aufbauen will und kraftlos zusammenbrechen muss.
    In jeder freien Minute gezeichnet und gemalt
    Er habe das Bild nicht von heute auf morgen malen können, schrieb Egon Schiele weiter, vielmehr sei es das Ergebnis mehrerer Jahre, vom Tode seines Vaters an. Zu jener Zeit hatte sich der 1890 in Tulln geborene Egon Schiele noch mit Latein und Mathematik abquälen müssen, aber bereits in jeder freien Minute gezeichnet und gemalt. Anfangs waren der Bahnhof seiner Heimatstadt und die Züge seine Lieblingsmotive, denn sein Vater war Stationsvorstand der K.U.K. Staatsbahnen Tulln.
    "Der Verlust des Vaters, als Schiele 14 Jahre alt war, ist sicher etwas, was ihn sehr geprägt hat. Sein Vater ist an Syphilis gestorben, also an den Folgen einer Syphilis-Infektion, die er in die Ehe miteinbrachte. Der Tod des Vaters war auch kein schneller Tod, also er ist am letzten Tag des Jahres 1904 verstorben, und bereits 1902 musste er seinen Dienst quittieren, weil er nicht mehr arbeitsfähig war."
    Im Alter von 17 Jahren konnte Egon Schiele bei der Mutter und seinem Vormund den Wechsel an die Kunstakademie in Wien durchsetzen. Er profitierte vom Unterricht in Farbenlehre, auch vom Anatomieunterricht, verließ jedoch die Lehranstalt vorzeitig. Er gründete die Gruppe der "Neukünstler", stellte in der Galerie Pisko aus und beindruckte den Kunstschriftsteller Arthur Roessler, der zum Promotor seines Werks wurde. In seiner kurzen Schaffenszeit erregte Egon Schiele vor allem mit seinen erotischen Akten öffentliche Aufmerksamkeit, in denen er sich selbst - wie auch seine weiblichen Modelle - meist mit schmalen Gliedmaßen und einer vielfarbig schimmernden Haut androgyn darstellte.
    Tod mit nur 28 Jahren
    "Hermann Bahr hat 1903 publiziert seinen Text "Das unrettbare Ich", wo er sich wiederum auf Ernst Mach beruft und dessen Theorien einer Vielheit des Subjekts, quasi einer Abschreibung dieser Idee, dass ein Subjekt eine abgeschlossene Form und eine abgeschlossene Wesenheit sein müsse, und demgegenüber die Idee entwirft, dass ein Individuum eigentlich ein Dividuum ist, um den Begriff von Nietzsche zu verwenden, eigentlich ein Teilbares."
    Der Maler des Uneindeutigen traf mit seiner Kunst den Nerv der Zeit. In seinen Bildern "Tod und Mädchen" oder "Die Familie" verhandelte er alte Themen in neuer Form. Er porträtierte seine Freunde und Sammler in seinem unnachahmlichen Stil, und seine jüngere Schwester Gerti stand ihm sogar für Aktzeichnungen Modell. Schiele stellte in der Münchener Secession aus, im Folkwang Museum in Hagen und im Kunsthaus Zürich. 1915 wurde er eingezogen, versah seinen Dienst jedoch fern der Fronten des Ersten Weltkriegs in und bei Wien. Nicht gefeit waren er und seine schwangere Frau Edith jedoch vor der Spanischen Grippe. Am 31. Oktober 1918 erlag Egon Schiele der Pandemie, er wurde nur 28 Jahre alt.