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Vor 100 Jahren
Türkischer Schriftsteller Aziz Nesin geboren

In Deutschland heißen Schulen häufig nach bedeutenden Pädagogen. In Berlin-Kreuzberg gibt es eine Schule, die nach dem türkischen Schriftsteller Aziz Nesin benannt ist. Er setzte sich zeitlebens für die Bildung und Erziehung von Kindern ein. Am 20. Dezember 1915 wurde Aziz Nesin geboren.

Von Tobias Mayer | 20.12.2015
    Der türkische Schriftsteller und Menschenrechtler Aziz Nesin ist in der Nacht zum 6. Juli im westtürkischen Badeort Cesme bei Izmir gestorben. Nach offiziellen Angaben erlag der 80jährige Verfasser von weit über 100 satirischen und gesellschaftskritischen Büchern und Theaterstücken einem Herzinfarkt.
    Der türkische Schriftsteller und Menschenrechtler Aziz Nesin. (picture alliance / dpa / A. Altwein)
    "Wir lachen, um unser Elend, unsere Schmerzen, Sorgen und Tränen zu verbergen, wir lachen, um uns gegen die harten Lebensbedingungen, gegen die Unmenschlichkeit zu wehren, wir lachen, um neue Lebenskraft zu schöpfen."
    Aziz Nesin war der wohl produktivste und populärste türkische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Roman-Autor, Satiriker und Poet – das redende und schreibende Gewissen der türkischen Gesellschaft.
    "Von allen Ländern der Welt gibt es in der Türkei die meisten Verbote, und sie ist gleichzeitig das Land, wo diese am häufigsten missachtet werden. Je mehr Verbote es gibt, um so öfter werden sie übertreten."
    Aziz Nesin wurde am 20. Dezember 1915 auf einer der Prinzeninseln vor Istanbul geboren. Der Vater schickte ihn auf die Militärakademie, er wurde Offizier. Nach seiner Entlassung 1944 begann er, zu schreiben. Hauptthema in Aziz Nesins Romanen und Satiren wie "Surname" oder "Ein Verrückter auf dem Dach" ist die Entmündigung des Menschen im türkischen vom Militär dominierten Staat, in dem das Individuum beständig Opfer von Willkür und Bürokratismus ist. Als Autor und Herausgeber diverser Zeitungen und Zeitschriften wurde er mit Zensur und Verboten schikaniert. Er musste 200 politische Prozesse über sich ergehen lassen, mehrfach saß er für Monate im Gefängnis.
    "In der ganzen Welt gibt es nur wenige Autoren, die so viele Feinde haben wie ich. Gegen diese Feinde unterstützten mich stets meine Leser. Sie zeigten sich solidarisch mit mir, gegen die Polizei, gegen die Regierungen, gegen die politische Unterdrückung und gegen Klatsch und Tratsch."
    "Demokratie ist die Gegenwelt zur Uniform"
    1972 gründete Aziz Nesin in Çatalca, eine Autostunde westlich von Istanbul, in einem großen Anwesen mit Garten das "Kinderparadies". 45 Jungen und Mädchen leben hier heute, darunter viele Waisen, bis zum Abschluss der Berufsausbildung werden sie hier erzogen und unterrichtet. Die pädagogischen Prinzipien formulierte Aziz Nesin selbst.
    "Ich will, dass die Kinder meiner Stiftung mit kritischen Augen durch die Welt gehen – gegenüber Menschen, Traditionen, Tabus, Meinungen. Ich möchte, dass meine Kinder schöpferisch, produktiv tätig sind."
    Türkische Eltern in Berlin dachten Ende der 90er Jahre an diese Sätze von Aziz Nesin. Auf ihre Initiative wurde erstmals eine Grundschule in Deutschland nach einem türkischen Oppositionellen benannt.
    "Kinder sind unsere Zukunft. Die Bildung ist unsere Zukunft. Das waren so die Beweggründe. Mit dem Namen Aziz-Nesin-Grundschule verbinden wir in erster Linie den Aspekt der Demokratieerziehung."
    Demet Siemund ist die Leiterin der Aziz-Nesin-Schule in Kreuzberg. "Demokratie ist die Gegenwelt zur Uniform", hat Nesin einmal gesagt.
    "Ich merke immer wieder, dass wenn Eltern zur Anmeldung kommen, sagen: Ich identifiziere mich mit Aziz Nesin, ich habe ganz viel über Aziz Nesin gelesen. Ich denke, dass er durch die Literatur und durch die vielen Gedichte und auch die kleineren Geschichten, die entstanden sind, sehr, sehr viel auf die Gesellschaft einwirken wollte, was die Demokratie angeht."
    In seinen letzten Lebensjahren kritisierte er die schleichende Islamisierung der Gesellschaft
    In dem Gedicht "Der letzte Wunsch" skizzierte Aziz Nesin seine gesellschaftliche Utopie. Er verarbeitete damit seine Erlebnisse mit dem militaristischen, autoritären Staat.
    "Wenn ich unter einem Weg begraben werde
    Dann sollen da oben Hochzeitskutschen fahren
    Nicht Panzer
    Wenn ihr Lehmziegel aus mir macht
    Dann nutzt mich für Schulen
    Nicht für Gefängnisse
    Wenn etwas Atem von mir übrig bleibt
    Pfeift damit ein Lied
    Aber nicht mit der Trillerpfeife"
    In seinen letzten Lebensjahren kritisierte Aziz Nesin – wann immer er die Gelegenheit hatte – die schleichende Islamisierung der türkischen Gesellschaft. Im Aufkommen des religiösen Fundamentalismus sah er, der Atheist, eine große Gefahr für die laizistische Ordnung. Als Nesin 1993 in Sivas Gast eines alevitischen Kulturfestivals war, warfen aufgehetzte Islamisten Brandsätze auf das Hotel. 37 Menschen starben im Feuer, darunter einige bekannte Musiker und Literaten. Der Anschlag galt auch Aziz Nesin, er überlebte leicht verletzt.
    "Über mir sollen die Kinder spielen und Blumen wachsen."
    Aziz Nesin starb 1995 an einem Herzinfarkt. Er wurde im Garten seiner Stiftung begraben, an unbekannter Stelle, so war es sein Wunsch.